Mag sein, dass, wer nach der Pause der einzigen Aufführung von Giuseppe Verdis „La traviata“ durch das Ensemble Opera Incognita Münchens Allerheiligenhofkirche verließ, verärgert war. Weil diese Ausreißer eine völlig andere „Traviata“ vorfanden. Sie erkannten nicht wieder, was sie gewohnt waren und noch immer hoffen, sehen zu können: eine üppige, mit erklecklich viel Chor, auf jeden Fall mit den vom Librettisten Francesco Maria Piave nach Alexander Dumas` Roman „Die Kameliendame“ eingeführten Figuren bevölkerte Grande Opera.
Regisseur Andreas Wiedermann gefiel es, eine in vielerlei Hinsicht „gewitzte“ Version der für ihn gewiss großartigen Vorlage zu schaffen, die nach seinem Gutdünken nicht nur ein paar, sondern ganz schön viele Abstriche erfahren müsste, um in unsere Zeit zu passen. Wie der Vorsitzende der Freunde des Jakobmayer e. V. Dorfen im quadratischen Programmheftchen schreibt, geht`s hier um eine „besondere und zeitgenössische Interpretation von La Traviata“. Er wünschte dafür (in Dorfen war am 14. April Premiere, der drei Aufführungen folgten) „viel Spaß, große Unterhaltung und einen schönen Abend“.
Den Spaß schrieben Wiedermann und sein unvergleichlicher Erzmusikus Ernst Bartmann mit den drei (ja: drei!) Instrumentalist*innen, der vom Flügel aus zielsicher und sängerfreundlich dirigierte, genauso „groß“ wie die Unterhaltung. Vor einer bunt bespickten Wand (Bühnenbild: Anton Empl) spielte sich mit mancher gewagten, unverständlich gebliebenen Einlage (Porno-Häuschen mit „Verdi-Macbeth“-Kostproben) die Tragödie einer „Gestrandeten“, vom rechten Weg Abgekommenen ab. Kammerspiel-Atmosphäre, zuerst mit Slapstick-Einlagen, dann immer intimer werdend. Nach Monaten geordnet. In den Februar fällt die alles überragende und überhöhende, auch klärende Schluss-Szene, die dritte und letzte „Station“ der „Heldin“, die zum „Held“ wird.
Diese(r) hat sich von der aufgetakelten Kurtisanen-Diva mit gefärbter Hochfrisur und Glitzergeschmeide (Kostüme: Bärbel Gruber, Evi Festl) völlig befreit, um „gelöst“ ihren (seinen) Tod zu sterben – in tiefstem Schwarz. Ohne Perücke, nur noch mit einem Kreuzchen an der Halskette: Uri Elkayam, Violetta Valery, erschien, gefasst, jede Hilfe sanft abwehrend, zum Sterben bereit, in dunkler Schönheit. Die Dame, die der klassische Countertenor vier Akte lang verkörperte, ist Vergangenheit, die Dragqueen-Maskerade vergessen. Erst jetzt wird die ganze Tragik offenbar: Violetta ist zum Violetto geworden.
Alfredo Germont, (Rodrigo Trosino) der ziemlich heruntergekommene Sohn aus gutem Hause, liebte keine Frau, sondern einen Mann. Welche Schande für den Herrn Papa (Robson Bueno Tavares) und dessen hochgehaltene Familie! Er ist nach wie vor untröstlich. Besetzt wurde das „Traviata“-Trio von Sängern, die ihr Bestes gaben und sich die Seele aus dem Leib sangen und spielten, auch wenn Tavares` Bariton zu wenig empathisch klang, verdiente er die Publikum-Bravi, die allerdings auch dem woken Tenor Trosino hätten gelten können. Das Nachsehen hatten die vielbeschäftigte Carolin Ritter, die Verdi/Piaves Annina samt Doktor da Procida ersetzte, nicht zuletzt der stimmlich großartige Florian Dengler als Gaston. Der singt bei Verdi Tenor, hatte aber von Bartmann ganz neue Töne verpasst bekommen.
Tiefer Kotau vor Uri Elkayam. Der Mann wird als der einzige und famose Violetto in die Operngeschichte eingehen. Seine darstellerische und stimmliche Wandlungsfähigkeit ist enorm. Nachschlag für den musikalischen Alleskönner Ernst Bartmann: Alle Achtung vor seinem Arrangement, das gekonnt auf die Klang-Künste von Annika Elsässers Violine, Gabi Oders Klarinette und Daniel Matthewes Bass zugeschnitten war.