Herr Pöttering, welche Bilanz würden Sie nach den Europawahlen ziehen?
Alles in Allem ist die Bilanz positiv, insbesondere ist zu begrüßen, dass die Wahlbeteiligung EU weit um etwa 8 % angestiegen ist, in Deutschland sogar um 13 %. Die Wahlbeteiligung lag damit etwas höher als 50 % und das entspricht im Übrigen auch der Beteiligung an Wahlen zum amerikanischen Kongress oder bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Natürlich ist zu hoffen, dass die Wahlbeteiligung in fünf Jahren noch weiter ansteigt.
Die neuen Rechten haben ein neues Bündnis in Europa geschlossen, sehen Sie hierbei eine Gefahr für die Demokratie?
Ich sehe in dieser Fraktion eine große Herausforderung. Allerdings begrüße ich sehr, dass die Rechte nicht so stark geworden ist, wie man es befürchtet hat. Im Übrigen empfehle ich, genau hinzuschauen, um welche Partei es sich handelt. Nicht alle Parteien die man als „Rechte“ bezeichnet sind Nationalisten. Deswegen ist es wichtig, zu differenzieren und auch mit denjenigen, die für Europa offen sind, das Gespräch zu suchen.
Der Streit um die Nachfrage von Jean-Claude Junker ist entflammt, Manfred Weber hat weniger Chancen als erwartet. Nun hat Emmanuel Macron die Bundeskanzlerin Angela Merkel für das Amt der Kommissionspräsidentin vorgeschlagen. Ist das realistisch?
Leider sind die Chancen für Manfred Weber nach dem Europäischen Rat nicht so gut, wie ich es mir wünsche. Wenn Emmanuel Macron Bundeskanzlerin Angela Merkel als Kommissionspräsidentin vorgeschlagen hat, so muss man das zur Kenntnis nehmen, aber ich halte das nicht für realistisch. Angela Merkel hat selbst erklärt, dass sie für eine europäische Aufgabe nicht zur Verfügung steht. Es würde nach meiner Beurteilung der Persönlichkeit von Angela Merkel total widersprechen, wenn sie sich das anders überlegen würde. Im Übrigen ist Manfred Weber in einem fairen und demokratischen Verfahren in geheimer Wahl, mit großer Mehrheit zum Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP) gewählt worden. Das kann man nicht ignorieren. Die EVP ist im Europäischen Parlament die stärkste Fraktion. Damit ist Manfred Weber der vorrangige Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten. Das Europäische Parlament bleibt nur glaubwürdig, wenn es am Modell des Spitzenkandidaten festhält. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron sollte das Prinzip der Spitzenkandidaten anerkennen und das Europäische Parlament ernst nehmen.
Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, doch der Kontinent steht nicht als einheitliches Sprachrohr zusammen – gerade wenn man in den Osten blickt. Wo sehen sie die eigentlichen Konflikte und was wären die Probleme die schnellstmöglich zu lösen wären?
Zunächst muss man unterscheiden zwischen Europäischer Union und Europa. Konzentrieren wir uns auf die Europäische Union. Es gibt in Bezug auf die Stabilität der Europäischen Währung Differenzen zwischen den nördlichen und südlichen Staaten Europas. Wir müssen darauf bestehen, dass wir die Vereinbarungen, wie sie sich aus dem Vertrag von Maastricht ergeben, auch einhalten. Als größte Herausforderung sehe ich eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu entwickeln. Das ist nicht nur eine Aufgabe für die unmittelbare Zukunft, sondern für Jahrzehnte, da die Herausforderung der Migration ja bleibt. Eine weitere Herausforderung ist, dass wir die wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, das ist ja die Wirtschaftsordnung der Europäischen Union, wie sich aus dem Vertrag von Lissabon ergibt, stärken. Das bedeutet auch die Verwirklichung des digitalen Binnenmarktes. Hier brauchen wir deutliche gemeinsame Anstrengungen.
Als dringlich empfinde ich auch, dass wir die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik stärken; dass wir im Bereich der Außenpolitik zu Mehrheitsentscheidungen kommen und dass wir offen sind – wie es ja auch Präsident Macron vorgeschlagen hat –, eine Europäische Armee oder eine Armee der Europäer zu schaffen. Nach dem Beschluss der NATO, die Verteidigungsausgaben sollten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen, sollten diese für die Stärkung der europäischen Säule der NATO verwendet werden. Dies sind einige Herausforderungen, die ich für die Europäische Union sehe.
Wenn man an Europa insgesamt denkt, würde ich mir wünschen, dass wir zu mehr Partnerschaft mit Russland kommen, was allerdings bedeutet, dass Russland seine Intervention in der Ostukraine beendet und das Abkommen von Minsk einhält. Die Annexion der Krim dürfen wir nicht anerkennen.
Immer wieder wird über den Begriff der Vereinigten Staaten von Europa diskutiert. Doch würde ein derartiger Superstaat nicht die einzelnen Länder überfordern? Welche Rolle könnte in einem stärkeren Europa denn der Nationalstaat spielen?
