Wenn man betrachtet, was sich als Konstante als essentiell im westlichen Denken herauskristallisiert, dann ist es das Argumentieren, Zweifeln und Werden. Hieraus besteht wohl die DNA des europäischen Fortschrittes.
Nichts bleibt unhinterfragt. Bereits in der Blütezeit griechischer Philosophie entstand das Prinzip der Dialektik: These – Antithese – Synthese. In der nächsten argumentativen Runde wird nach der Synthese wieder weiterdebattiert. Dies ist ein Spiel ohne Ende. Ähnlich einem Bodybuilder, der ständig seine Physiognomie optimiert, gibt es Protagonisten und Antagonisten, nicht nur in der Muskulatur. Wer debattiert, der gewinnt an Erkenntnis, selbst wenn er in der Debatte unterliegt. Der Streit ist das Ziel.
Auch in der Art, wie erzählt wird, nämlich im Modus der Heldenreise, machen die Widrigkeiten den Protagonisten stärker. Der Verlauf einer Erzählung folgt also auch dieser kulturphilosophischen Trias: Problem – Bekämpfung desselben – Lösung, neues Problem und so weiter.
Analog funktioniert übrigens auch die Wirtschaft. Angebot, Nachfrage und Preisänderung erzählen deren unendliche Geschichte. Friedrich August von Hayek, der die Spontaneität der Marktordnung herausgestrichen hatte, sah hierin einen schrittweise sich von Runde zu Runde neu ordnenden Mechanismus, der Informationen verarbeitet, Probleme löst.
Aufgrund der funktionellen Gleichheit von Dialektik und Marktwirtschaft sollte von Marktdialektik die Rede sein. Allein Semantik und Semiotik hatten die Funktionsgleichheit der Konzepte bisher unkenntlich gemacht.
Nicht nur am Beispiel der zum Standard gewordenen Narrationsmethode Heldenreise sei auf die elegante Methodik der Dialektik verwiesen: der sich windende Weg und das Wechselspiel von Protagonist und Antagonist verleiten zum Hinsehen. Die Odyssey als Urtyp der Heldenreise.
Um die Ästhetizität der Dialektik beispielhaft nachzuvollziehen, kann man auf den Lyriker Durs Grünbein verweisen. Er sah in einer parlamentarischen Rede des jetzigen Landwirtschaftsministers Cem Özdemir zur Causa Deniz Yücel im Jahr 2018 Parallelen von AfD-Anhängern hüben und Erdogan-Begeisterten drüben. Sie seien aus demselben morschen, weil autoritären Holz geschnitzt. In den Augen Grünbeins eine besondere dialektische Pointe. Beide Milieus verabscheuen den Freigeist Yücel nämlich.
Dialektik verdeutlicht insofern die sich unerwartet drehenden Winde auf den Passagen der Diskursmeere.
Intuitiv wäre die Dichotomie zwischen Rechtspopulisten in Europa und deren Gegner, einem muslimischen Autokraten, kaum größer denkbar. Aber in der Begründung, warum man in Deniz Yücel einen Störenfried sieht, wird die Parallelität zwischen den beiden nur scheinbar verfeindeten Lagern klar und dialektisch aufgelöst. Unter dem Vorwand, Freiheit und Europa verteidigen zu wollen, bedienen sich die Rechtspopulisten autoritärer Methoden, die sie ununterscheidbar von denen machen, die sie vorgeblich bekämpfen wollen.
Was bedeutet dies nun bezogen auf die Dialektik des Marktes an dieser Stelle? Es gibt Zweit- und Drittrundeneffekte – Konsequenzen also, auf die Entscheidungsträger während der Entscheidungsfindung nicht kommen können, gerade weil die Zukunft offen ist, aber ebenso Veränderungen, die sie selbst durchmachen, ohne es selbst zu merken. Man kann sich dies wie Kreise vorstellen, die sich im Zeitverlauf aus Aktionen entwickeln, die ein Eigenleben entwickeln, interferieren, ohne dass der Akteur es noch in der Hand hat. Aber anders als in der Metapher eines in den Fluss geworfenen Steines, der regelmäßige Ringe zieht, die mit der Entfernung abebben, sieht es im Falle von marktwirtschaftlichen Zweit- und Drittrundeneffekten anders aus. Es entstehen nicht antizipierte, gegenläufige Folgen.
Scheinbar eindeutige Sachverhalte erweisen sich als fatal. Ein Beispiel: erinnert sei an die Argumentationskette, wonach man auch unilateral, ohne andere Länder den Preis für CO2 weiterhin ansteigen lassen will. Die marktdialektische Riposte von Investoren in Deutschland wird in einer ersten Runde sein, dass Firmen das Thema Dekarbonisierung zwar marketingwirksam herausstreichen, aber in einer zweiten, zeitlich späteren Runde unauffällig Standorte abchecken werden, in denen günstige Energie ohne CO2 Bepreisung gegeben ist.
In einer dritten Runde wird dies dazu führen, dass diese Betriebe dort dann mehr Kohlenstoffdioxid emittieren werden und dem Klima mithin stärker schaden. Ferner entzieht dies dem deutschen Staat durch die Verlagerung ins Ausland eben jene Steuereinnahmen, die eine Dekarbonisierung erst ermöglicht hätte.
Mit der Ankündigung, etwas in die Wege zu leiten und es gerade hierdurch zu verhindern oder – entgegengesetzt – etwas auszulösen, das man verhindern will wie in Terry Gilliams Film 12 Monkeys – genau das ist insofern eine marktdialektische Pointe.
