Was mich jetzt zum Schreiben drängt
Lieber hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Es ist nicht angenehm, der Kirche, die meine geblieben ist, eine solch kritische Veröffentlichung widmen zu müssen. Ich meine die katholische Kirche, die größte, mächtigste, internationalste, in etwa auch älteste Kirche, deren Geschichte und Geschick aber auch alle anderen Kirchen beeinflusst.
Lieber hätte ich freilich meine Zeit anderen dringenden Fragen und Projekten gewidmet, die auf meiner Agenda stehen. Aber der Restaurationskurs der letzten drei Jahrzehnte unter den Päpsten Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger mit seinen fatalen und für die gesamte christliche Ökumene zunehmend dramatischen Auswirkungen drängt mir erneut die mir keineswegs angenehme Rolle des Papstkritikers und Kirchenreformers auf, eine Rolle, die oft die mir wichtigeren Aspekte meines theologischen Œuvre verdeckt.
Die große Kirchenkrise
In der gegenwärtigen Situation kann ich es nicht verantworten zu schweigen: Seit Jahrzehnten habe ich auf die große Krise der katholischen Kirche, faktisch eine Kirchenleitungskrise, die sich da entwickelte, aufmerksam gemacht – mit wechselndem und in der katholischen Hierarchie mäßigem Erfolg. Erst mit der Enthüllung der zahllosen Missbrauchsfälle im katholischen Klerus, die über Jahrzehnte hin von Rom und den Bischöfen weltweit vertuscht worden waren, ist diese Krise als Systemkrise für die ganze Welt sichtbar geworden und erfordert eine fundierte theologische Antwort. Alle noch so groß inszenierten Papstmanifestationen und Papstreisen (je nachdem als »Pilgerreise« oder »Staatsbesuch« inszeniert), alle die Rundschreiben und Kommunikationsoffensiven können über die anhaltende Krise nicht hinwegtäuschen. Diese äußert sich in Hunderttausenden von Kirchenaustritten allein in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten drei Jahre und in einer zunehmenden Ferne der Bevölkerung zur kirchlichen Institution überhaupt.
Nochmals: Ich hätte dieses Buch lieber nicht geschrieben. Nicht geschrieben hätte ich dieses Buch:
1.wenn sich die Hoffnung erfüllt hätte, Papst Benedikt würde unserer Kirche und der gesamten Christenheit im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils einen Weg nach vorne weisen. Diese Hoffnung war in mir gekeimt in der vierstündigen freundschaftlichen persönlichen Unterredung mit meinem früheren Tübinger Kollegen in Castel Gandolfo 2005. Aber: Benedikt ging den zusammen mit seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg der Restauration stur weiter, distanzierte sich in wichtigen Punkten vom Konzil und von großen Teilen des Kirchenvolkes und versagte angesichts des weltweiten Sexualmissbrauchs von Klerikern;
2.wenn die Bischöfe die ihnen vom Konzil zugesprochene kollegiale Verantwortung für die Gesamtkirche wirklich wahrgenommen und sich in Wort und Tat dazu geäußert hätten. Aber: unter der Herrschaft Wojtyla/Ratzinger wurden die meisten wieder linientreue Befehlsempfänger des Vatikans, ohne eigenes Profil und Verantwortung zu zeigen: auch ihre Antworten auf die neuesten kirchlichen Entwicklungen waren zögerlich und wenig überzeugend;
3.wenn die Theologenschaft sich wie früher kraftvoll, gemeinsam und öffentlich zur Wehr gesetzt hätte gegen neue Repression und den römischen Einfluss auf die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses in Fakultäten und Semina- rien. Aber: die meisten katholischen Theologen haben begründete Angst, tabuisierte Themen in Dogmatik und Moral unvoreingenommen kritisch zu behandeln und deshalb zensuriert und marginalisiert zu werden. Nur wenige wagen die weltweite reformerische »Kirchen VolksBewegung« zu unterstützen. Und von evangelischen Theologen und Kirchenführern erhalten sie auch nicht genug Unterstützung, da viele von ihnen Reformfragen als binnenkatholische Probleme abtun und manche in der Praxis die guten Beziehungen zu Rom der Freiheit eines Christenmenschen bisweilen vorziehen. Wie in anderen öffentlichen Diskussionen spielte die Theologie selbst in den jüngsten Auseinandersetzungen um die katholische und die anderen Kirchen eine geringe Rolle und verpasste die Chance, die notwendigen Reformen entschieden einzufordern.
