Hans Jonas' Kritik am Hirntod

„Beim irreversiblen Koma, wie die Harvard-Gruppe es definierte, ist der springende Punkt natürlich genau der, dass es ein Zustand ist, der die Reaktivierung irgendeines Gehirnteils in jedem Sinne ausschließt. Das Gehirn, so müssen wir dann sagen, ist tot. Wir haben dann einen „Organismus als ganzen“ minus Gehirn, der in einem Zustand partiellen Lebens erhalten wird, solange die Lungenmaschine und andere Hilfsmittel am Werke sind. Und hier ist meinem Dafürhalten nach die richtige Frage nicht: Ist der Patient gestorben?, sondern; Was soll mit ihm – immer noch ein Patient – geschehen? […] Das schließt ein – warum nicht? – das Hinausziehen des Zwischenzustandes (für den wir einen neuen Namen finden müssen [„Lebenssimulierung“?], da der des „Lebens“ durch die neue Definierung des Todes unanwendbar geworden ist), um aus ihm alle Vorteile herauszuschlagen, die wir können. Es gibt deren viele. Bis jetzt [das war 1970!] sprechen die Neudefinierer nur davon, die Lungenmaschine weiterlaufen zu lassen, bis das Transplantorgan angefordert wird (was von der Meldung eines typologisch passenden Empfängers abhängt), sie dann abzustellen und zu schneiden beginnen, womit alles zu Ende wäre – und das klingt harmlos genug. Aber warum muß es damit zu Ende sein? Warum die Maschine abstellen? Sind wir erst einmal versichert, dass wir es mit einem Leichnam zu tun haben, dann sprechen keine logischen Gründe dagegen und starke pragmatische dafür, die künstliche Durchblutung (Lebens Simulierung) fortzusetzen und den Leib des Verschiedenen zur Verfügung zu halten – als eine Bank für lebensfrische Organe, möglicherweise auch als eine Fabrik für Hormone und andere biochemische Substanzen, nach denen Bedarf besteht. Ich zweifle nicht, dass einem solchen Leibe auch die natürliche Fähigkeit zu Narbenbildung und Hellung von Operationswunden erhalten werden kann, so dass er mehr als einen Eingriff Überstehen konnte. Verlockend ist auch die Idee einer sich selbst regenerierenden Blutbank. Künstliche Nährstoffzufuhr wäre kein Problem. Und das ist noch nicht alles. Vergessen wir nicht die Forschung. Warum sollten nicht die wundervollsten Transplantexperimente an dem gefälligen Subjekt-Nichtsubjekt vorgenommen werden, wo der Kühnheit keine Schranken gesetzt sind? Warum nicht immunologische und toxikologische Untersuchungen, Infektion mit Krankheiten, alten und neuen. Ausprobieren von Drogen? Wir haben die „aktive“ Kooperation eines funktionierenden Organismus, der für tot erklärt ist und deshalb keinen Schaden leiden kann: das heiße, wir haben die Vorteile des lebenden Spenders ohne die Nachteile, die dessen Rechte und Interessen auferlegen (denn ein Leichnam hat keine). Welch ein Segen für die medizinische Ausbildung, für anatomische und physiologische Demonstration und Übung an so viel besserem Material, als es sonst der Seziersaal bietet! Welche Chance für den Anfänger, gleichsam „in vivo“ amputieren zu lernen, ohne dass seine Fehler etwas ausmachen! (Und so fort – in den weit offenen Raum der Möglichkeiten …) Befürwortet wird ja „die volle Ausnutzung moderner Mittel, den Wert von Kadaverorganen zu maximieren“. Wohlan, hier hätten wir die Maximierung.
Aber nein, so werden die Berufs Vertreter protestieren, an so etwas denkt doch niemand! Vielleicht nicht. Aber ich habe gerade gezeigt, dass man daran denken kann, und mein Argument ist, dass die vorgeschlagene Definition des Todes jeden Grund beseitigt, nicht daran zu denken, und, einmal gedacht, es nicht zu tun, wenn als wünschenswert befunden (und die Angehörigen zustimmen). Erinnern wir uns, dass die Harvard-Gruppe im Ergebnis nicht etwa eine Definition irreversiblen Komas als Grund für den Abbruch erhaltender Maßnahmen angeboten hat, sondern eine Definition des Todes durch das Kriterium irreversiblen Komas als Grund für die begriffliche Versetzung des Patientenleibes in die Klasse lebloser Dinge, gleichviel ob erhaltende Maßnahmen fortgesetzt oder abgebrochen werden. Es wäre unaufrichtig zu leugnen, dass die Neudefinierung auf eine Vordatierung des fait accompli hinausläuft, verglichen mit Kriterien nach konventionellen Lebenszeichen, die noch dauern können; dass sie nicht durch das ausschließliche Interesse am Patienten motiviert ist, sondern auch durch gewisse ihm äußere Interessen (Organspende das vorherrschende davon); und dass eben die Bedienung dieser Interessen, d. h. der tätliche Gebrauch der Freiheit, die die Definition theoretisch verschafft, bei ihrem diagnostischen Gebrauch schon typisch vorgesehen sein wird. Das letztere allein birgt gefährliche Versuchungen in sich für den diagnostischen Vorgang selbst. Aber einerlei, welcher besondere Gebrauch zur Zeit von der Zunft vorgesehen, nicht vorgesehen oder gar verpönt sei – es wäre naiv zu glauben, dass irgendwo eine Linie zwischen erlaubtem und unerlaubtem Gebrauch gezogen werden kann, wenn genügend starke Interessen sprechen: Die Definition, die absolut, nicht graduell ist, versagt jedes Prinzip für das Ziehen einer solchen Linie. (Bei der Ingeniosität der medizinischen Wissenschaft ist es wahrscheinlich, dass das „simulierte Leben“ des hirnlosen Leibes schließlich jede extraneutrale Tätigkeit des menschlichen Körpers einbegreifen kann, vielleicht sogar manche künstlich aktivierten Nervenfunktionen.)
Nach alledem ist mein Argument sehr einfach. Es ist dies: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt, und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen. Der Verdacht ist nicht grundlos, dass der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde). D. h., es besteht Grund zum Zweifel daran, dass selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Patient vollständig tot ist. In dieser Lage unaufhebbaren Nichtwissens und vernünftigen Zweifels besteht die einzig richtige Maxime für das Handeln darin, nach der Seite vermutlichen Lebens hinüberzulehnen. Daraus folgt, dass Eingriffe, wie ich sie beschrieb, der Vivisektion gleichzuachten sind und unter keinen Umständen an einem menschlichen Körper stattfinden dürfen, der sich in diesem äquivoken oder Schwellen-Zustand befindet. Eine Definition, die solche Eingriffe dadurch autorisiert, dass sie als unäquivok stempelt, was bestenfalls äquivok ist, muß abgelehnt werden. Aber bloße Ablehnung im theoretischen Disput ist nicht genug. Bei dem Druck der – sehr realen und höchst schätzbaren – medizinischen Interessen, die hier im Spiel sind, läßt sich mit Sicherheit vorhersagen, dass die generelle Erlaubnis, die die Theorie erteilt, in der Praxis unwiderstehlich sein wird, wenn die Definition erst einmal öffentlich-rechtlich anerkannt wird. Daß es dazu kommt, muß daher mit allen Kräften verhindert werden. Es ist das einzige, dem jetzt noch widerstanden werden kann. Ist die Straße zu den praktischen Folgerungen erst offen, ist es dafür zu spät. Es ist ein klarer Fall von „principiis obsta“.“

Quelle: Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Insel Verlag 1990, S. 228 ff.

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