Das auf politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen spezialisierte Marktforschungsinstitut GMS Dr. Jung GmbH hat für die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) im Auftrag der Stiftung I. und W. Tausend im Vorfeld der Bundestagswahl neben aktuellen Themen und Einstellungen vor allem auch grundsätzlichere und eher langfristigere Einstellungen und Verhaltensprädispositionen in Verbindung mit dem Wahlverhalten untersucht. Dazu gehören unter anderem die Selbsteinstufungen der Befragten in eine Wählertypologie, die Berechnung der weitesten Wählerkreise für die einzelnen Parteien, sowie die individuellen Entscheidungsprozesse im Hinblick auf die Wahlteilnahme und/oder die Wahlentscheidung. Weitere Themen waren in diesem Zusammenhang Verhaltensprädispositionen in Verbindung mit der Briefwahl sowie Koalitionspräferenzen in der Wählerschaft Bayerns. Ein zentrales Ergebnis der Umfrage ist, dass zum Zeitpunkt der Befragung im April/Mai der Themenkomplex Corona und die Folgen alle anderen Themen dominiert hat, obgleich das Thema Klimawandel wieder erkennbar an Bedeutung gewinnt.
„Der Themenbereich Klima/Umwelt/Energie, der noch in unserer Jugendstudie 2019 im Vordergrund stand, ist in der Relevanz deutlich zurückgegangen. Klassische bürgerliche Themen wie Innere Sicherheit und Migration haben an Relevanz verloren, sind aber aus der Agenda nicht verschwunden“, resümiert der Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung, Markus Ferber, MdEP und ergänzt, „dass selbst bei einem kurzfristigen Anstieg der Relevanz der Klima- und Umweltthematik bis zur Bundestagswahl die Bedeutung des Corona-Themas hoch bleiben wird und sich aktuell auch schnell wieder erhöhen kann!“ Die Flutkatastrophe in Teilen Deutschlands hat gezeigt wie rasch sich die politische Agenda verschiebt.
GMS-Studienleiter Dr. Helmut Jung betonte bei der Vorstellung der Umfrage: „Durch den raschen sozialen Wandel haben sich soziale Milieus und die damit einhergehende sozialstrukturelle Verankerung von Parteien weitgehend aufgelöst. Stammwähler von Parteien sind auch in Bayern nur noch eine Minorität und sie gehen darüber hinaus auch oft nur noch zu für sie wichtigen Wahlen.“
Wichtige Ergebnisse im Einzelnen (Bezug Seitenzahlen auf PDF-Fassung, s. Link):
Die weitesten Wählerkreise der Parteien (S. 38 Abb. 9)
Die Entwicklung der weitesten Wählerkreise für die Parteien in Bayern seit 2016 liefert Informationen über aktuelle Chancen und Risiken für die einzelnen Parteien und belegt zugleich, dass heute für die meisten Wähler mehrere Parteien grundsätzlich wählbar sind. Die CSU kann zwischenzeitlich erlittene Einbußen fast wieder wettmachen, ohne jedoch wieder ihre Spitzenwerte (73%) aus dem Jahr 2005 zu erreichen. Im Gegensatz dazu erlebten die Grünen einen kontinuierlichen Aufstieg, da ihr weitester Wählerkreis jetzt mit 60 % nahezu identisch ist mit den Werten der CSU (62%). Eine erhebliche, weitgehend kontinuierlich verlaufene Ausweitung ihrer weitesten Wählerkreise auf ca. die Hälfte der Wählerschaft konnten aber auch die Freien Wähler (50%) und die FDP (52%) erzielen. Eine deutliche Schrumpfung ihrer weitesten Wählerkreise mussten hingegen die SPD (33%), die AfD (28%) und Die Linke (20%) hinnehmen, ein Beleg dafür, dass diese drei Parteien aus verschiedenen Gründen bei etlichen Wahlberechtigten in Bayern zwischenzeitlich aus deren Relevant Set grundsätzlich wählbarer Parteien aussortiert wurden.
SPD, AfD und Die Linke mussten nicht nur Schrumpfungen ihrer weitesten Wählerkreise, sondern stark rückläufige Schnittmengen zu spezifischen Parteien hinnehmen, mit denen sie vor einigen Jahren noch größere Übereinstimmungen hatten. Neben den allgemeinen Einbußen der AfD fällt auf, dass die Grünen zunehmend stärkere Übereinstimmungen zu den sogenannten bürgerlichen Parteien zu besitzen scheinen und sich stärker von dem eher schrumpfenden, linken Lager aus Die Linke und SPD abgekoppelt haben.
