Als erster türkischer Schriftsteller erhielt Orhan Pamuk (71) 2006 den Literaturnobelpreis. Für den Chef des Lenbachhauses Matthias Mühling ist Pamuk weitaus mehr: „Bibliothekar, Soziologe. Er zeichnet, er malt und ist eine bedeutende politische Stimme. Er macht alles gleichzeitig.“ Wie geht das? Der Besucher der Ausstellung „Der Trost der Dinge“ erhält darauf keine Antwort. Er wird mit einer Bandbreite kreativen Wirkens eines Besessenen konfrontiert: Malereien, Skizzenbücher, Leporellos, Vitrinen voller Objekte.
Gut zu wissen: Der in Istanbul geborene und arbeitende Orhan Pamuk brachte 2008 den Roman „Museum der Unschuld“ heraus, als seine eigene tragische Liebesgeschichte mit einer begehrenswerten Verwandten namens Füsun. Er selbst heißt darin Kemal. Der findet Trost im Sammeln von Dingen, die seine Geliebte berührte oder die ihn an sie erinnern. Vier Jahre später lässt der Autor aufhorchen durch die Eröffnung eines Museums in Istanbul, das den Titel der Romans trägt. Hier präsentiert er Sachen aus den Jahren zwischen 1950 und 2000 verschiedener Art, Größe und kultureller Relevanz. Damit lässt Pamuk das Materielle seiner Erzählung Wirklichkeit werden.
In Vitrinen für Prag, Dresden und München schickte Pamuk sein seltsames Sammelsurium auf Wanderschaft. Eigentlich bezieht sich das Präsentierte nicht direkt auf die Sachen seines Romans und seines Museums. Werke des DOX in Prag, der Dresdener Kunstsammlungen und des Münchner Lenbachhauses inspirierten ihn zu noch nie gesehenen Schätzen seiner Sammelleidenschaft. Gleichzeitig entstand so etwas wie eine „historische Wechselbeziehung zwischen Europa und dem Osmanischen Reich“.
Die Fülle der in einer riesigen Wunderkammer ausgebreiteten, witzig komponierten Gegenstände macht die Entscheidung schwer, was man im Dunkel des Saales genauer betrachten sollte. Es gibt Raki-Gläser, gefüllte Mocca-Tassen, Spielkarten, Nippes, Früchte, Figuren, Passports, historische Fotos, Toilettenartikel, gespensterhafte Totenschädel zu sehen – alle beziffert.
40 Vitrinen hat Pamuk aus den insgesamt 83 der in Istanbul stehenden für München ausgesucht. Interessant: die Arbeiten, die sich auf die Sammlung des Lenbachhauses beziehen: „Das große Maul“ und „Epidemie“ (1900) von Alfred Kubin (1903), „Erzengel“ (1938), „Waldbeere“ (1921) und „Kakteen“ (1912) von Paul Klee sowie „Ganglion“ (ohne Jahreszahl) von Gabriel von Max. Dazu ein „Stillleben“ (1898) von Eduard von Grützner, dem 1925 in München gestorbenen, durch seine trinkfreudigen Mönche bekannten Maler.
Hierzu ist im Begleitbuch zur Ausstellung „Der Trost der Dinge“ zu erfahren: Beim traditionellen Silvester-„Bingo“-Spiel der Familie Pamuk wurden Nummern gezogen. Bei wem dies Nummer auf der Spielkarte stand, rief „cinko“. Er wurde von Großmutter beschenkt. Ihre Gaben bargen für den kleinen Orhan etwas Geheimnisvolles. Er spürte, dass die Dinge bald ein Eigenleben führten. Später kapierte er, was es mit der europäischen Tradition der Stillleben auf sich hat. Angeregt von seiner Museums-Bingo-Vitrine und dem im Münchner Lenbachhaus hängenden Grützner-Bild konzipierte Pamuk einen besonders üppigen Schaukasten. Darin sollte sich jener Zauber ausdrücken, der den Dingen innewohne.
Pamuks Wunderkammer-Schau ist täglich außer Montag von 10 bis 18, Donnerstag bis 20 Uhr geöffnet. Schluss ist am 13. Oktober. Das Begleitbuch kostet im Museums-Shop 33 Euro.