Erinnert sei ferner beispielhaft an die Berliner Wohnungsmarktpolitik, die seit Jahren allein mit den Vokabeln Mietpreisbremse und Enteignung erfolgreich verhindert hat, dass Wohnraum entstehen konnte, weil die Investoren eben rationale Erwartungen hegen. Wie in der Gegenwart Gesagtes auf künftige Verhaltensweisen der Marktteilnehmer wirkt, erforschte der kürzlich verstorbene Ökonomie-Nobelpreisträger Robert Lucas. Ankündigungen bedingen Ausweichverhalten. Das ist Markt, das ist Dialektik.
Markt und kulturphilosophische Dialektik stellen Rückkopplungsprozesse dar. Hayeks spontane Ordnung und Habermas Strukturwandel der Öffentlichkeit waren insofern Analogien zueinander. Wenn jeder gleichberechtigten Zugang zu den Meinungskanälen erhält, wird das im Ergebnis positive Ergebnisse zeitigen. Habermas als Frankfurter Schüler und unbeabsichtigt Marktwirtschafslehrer. Wieder so eine Pointe.
Ferner: nicht zufällig fallen gerade heute das vielzitierte Einengen der Meinungskorridore und die Einschränkung der Marktwirtschaft zeitlich zusammen. Meinungsfreiheit als Habermas-Ideal, Markt als Spielplatz von Hayeks.
Die gegenwärtigen Linken sind allein schon deshalb schlechte Dialektiker, weil sie gemäß eigenem Bekunden vom Ende her denken können. Dies bedeutet zumindest implizit Kenntnis über die Zukunft.
Harald Welzer, Claus Leggewie und die taz kultivieren mit ihrem Begriffsverständnis von Futur 2 nebst Institut und Zeitungsbeilage den Gestus der kundigen Lotsen. Wir werden getan haben. Ihr werdet verboten haben. Sie werden gelernt haben. Das meint Futur 2. Ein Rückblick auf die Gegenwart aus der Zukunft bleibt ignorante Anmaßung und Behauptung, welche die Tatsache übersieht, dass es verschiedene Pfade gibt, die präzise zu benennen in Anbetracht dialektischer Verwicklungen unmöglich bleibt. Es gibt weder die eine Zukunft noch privilegiertes Wissen über sie.
Der ehemalige Kanzler Heinrich Brüning, ein Vorgänger Olaf Scholz, bezeichnete Politik als ewiges Schachspiel, wobei ein Regierungs-Chef eine Konstellation zu übernehmen habe, die er vom Amtsvorgänger übernehmen müsse. Gekauft wie gesehen.
Auf die neuere Geschichte gemünzt zwangen die Notwendigkeiten einen sozialdemokratischen Kanzler zur marktradikalen Wende, die sein konservativ-liberaler Amtsvorgänger verschleppt und ausgesessen hatte. In der Folge beschloss eine christdemokratische Kanzlerin den grünen Traum vom Atomausstieg, während heute nun ein grüner Klimaminister in die Kohleverstromung einsteigt.
Insofern beinhaltet die Dialektik des Marktes neben der kulturphilosophischen und der ökonomischen auch die politische Sphäre.
Für den alle vier Jahre stattfindenden politischen Markt, genannt Wahltag, gilt zweierlei: ein einmal gesagtes Wort hole ich nicht mehr politisch beim Wähler ein. Außerdem: ein beim Wähler nicht verfangendes Thema kann, wenn man es im nächsten Wahlkampf nochmals in die Auslage legt, die eigene Karriere kosten. Wahlniederlagen sind Zweitrundeneffekte: ein Ausweis über die Allgültigkeit von Dialektik auf dem Markt der demokratischen Politik.
Neben der Unmöglichkeit vom Ende zu denken oder in der Futur 2- Perspektive zu beraten sei noch auf die damit verbundene Vorstellung eines Wirtschaftsraumes verwiesen, der nach der Logik eines Nullsummenspiels funktioniert. Der Gewinn des einen Akteurs verursacht dem anderen einen Verlust. Diese Argumentationsstränge funktionieren nach der Logik eines geschlossenen Systems, in dem es weder Ablauf noch Zufuhr zu geben scheint. All dies ist falsch, weil es die dialektische Verwicklung ignoriert.
Dabei gilt Dialektik doch gerade als Domäne linker Intellektueller. Volker Pispers trat lange Zeit als Kabarettist auf und erlangte Bekanntheit während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders als dessen Kritiker. Nachdem wirtschaftsliberale Kräfte Steuersenkungen empfohlen hatten, um wiederum die fiskalischen Einnahmen zu erhöhen, sah Pispers in seinem Bühnenprogramm nicht die dialektische Pointe des bewährten Vorgehens, um aus einer ökonomischen Krise herauszufinden, sondern zweifelte mit rüden Worten an der Intelligenz der Berater und verdammte diese Vorschläge, zog sie ins Lächerliche und behielt im Nachgang Unrecht.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Markt als Raum der Dialektik übersehen worden war, da er seinerseits Gegenstand wirtschaftsliberaler Akteure geworden und Dialektik ihrerseits Spielwiese linker Hegel-Epigonen geblieben ist. Zwei Milieus, die sich mit Argwohn und ostentativem Desinteresse begegnen. Dabei sind sie beide Kinder des Westens, denken in der gleichen Logik, nutzen aber unterschiedliche Semantiken und Semiotik. Wieder eine solche Pointe.