Wahlteilnahme und Wählertypen (S. 47 Tab. 9 / S. 50 Abb. 15)
Weiterhin gibt knapp die Hälfte (46%) aller Wahlberechtigten in Bayern an, an fast allen (Bundestags-)Wahlen teilzunehmen, während drei von zehn Wahlberechtigten (30%) behaupten, sich nur bei wichtigen Wahlen zu beteiligen. Hinzu kommt etwa ein Fünftel (19%), bestehend aus dezidierten Nichtwählern (15%) und weiteren Personen (4%), die erst seit Kurzem wahlberechtigt sind und bisher noch nicht an Wahlen teilgenommen haben.
Von den etwa drei Viertel der Befragten, die bisher regelmäßig oder zumindest ab und zu gewählt hatten (76%), bezeichnet sich weniger als die Hälfte (45%) eher als typische Stammwähler, während sich genau die Hälfte (50%) als typische Wechselwähler einstuft. Bezogen auf die Gesamtheit aller Wahlberechtigten in Bayern wären das somit ca. ein Drittel Stammwähler und ca. 40 % Wechselwähler, während der Rest der Befragten als dezidierte Nicht- bzw. als bisherige Nicht- oder Erstwähler in keine der beiden Kategorien eingeordnet werden kann.
Da etwa ein Viertel der Wahlberechtigten (26%) nie oder immer gleich wählt, kann diese Personengruppe auch nicht über Entscheidungszeitpunkte berichten. Deutlich weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten berichtet sowohl bezüglich der Teilnahme als auch der gewählten Partei von einem längeren Entscheidungshorizont („längere Zeit vor der Wahl“ oder „in den letzten Wochen vor der Wahl“), während etwa ein gutes Drittel der Wahlberechtigten relativ kurzfristig über Wahlteilnahme und / oder die gewählte Partei entscheidet, davon etwa ein Fünftel „in den letzten Tagen vor der Wahl“ und mehr als jeder Zehnte (11%) sogar „erst am Wahltag“.
Einstellungen zur Briefwahl (S. 59 Abb. 18 / S. 60 Tab. 11 / S. 62 Abb. 19)
Der durch die Corona-Pandemie verstärkte Trend zur Briefwahl scheint ungebrochen und wird sich auch nach erfolgreicher Bekämpfung der Pandemie aller Wahrscheinlichkeit nahezu ungebremst fortsetzen.
Bei der kommenden Bundestagswahl wollen drei Viertel der Wahlberechtigten (75%) in Bayern die Möglichkeit zur Briefwahl „ganz bestimmt“ oder aber „sehr wahrscheinlich“ nutzen. Somit ist das Lager der Briefwahl-Gegner (22%) mit einem guten Fünftel der Wahlberechtigten inzwischen eindeutig in der Minderheit. Der Trend Pro Briefwahl hat sich durch die Corona-Pandemie verstärkt. Etwa sieben von zehn Wahlberechtigten (68%) haben die Briefwahl schon mindestens einmal, meist aber mehrmals oder sogar fast immer genutzt, während nur drei von zehn Personen bisher noch keine Briefwahl-Erfahrungen (30%) besitzen.
Die in der Umfrage erhobene Akzeptanz verschiedener Gründe für die Nutzung der Briefwahl-Möglichkeit ergibt: Der einzige, mit überwältigender Mehrheit (59%) akzeptierte Grund für die Nutzung der Briefwahl ist die Gewissheit, am Wahltag nicht ins Wahllokal gehen zu können. Weil die Briefwahl „bequem ist“, geben 22% als akzeptablen Grund an. Darüber hinaus wird es aber auch noch akzeptiert, wenn man sich nicht ganz sicher ist (11%), ob man am Wahltag ins Wahllokal gehen kann, und deshalb die Briefwahl beantragt.