Woran die Kirche leidet
Von den verschiedensten Seiten wurde ich immer wieder mündlich und schriftlich gebeten und ermuntert, klar Stellung zu beziehen zu Gegenwart und Zukunft der katholischen Kirche. So habe ich mich schließlich entschlossen, statt einzelner Kolumnen und Artikel eine kompakte zusammenfassende Schrift zu verfassen, die darlegt und begründet, was sich als meine überprüfte Einsicht in den Kern der Krise herausstellt: Die katholische Kirche, diese große Glaubensgemeinschaft, ist ernsthaft krank, sie leidet unter dem römischen Herrschaftssystem, das sich im Lauf des zweiten Jahrtausends gegen alle Widerstände etabliert und bis heute durchgehalten hat. Es ist, wie zu zeigen sein wird, charakterisiert durch ein Macht- und Wahrheitsmonopol, durch Juridismus und Klerikalismus, Sexual- und Frauenfeindschaft sowie geistlich-ungeistliche Gewaltanwendung. Dieses System trägt zwar nicht die alleinige, aber doch die Hauptverantwortung an den drei großen Spaltungen der Christenheit: die erste zwischen West- und Ostkirche im 11. Jahrhundert, die zweite in der Westkirche zwischen katholischer und protestantischer Kirche im 16. Jahrhundert und schließlich im 18./19. Jahrhundert die dritte Spaltung zwischen römischem Katholizismus und aufgeklärter moderner Welt.
Doch sei sofort angemerkt: Ich bin ökumenischer Theologe und keineswegs papstfixiert. In »Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1994) habe ich auf gut tausend Seiten die verschiedenen Perioden, Paradigmen und Konfessionen in der Geschichte des Christentums analysiert und dargestellt, und da lässt sich nun einmal nicht bestreiten, dass das Papsttum das zentrale Element des römisch-katholischen Paradigmas ist. Ein Petrusamt, wie es sich aus den Ursprüngen entwickelte, war und bleibt für viele Christen eine sinnvolle Institution. Aber seit dem 11. Jahrhundert wurde daraus immer mehr ein monarchisch-absolutistisches Papsttum, das die Geschichte der katholischen Kirche beherrschte und zu den genannten Spaltungen der Ökumene führte. Die trotz aller politischen Rückschläge und kulturellen Niederlagen ständig zunehmende innerkirchliche Macht des Papsttums stellt das entscheidende Merkmal der Geschichte der katholischen Kirche dar. Die neuralgischen Punkte der katholischen Kirche sind seither nicht so sehr die Probleme der Liturgie, der Theologie, der Volksfrömmigkeit, des Ordenslebens oder der Kunst, sondern es sind die in der traditionellen katholischen Kirchengeschichte zu wenig kritisch herausgearbeiteten Probleme der Kirchenverfassung. Gerade diese werde ich hier, auch wegen ihrer ökumenischen Sprengkraft, mit besonderer Sorgfalt behandeln müssen.
Joseph Ratzinger, der jetzige Papst, und ich waren die beiden jüngsten offiziellen Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65), das versuchte, dieses römische System in wesentlichen Punkten zu korrigieren. Dies aber gelang wegen des Widerstands der römischen Kurie leider nur teilweise. In der nachkonziliaren Zeit machte Rom die Erneuerung dann auch mehr und mehr rückgängig, was in den letzten Jahren zum offenen Ausbruch der schon längst wuchernden bedrohlichen Erkrankung der katholischen Kirche führte.
Die Skandale um Sexualmissbrauch im katholischen Klerus sind nur das jüngste Symptom. Sie haben einen solchen Umfang angenommen, dass in jeder anderen großen Organisation eine intensive Erforschung der Gründe für eine derartige Tragödie eingesetzt hätte. Nicht so in der römischen Kurie und im katholischen Episkopat. Zuerst gestanden sie ihre eigene Mitverantwortung für die systematische Vertuschung dieser Fälle nicht ein. Dann zeigten sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch kein großes Interesse daran, die tieferen historischen und systemischen Gründe für eine derartig verheerende Fehlentwicklung herauszufinden.