Den Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ empfehle ich nicht zu verwenden, da er suggeriert, dass wir etwas nach dem Bilde der Vereinigten Staaten von Amerika anstreben. Die Europäische Union, die früher Europäische Gemeinschaft hieß, ist jetzt der Begriff für den Zusammenschluss der Europäischen Völker und ich empfehle, dabei zu bleiben. Einen Superstaat streben wir ausdrücklich nicht an, die Europäische Union ist etwas „sui generis“, etwas eigener Art und sie ist mit keinem Staatenbündnis oder Vereinigung von Staaten zu vergleichen. Wir haben verschiedene politische Identitäten. Das ist die Heimat, das ist der Nationalstaat und das ist die Europäische Union. Alle drei Identitäten gehören zusammen und die Reduzierung unserer politischen Identität auf den Nationalstaat würde den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht gerecht. Ich möchte es so ausdrücken: Wer nur seine Heimat sieht, wird sie nicht schützen. Wer seine eigene Nation über alle Nationen stellt, wird zum Nationalisten und Nationalismus führt zum Krieg. Und wer nur als Europäer und als Europäerin empfindet, der oder die hat keine Wurzeln. Also diese drei Identitäten gehören zusammen und ich glaube, jeder kann sich darin mit seiner eigenen Identität wiederfinden.
Die SPD ist in der Krise. Die Volksparteien verlieren deutlich in der Wählergunst – noch kann die CDU/CSU ihre Position halten, aber droht ihr als Volkspartei doch ein ähnliches Ende wie der SPD oder anders gefragt: Sind die Volksparteien noch ein Erfolgsmodell?
Die Volksparteien müssen wieder ein Erfolgsmodell werden, denn sie haben Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Freiheit, Demokratie und Recht gesichert, und sie haben vor allem die Bundesrepublik Deutschland zu einem verlässlichen und stabilen Partner in Europa und in der Welt gemacht. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, dass die Volksparteien eine Zukunft haben. Volkspartei bedeutet, dass in einer Partei das Gemeinwohl, das heißt, dass das Wohl aller Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund steht. Wenn wir zu einer Partikularisierung kommen, wenn nur noch Interessen einiger Gruppen durch Parteien vertreten werden, gibt es das Risiko einer Vielzahl von Parteien und es wird immer schwieriger, eine Regierung zu bilden. Deswegen entspricht es dem Interesse der Demokratie, dass die Volksparteien eine gute Zukunft haben und sie sollten alle Anstrengungen darauf konzentrieren, dass sie die gesamte Bevölkerung mit dem Gemeinwohl auch repräsentieren.
In drei neuen Bundesländern wird jetzt im Herbst gewählt, die AFD ist auf dem Vormarsch, was machen die Volksparteien falsch, was AFD und die Grünen richtig?
Zunächst einmal muss man deutlich machen, dass wir die Wähler und Wählerinnen der AFD wiedergewinnen wollen. Wir sollten die Bürgerinnen und Bürger, die sich bei Wahlen für die AFD entschieden haben, nicht diffamieren, sondern sie ernst nehmen. Das bedeutet, dass wir die Probleme lösen und nicht nur über die Probleme sprechen. Es entwickelt sich in einer Demokratie immer eine Situation, dass Parteien stärker oder auch wieder schwächer werden. Die bisherigen Volksparteien, also CDU/CSU und SPD, sollten gerade in der Großen Koalition den vereinbarten Vorhaben auch Lösungen zuführen. Und je mehr das gelingt und je mehr man mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber spricht, wird es auch möglich sein, dass die Volksparteien wieder an Gewicht gewinnen.
Die Grünen sind auf dem Vormarsch, haben sogar die CDU in Umfragen überholt. Es kann doch aber nicht nur das Klimathema sein, welches einen derartigen Höhenflug verleiht?
Die Grünen sind auf Bundesebene nicht in der politischen Verantwortung, das macht es ihnen leichter, Themen zu vertreten, für die sie gar keine Verantwortung in der konkreten Politik haben. Wenn die Volksparteien einerseits den Umweltschutz und das Thema Klima ernst nehmen, ohne sich andererseits aber nur darauf zu beschränken, dann bin ich zuversichtlich, wird es auch wieder gelingen, Mehrheiten oder stärkere Zustimmung zu finden. Wir dürfen uns in der Politik nicht nur auf ein Thema konzentrieren, sondern wir brauchen ein breites Spektrum von Problemlösungen, dazu gehört auch die innere und äußere Sicherheit, wo ich nicht erkenne, wie die Grünen mit dieser wichtigen Problematik umgehen wollen.
Es wird gerade viel spekuliert, wie lange die Große Koalition in Deutschland noch hält und was passiert, wenn Neuwahlen kommen.
Niemand ist ein Prophet und niemand kann vorhersagen, ob die Große Koalition zusammenhält. Das ist vor allem eine Frage, die die SPD beantworten muss.
Herr Professor Pöttering, herzlichen Dank für dieses Gespräch
Fragen: Dr. Dr. Stefan Groß
Quelle: The European