Koalitionspräferenzen (S. 64 Abb. 20)
Unverkennbar erfreuen sich wenige Monate vor der anstehenden Bundestagswahl Zweier-Koalitionen weiterhin einer größeren Beliebtheit als Dreier-Koalitionen, weil man sich davon offensichtlich eine größere Stabilität verspricht. Die größte Zustimmung gibt es für Schwarz-Grün (54 %), gefolgt von einer Koalition aus Union und FDP (42 %). Die sogenannte Große Koalition (39%) erhält seltener Zuspruch. Erst danach folgen mit deutlich geringeren Zustimmungsquoten verschiedene Dreier-Koalitionen. Vergleichsweise am populärsten ist dabei derzeit ein Jamaica-Bündnis (29%) aus Union, FDP und Grünen, während eine Ampel (22%) aus SPD, Grünen und FDP und vor allem ein Rot-Rot-Grünes Bündnis (13%) nur sehr wenig Zustimmung findet.
Schlussfolgerungen
Gefördert durch die zwischenzeitlich in Fahrt gekommene Impfkampagne, hat sich die Anfang 2021 noch ausgesprochen pessimistische Grundstimmung in der Bevölkerung durch die jüngsten Erfolge bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie deutlich verbessert. Der inzwischen vorherrschende vorsichtige Optimismus hat fünf Monate vor der Bundestagswahl unverkennbar Bewegung in die politische Landschaft gebracht.
Wichtige, die Wähler bewegende Ereignisse und daraus abgeleitete vorrangige politische Sachthemen werden zwar auch noch über die Bundestagswahl hinaus stark von der Pandemie beeinflusst werden. Allerdings dürften die direkt die Pandemie und die damit verbundenen staatlichen Beschränkungen betreffenden Themen in den nächsten Wochen allmählich an Relevanz verlieren, während gleichzeitig Hilfsmaßnahmen wie etwa zur Belebung der Wirtschaft und zum Aufholen versäumter schulischer Bildung wichtiger werden dürften. Zudem werden Diskussionen über langfristigere Modernisierungsmaßnahmen (z. B. Digitalisierung der Schulen) in den Wahlkampf einfließen. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass vor der Pandemie bereits besonders relevante Themen wie zum Beispiel der Klimawandel bis zur Wahl wieder an Bedeutung gewinnen.
Wahlberechtigte werden sich in ihrem Entscheidungsprozess zunehmend vor allem mit der Frage beschäftigen, welchen Beitrag einzelne Politiker und Parteien zur Lösung der dringenden Zukunftsaufgaben in Deutschland leisten können.
Beim Wahlverhalten haben die abnehmenden Parteibindungen seit Längerem zu einer entsprechenden Abnahme der Stammwählerpotenziale geführt. Verschärft wurde diese Entwicklung dadurch, dass gleichzeitig immer mehr Wähler selbst bei einer konstanten Affinität zu einer bestimmten Partei nur noch an Wahlen teilnehmen, die für sie persönlich wegen eines Sachthemas oder anderer Motive wichtig sind.
Gerade bei erheblichen Überschneidungen in den Wählerpotenzialen der sogenannten bürgerlichen Parteien CSU, Freie Wähler, FDP und neuerdings sogar mit den Grünen kommt es in der Kommunikation mit den Wählern ganz entscheidend darauf an, sich einerseits von den Wettbewerbern klar abzugrenzen, andererseits aber auch keine Koalitionsoptionen zu verbauen.
Hinzu kommt, dass die Wähler ihre Entscheidung über die Wahlteilnahme und auch die zu wählende Partei zunehmend häufiger erst in den letzten Tagen vor der Wahl oder gar erst am Wahltag treffen. Diese Teilgruppe macht etwa ein Drittel der Wahlberechtigten aus.
Die immer größer werdende Gruppe der Briefwähler ist hingegen durch eine Schlussmobilisierung nicht mehr erreichbar, kann und muss aber noch rechtzeitig vor der Abgabe der Briefwahlstimmen durch eine spezielle Kampagne vor allem unter Mobilisierungsaspekten angesprochen werden.
Zumindest in Bayern ist die CSU wohl die derzeit noch einzig verbliebene Volkspartei, während die SPD diesen Status schon seit Längerem eingebüßt hat und es noch nicht ausgemacht ist, ob die in letzter Zeit besonders erstarkten Grünen den Status einer Volkspartei von der SPD erben können.
GMS hat insgesamt 2.169 Wahlberechtigte im Bundesland Bayern vom 6. April bis 7. Mai 2021 repräsentativ befragt. Die 90-seitige Studie „Politik und Parteiensystem in Bayern im Spannungsfeld von Corona und Bundestagswahl“ kann im Internetangebot der Hanns-Seidel-Stiftung unter
heruntergeladen werden.Link zur Druckfassung der Studie Politik und Parteiensystem