Alfredo Jaars „Ja“ zu Angela Merkels Flüchtlingspolitik

Im Hörsaal der Münchner Pinakothek der Moderne: Der Chilene Alfredo Jaar erklärt seine Rotunde-Installation von 1 Million deutschen Reisepässen. Foto: Hans Gärtner

Zehn Stunden Aufbau, zehn Leute. Andres Lepik, seit etwa zehn Jahren Leiter des Architekturmuseums der Technischen Uni München, ist geschafft. Unter seiner Leitung entstand der unter Glas gelegte Stapel von, sage und schreibe, exakt einer Million weinrot eingebundener, golden bedruckter deutscher Reisepässe. Unweigerlich stößt darauf, wer das Foyer der PdM betritt. Zugang frei. Tageslicht von oben. Was soll das?, fragt man sich wohl. Wer hat warum die Dinger aufgebaut? Warum im Glasschrein? Sind es wirklich eine Million? Wer kam auf diese „Schnaps-Idee“?

Von wegen Schnaps! Idee: okay. Alfredo Jaar, Chilene mit einem Jahr Berlin-Erfahrung, weltbekannt von Ausstellungen in Venedig oder auf der Kasseler Dokumenta, sieht nicht aus wie ein malender oder bildhauender Künstler, eher wie jemand Wichtiger aus der Administration. Dabei sei er ein Mann, der, seit Lepik denken kann, stets den Finger auf den „blind spot“ legt, den Bilden Fleck. Darauf, was einem entgeht. Was einen bedroht.

Alfredo Jaars Installation mag verstören. Kein Mensch wird, jedenfalls nicht von Lepik, erfahren, wer wo die Pässe druckte, ob was drinsteht oder ob sie leer sind. Aufnahmebereit für Stempel von Destinationen Fernreisender. So viel erklärt Jaar selbst eindringlich vor Presseleuten: Die Pässe stehen für eine Million Menschen, die während der Flüchtlingskrise vor fast genau acht Jahren nach Deutschland kamen. Als er selbst 1990 nach Berlin kam, erlebte er mit Staunen und mit Schrecken, wie türkische Frauen, Männer und Kinder von den Deutschen behandelt wurden: als Menschen zweiter Klasse. „Als sich dann die Mauer öffnete“, sagte er, „wurden die früheren DDR-Bürger  im Westen zu Bürgern zweiter Klasse. Und die Türken zu Bürgern dritter Klasse“. Europa, so Jaar mit Bitternis, wehre noch immer, die Menschen, die vor Krieg und Armut das Weite suchten und nach Deutschland fänden, ab.

Und dann? „Der Ukraine-Krieg. Da breitete Europa seine Arme aus, selbst Polen und Ungarn taten das. Da muss ich immer an die denken, die Europa zurückgewiesen hat.“ Wärme habe er damals gespürt, als Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: Wir schaffen das. „Da habe ich geweint vor Rührung. Die Pässe zeige ich, um auf den Hass aufmerksam zu machen, der den Flüchtenden entgegenschlug.“

Auch wenn die in die Rotunde Tretenden nicht oder nur teilweise die Absicht des Künstlers teilen: Vielleicht denken sie daran, dass es keineswegs  selbstverständlich ist, einen Reisepass oder einen Personalausweis zu besitzen. Als Freifahrtschein. Als Schatz, den man besitzt, um die eigenen Grenzen jederzeit zu überschreiten. Um in 127 Länder zu reisen – ja, das ist uns Deutschen mit einem solchen Papier möglich, Afghanen dagegen, so Jaar, stehe mit einem gültigen Pass in der Hand nur etwa ein Viertel davon offen. Die Rotunde-Säulen malte Jaar in den Farben Schwarz, Rot und Gold an. Sie rahmen seine ungewöhnliche Installation ein. Zu sehen, bei freiem Eintritt, bis 27. August, Dienstag bis Sonntag bis 18, Donnerstag bis 20 Uhr.

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Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.