Die bedauerliche Uneinsichtigkeit und Reformunwillig- keit der gegenwärtigen Kirchenleitung zwingt mich dazu, die historische Wahrheit von den christlichen Ursprüngen her gegen all die gängigen Vergesslichkeiten, Verschleierungen und Vertuschungen offen darzustellen. Dies wird gerade für historisch wenig informierte und traditionelle katholische Leser und vielleicht auch Bischöfe desillusionierend wirken. Wer sich bisher noch nie ernsthaft mit den Tatsachen der Geschichte konfrontiert sah, wird bestimmt manchmal darüber erschrecken, wie es da allenthalben zuging, wie viel an den kirchlichen Institutionen und Konstitutionen – und an der zentralen römisch-katholischen Institution des Papsttums ganz besonders – »menschlich, allzu menschlich« ist. Gerade dies bedeutet jedoch positiv: diese Institutionen und Konstitutionen – auch und gerade das Papsttum – sind veränderbar, grundlegend reformierbar. Das Papsttum soll also nicht abgeschafft, sondern im Sinn eines biblisch orientierten Petrusdienstes erneuert werden. Abgeschafft werden aber soll das mittelalterliche römische Herrschaftssystem. Meine kritische »Destruktion« steht deshalb im Dienst der »Konstruktion«, der Reform und Erneuerung, alles in der Hoffnung, dass die katholische Kirche im dritten Jahrtausend gegen allen Anschein doch lebensfähig bleibe.
Therapeut, nicht Richter
Manche Leser werden sich darüber wundern, dass in diesem Buch vorwiegend eine medizinische Metaphorik verwendet wird. Das hat seinen Grund darin, dass sich einem bezüglich Gesundheit und Krankheit sofort Ähnlichkeiten zwischen der sozialen Körperschaft Kirche und dem menschlichen Organismus aufdrängen. Dazu kommt, dass ich in der Sprache der Medizin besser als etwa in der juristischen Sprache zum Ausdruck bringen kann, dass ich mich in diesem kritischen Buch über den Stand der Kirche nicht als Richter verstehe, sondern – in einem umfassenden Sinn – als eine Art Therapeut.
Meine Fundamentalkritik am römischen System wiegt schwer, und ich muss sie selbstverständlich Punkt für Punkt begründen. Nach bestem Wissen und Gewissen werde ich mich deshalb in diesem Buch durchgängig um eine ehrliche Diagnose wie um wirksame Therapievorschläge bemühen. Oft eine bittere Medizin, zweifellos, aber eine solche braucht die Kirche, wenn sie überhaupt wieder genesen soll. Dies ist eine spannende, aber, wie meistens bei Krankheiten, keine vergnügliche Geschichte. Nicht aus Rechthaberei oder gar Streitsucht also formuliere ich so deutlich, sondern um der Gewissenspflicht zu genügen, meiner Kirchengemeinschaft, der ich ein Leben lang zu dienen versuchte, diesen – vielleicht letzten? – Dienst zu leisten.
Von Rom aus wird man erfahrungsgemäß alles tun, um ein derart unbequemes Buch, wenn schon nicht zu verurteilen, so doch möglichst zu verschweigen. Ich hoffe deshalb auf die Unterstützung aus der Kirchengemeinschaft und der breiteren Öffentlichkeit, von Theologen und hoffentlich auch dialogbereiten Bischöfen, um die ideologisch fixierte und juristisch und finanziell zumeist abgesicherte römische Kirchenhierarchie aufzuwecken: die hier vorgelegte Pathogenese, diese Erklärung von Entwicklung und Folgen der Krankheit, unter der die katholische Kirche leidet, zur Kenntnis zu nehmen und den sich aufdrängenden unbequemen Therapien nicht weiter Dialogverweigerung und Widerstand entgegenzusetzen. Gibt es Hoffnung, zumindest für die Kirche in Deutschland?
Agenda für ein »Zukunftsgespräch«
Vom obersten katholischen Laiengremium, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), aufgefordert, hat die Deutsche Bischofskonferenz im Herbst 2010 in einem Brief an alle Katholiken nach der schockierenden Aufdeckung jahrzehntelanger Vertuschung sexualisierter Gewalt ein zweijähriges kirchliches »Zukunftsgespräch« angekündigt. Diese späte Dialoginitiative – etwa fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum – ist zu begrüßen; ist sie doch Ausdruck dafür, dass die Bischöfe sich schließlich doch beunruhigt zeigen über die Frustration, Opposition und Abwanderung im katholischen Kirchenvolk infolge der Missbrauchskrise und des enormen Reformstaus. Der Dialog soll die Bischofskonferenz, die Bistümer, die Gemeinden und auch Fernstehende einbeziehen.
