Der echte Bernhard Minetti, 1905 in Kiel geboren, 1998 in Berlin gestorben, konnte sich nicht beklagen über große Bühnen, die er bespielte: von Kiel über Köln und Düsseldorf bis Berlin. In wichtigen Rollen trat er auf, als Franz Moor, Richard III, Marinelli, Robespierre und, ja, auch als Prospero. Der künstliche Minetti, geschaffen von Thomas Bernhard für sein „Portrait des Künstlers als alter Mann“, leugnet es, den Prospero gespielt zu haben, dafür oft den Lear. Auch in Lübeck und Dinkelsbühl. Fällt dieser bayerische Ortsname, verzieht der räsonierende künstliche Minetti auf der Bühne im Münchner Marstall missmutit das Gesicht: In Din-kels-bühl!! Einmal im Monat war er dort, allerdings, so wollte es Thomas Bernhard wissen, in der Dachkammer seiner Schwester, seinem Rückzugsort, nachdem man ihn, als Schauspieler und Theaterdirektor, in Lübeck rausgeschmissen hatte. Er hatte sich dort einen Prozess eingehandelt, „von den Se-na-to-ren!!“ (verzieht erneut das Gesicht), die ihm vorwarfen, sich der klassischen Literatur verweigert zu haben. Ausnahme: die Rolle von Shakespeares King Lear.
Um diese im hohen Alter noch einmal zu geben, erwartet der Greis seinen Schulkameraden, den Flensburger Schauspieldirektor, im Foyer eines schäbigen Hotels in Oostende. Wo er mit einem Kastenkoffer bei Schneesturm anlangte, in den er seinen Ruhm als Darsteller-Star in Form von Zeitungskritiken gepackt hat, samt der Maske für den irren Lear, verfertigt von James Ensor persönlich. Die von Barbara Melzl dappig gemimte Dame im Foyer, es ist Silvesterabend, hält sich ans Champagnerglas, das nachzufüllen sie den Portier (Mauro Nieswandt) anmacht den Lohndiener bittet, das Gesüff (Pujan Sadri) ihr aufs Zimmer liefern, wenn dieser mal nicht das vom hohen Schreibpult mehrmals fallende Gästebuch hinaufreichen muss.
Wie schön für das Publikum, dass das Warten auf das Erscheinen des Flensburger Theaterdirektors eine Ewigkeit dauert. Es gibt noch einen zweiten Teil des Stücks, in dem der des Wartens eher munter statt müde gewordene alte Minetti einem jungen Mädchen mit Kofferradio (Naffie Janha) begegnet, dem er sein Leben als gescheiterter Mime weiter erzählen kann: in unglaublich präzisen Tiraden eitler Selbstbespiegelung und -bemitleidung. Einigen im Publikum, das sei gesagt, wird`s nach einer Stunde mit Minetti zu viel. Nicht auszuhalten, dieser sich ständig wiederholende Monolog? Aber ja!! Aber doch!! Manfred Zapatka ist so umwerfend und ergreifend dieser alte Mime, so grandios, so fies auch dann wieder und, freilich, auch Widerspruch erregend. „Ich empfinde es als eine Hommage an die Schauspielkunst“, urteilte der echte Minetti über Bernhards Theaterstück „Minetti“ von 1976. Da sei „ganz sicher nichts Biographisches drin“.
Und ob, dachte wohl Thomas Bernhard-Freund Claus Peymann und inszenierte damals – es ist, kaum zu glauben, aber wahr, 47 Jahre her – die Uraufführung am Staatstheater Stuttgart. Und nun wieder in München. Ist sogar selbst am Silvesterabend 2023 zur Aufführung angereist. Ohne Aufsehen zu erregen. Sagen wir`s respektlos: Das Gros des Publikums hat ihn nicht erkannt, als er sich, guter Dinge, in letzter Sekunde vor 20 Uhr auf die Zuschauertribüne schlich. Seine Arbeit mit Achim Freyer, dem in diesem Jahr 90 Jahre alt werdenden großen Bühnen- und Kostümbildner war ihm das wert. Freyer setzte Ausstattungs-Glanzlichter – mit einem bunten Silvesterfeier-Völkchen, skurrilen Hotel-Lift-Benutzern und einem unvergesslichen Schlussbild: der bei leider von zu schütterem Schneefall zugedeckte tote Minetti mit fürchterlicher Ensor-Maske. – Jubel. Mehrere Vorhänge. Peymann – wo ist er hin? Man hätte ihm danken wollen für diesen einzigartigen Theaterabend.