Wohin sie müssen, wenn sie zu den Miserablen will. Nur die Reichenbach-Straße hoch. Sie stoßen direkt auf das Gärtnerplatztheater. Die fein angezogene Dame aus Unterföhring sei, obwohl Münchnerin, noch nie in dieser Gegend gewesen. Am Gärtnertheater würden doch nur Operetten gespielt, meinte sie. „Jetzt auch Musicals?“, war ihre Frage. Nicht erst jetzt, bekam sie zur Antwort. Aber jetzt gibt`s da, was eigentlich ins Deutsche Theater gehört: das Weltklasse-Musical. „Les Misérables“ nach Victor Hugos großem Roman von 1865. „O je“, entfuhr es der Dame, „muss man den gelesen haben?“
Alain Boublil, Claude-Michel Schönberg und Herbert Ketzmer sei Dank: nein! Sie schufen das Musical, das, von London aus, ab 1985 ein Welt-Hit und 2012 verfilmt wurde. „Warum erst 2024 in München?“, fragte Dramaturg Michael Alexander Rinz im außergewöhnlich großformatigen Programmbuch. Das hat mit Intendanten und Regisseur Josef A. Köpplinger zu tun. 2021 erhielt er, der gottlob bis 2030 Intendant bleibt, wunschgemäß die Zusage für eine Gemeinschafts-Neuproduktion mit dem Theater St. Gallen. Seit 2024 staune man auch in München über Valjeans Selbstbehauptungswillen, beweine man Fantines tragisches Schicksal, bewundere man den verzweifelten Mut der Pariser Studentenschaft und fiebere mit dem Liebespaar Marius und Cosette mit. „Zwar mit einigen Jahren Verspätung, aber dafür umso `misérabler`!“
Meisterhafte Inszenierung
Sein zwei Jahrzehnte französischer Geschichte einfangender Roman, so Victor Hugo, richte sich an alle Länder, „die Sklaven halten, … an Reiche, die Leibeigenschaft dulden. Die sozialen Probleme gehen über die Grenzen hinaus.“ Sein Meisterwerk, mit 1500 Seiten eines der längsten Epen überhaupt, bringt „große und allgemeine Menschheitsthemen wie Armut und Ausbeutung, Glaube und Heuchelei, Liebe und Aufopferung zur Sprache“, schreibt Rinz und „scheut sich nicht, dafür Mittel der Trivialliteratur, Spannung des Abenteuerromans und Motivik von Schauerstücken einzusetzen“.
Das dicht sitzende Publikum passte genau zu diesen Kriterien: durchwegs jung und dem Trivialen zugewandt, vermutlich großteils erstmals in einem „Staatstheater“ zu Gast. Es gab keinen der hinreißend gesungenen Nummern, der nicht mit Szenenapplaus gekrönt wurde. Die Aufführung brachte mit dem Riesen-Bühnenspektakel das Full-House zum Kochen. Dirigent Andreas Partilla hielt das Orchester auf Hochglanz, kostete die Härten der musikalischen Aussagen ebenso voll aus wie er die zarten Gefühle der Liebenden und Leidenden zum Klingen brachte. Auf der großartig bestückten, ständig in Bewegung gehaltenen materialreichen Dreh-Bühne von Rainer Sinell agierten Darstellerinnen und Darsteller von bemerkenswert hoher Qualität: allen voran Filippo Strocchi als der geläuterte Sträfling Jean Valjean und der Edel-Bariton Daniel Gutmann als Scheusal Javert. Aber auch Wietske van Tongeren als sterbende Prostituierte Fantine, Dagmar Hellberg und Jogi Kaiser als schillerndes, herrlich aufgedrehtes Wirte-Gespann Thénardier mit ihren Kindern, der kämpferischen Tochter Éponine (Barbara Obermeier) und dem beherzten Söhnchen Gavroche (Philipp Hopf), Marlin Fargel als fescher Studenten-Kapo Enjolras und, in gottlob mehrmals wiederholten herzzerreißenden Szenen das Liebespaar Cosette/Marius (Julia Sturzlbaum, Florian Peters). Für reichlich Bewegung in diesem aufgeheizten historischen Bilderbogen-Treiben sorgte der wohl auf dem Gipfel seiner gesanglichen und darstellerischen Künste angelangte und bravourös agierende gemischte Chor des Gärtnerplatztheaters.
Wer diese meisterhafte Inszenierung auf keinen Fall versäumen will: Beeilung! Noch gibt es Vorstellungen in diesem und den beiden Folgemonaten. Tel.: 089/2185 1960, Email: tickets@gärtnerplatztheater.de.