Aber: um die Jahreswende 2010/2011 war festzustellen, dass die Dialoginitiative schon wieder ins Stocken geraten war. Denn die deutschen Bischöfe sind uneins. Manche erkennen nicht einmal das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als Dialog- und Kooperationspartner an – ganz zu schweigen von der mit weit über einer Million Unterschriften beglaubigten KirchenVolksBewegung »Wir sind Kirche«, einer unabhängigen »Stimme des Kirchenvolkes«. Nicht einmal auf ihren für Ende November 2010 angekündigten Brief an die Gemeinden konnten sich die Bischöfe einigen. Die Gläubigen wurden auf das Frühjahr 2011 vertröstet.
Aber diese Gläubigen erinnern sich sehr wohl, dass schon ähnliche Gesprächsinitiativen – auch im Zusammenhang mit Befragungen vor Bischofsernennungen – praktiziert wurden, die aber für die Gläubigen nichts als Enttäuschungen brachten, wie ja auch schon die Ergebnisse der »Würzburger Synode« (1971-1975) und vieler Diözesansynoden von der Hierarchie »schubladisiert« und von Rom schlicht nicht akzeptiert wurden. Daher haben auch jetzt manche Katholiken den Verdacht, die Bischöfe möchten durch ein »Gespräch« in erster Linie den großen Druck vom Kessel nehmen, um weiterhin Reformen hinauszuschieben.
Nicht weniger begründet ist der Verdacht, dass, wie schon oft, die übliche vatikanische Geheimdiplomatie auf die deutschen Bischöfe – wie früher auf die österreichischen anlässlich ihres hoffnungsvoll begonnenen »Dialogs für Österreich« (1997) – Druck ausgeübt hat, um das Dialogunternehmen möglichst abzubremsen, wenn nicht gar zu stoppen. Diese neue Dialogoffensive des deutschen Episkopats würde ohnehin mehr überzeugen, wenn sie mit Entscheidungen für bestimmte Reformen verbunden wäre, über die schon seit Jahren und Jahrzehnten »Gespräche« geführt werden. Die katholischen Laien wollen jedenfalls einen verbindlichen Dialog mit konkreten Resultaten, wovor sich mancher Bischof aber fürchtet.
Das ist erstaunlich angesichts des Befundes, dass nach dem von der Bischofskonferenz selber in Auftrag gegebenen Trendmonitor »Religiöse Kommunikation 2010« nur noch 54 % der Katholikinnen und Katholiken sich der Kirche verbunden fühlen, mehr als zwei Drittel davon in kritischer Weise. Ja, im Jahre 2010 dürften insgesamt 250000 Menschen aus der katholischen Kirche der Bundesrepublik ausgetreten sein, ungefähr doppelt so viele wie im Vorjahr; es gab auch mehr Übertritte zur evangelischen Kirche (Angaben des Religionssoziologen Michael Ebertz, Katholische Hochschule Freiburg).
Wie auch immer: Ich stelle mich dem Dialog und lege hier eine sorgfältig ausgearbeitete und auf jahrzehntelanger theologischer Arbeit und kirchlicher Erfahrung gegründete Agenda für ein solches Zukunftsgespräch und entsprechende Entscheidungen vor. Vor fünfzig Jahren habe ich Ähnliches nach der Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Buch »Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit« (1960) getan. »Agenda« (lat.: »was zu tun ist«): nicht zu verstehen nur als Notizbuch, in das die zu erledigenden Dinge pro memoria eingetragen sind, sondern als Aktionsprogramm dringend anzupackender Aufgaben. Wie schön wäre es doch, wenn dieses Buch allen Widrigkeiten zum Trotz einen ähnlichen Erfolg hätte wie das damalige, dessen kühne Vorschläge zuallermeist durch das Konzil in Erfüllung gegangen sind. Auch heute brauchen wir nicht noch jahrelange Diskussionen und Reflexionen, sondern kühne Entscheidungen und mutige strukturelle Reformen, wie sie im letzten Kapitel dieses Buches mit aller Deutlichkeit formuliert und ausführlich begründet sind.
Sollte das gegenwärtige »Zukunftsgespräch« aber ergebnislos bleiben, so wird, davon bin ich überzeugt, diese Agenda auf der Tagesordnung der katholischen Kirche bleiben. Und dafür hat sich für mich die Mühe gelohnt.
Quelle: Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?, © Piper Verlag Gmbh, München
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