„Wo denn noch aus heute abends?“, will die Wirtin wissen. „Ins Paradies“, bekam sie kurz zur Antwort. „Da haben S` ja net weit“, meinte sie. „Bis nach Salzburg sind`s immerhin noch 11 Kilometer“. „Ja, dann…!“
An Pfingsten ein günstiges Quartier in Salzburg zu bekommen, ist schier unmöglich. Man muss sich auf dem Land einquartieren. Wald und Wiesen. Bach und Blumen. Dort, wo`s paradiesisch ist. Na also! Cecilia Bartolis Pfingst-Festival wartet heuer mit einer kleinen Sensation im Großen Festspielhaus auf: die französische Fassung von Christoph Willibald Glucks Tragédie-opéra in drei Akten „Orphée et Eurydice“ von 1774. Die wird nicht nur gesungen, sondern auch getanzt. John Neumeier ist – nach seinem großen Festspiel-Erfolg mit dem „Sommernachtstraum“ 2016 – von der Bartoli nach Salzburg zurückgeholt worden, wie sie sagte. Er brachte wieder sein Hamburg Ballett mit, für eine einzige Aufführung.
Es dauert ein bisschen, bis es paradiesisch wird auf der Bühne, die der Super-Choreograf John Neumaier erstmals voll und ganz allein „bespielte“, als Regisseur, Lichtdesigner und Ausstatter. Mit seinem Stellvertretenden Ballettdirektor Lloyd Riggins natürlich. Der kommt gleich im 1. Akt zum Zuge. Da passiert etwas Schreckliches: Ein tödlicher Autounfall. Die Compagnie ist tief betroffen. Eurydice ist das Opfer, Orphées Geliebte. Oder Gattin? In den deutschen Übertiteln taucht beides auf. Orphée ist untröstlich. Er, der Choreograf erfährt es durch das Handytelefon. Sein Begleiter, Amor, wollte ihn mit Blumen trösten. Orphée stößt sie von sich. Er hadert mit der Natur. Sie hat ihm die Liebste geraubt. Im Mythos war`s wirklich die Natur, der Schlangenbiss, der Eurydice das Leben kostete. Bei Neumeier ist es die Technik. Nun ja.
Da geht so manches nicht ganz auf, wenn man den Mythos kennt und liebt, Neumeiers Phantasie und Abstraktionsvermögen sind grenzenlos. Was er zeigt, ist ein abendfüllendes Stück Trauerarbeit, begleitet von berührender Musik, grandiosen Tanz-“Bildern“ mit Furien, Seeligen Geistern, Schatten … Und Glucks eingängigen Lyrismen auf alten Instrumenten, sie klingen wunderbar aus dem Graben, in dem der besonnene Japaner Kaziki Yamada am Pult der Camerata Salzburg steht und den Bachchor Salzburg mitmeint, den Benjamin Hartmann einstudiert hat. Das Auge nimmt Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“ wahr, Inspirationsquelle für den „Choreografen“ Orphée. Wald vermisst man. Links außen nur ein Baum mit einer Ruhebank. Orphées und Amors kleines Refugium für die Aufarbeitung des jähen Todes von Eurydice. Im letzten Bild: der Baum umgekehrt vom Himmel zur Erde.
Den Himmel zu finden, macht sich Orphée auf. In Richtung Hades. Kämpft sich durch. Widersteht den Furien. Bezwingt den dreifachen Zerberus. Darf doch tatsächlich ins Paradies, ins Elysium. Orphée hat, man weiß es aus dem Mythos, nicht leicht, seine Geliebte wiederzuerlangen. Er darf sie nicht sehen. Nur spüren. Ihren Atem wahrnehmen. Kämpft gegen ihre Wut und Verzweiflung über die seltsame Zurückhaltung, keine Vereinigung, nur Nähe, keine Blicke. Sie hält seine scheinbare Gleichmut, erträgt sein Schweigen nicht länger. So dreht er sich endlich ihr zu. Sie stirbt so ein zweites Mal …
Ein großartiges Ensemble. Großartige Protagonisten. Orphée war der unpathetische, feinnervige, zauberhaft singende Maxim Mironov, dessen Klage-Arie man nicht vergessen kann, Andriana Chuchman sang Eurydice mit so weichem Sopran wie sie sich in ihren weißen Schleiern duftig bewegte, Lucia Martin-Cartón, das kleine, zarte Geschöpf war „L`Amour“, verliebt in Orphée und auf ihn einredend, dass Eurydice nicht gestorben sei, sondern in seinem Herzen und in der Kunst weiterlebe.
John Neumeier gesellt sich am Ende zu seinen ihm Anvertrauten, dem unvergleichlichen Ballett-Ensemble, den sphärischen Tanz-Doubles Edvin Revazov (Orphée) und Anna Laudere (Eurydice), die beide auch im Leben ein Paar sind, dem athletischen Cerberus-Trio Aleix Martinez, Artem Prokopchuk und Ricardo Urbina. Jubel. Mehrere Vorhänge. Der 84-jährige John Neumeier überglücklich, auch erleichtert, das Gastspiel geschafft zu haben.
„Wenn S` morgen in Richtung Schönram fahren, haben S` es näher ins Paradies“, empfängt den aus Salzburg Rückkehrenden seine Wirtin. „Der nächste Weiler heißt so, ohne Schmarrn!“