Häuserkampf der dritten Art

Orthodoxe Muslime und Islamisten unterteilen die Welt in drei „Häuser“. Das „Haus des Friedens“ (dar al salam) ist das Gebiet unter islamischer Herrschaft, das „Haus des Krieges“ (dar al harb), umfasst die von Nicht-Muslimen beherrschten Räume. Für die übrige Welt gilt die Formel dar al sulch, das Haus des Waffenstillstandes. Diesem Haus gilt höchstes Interesse. Es ist überall da, wo Muslime leben, aber nicht herrschen, in Afrika, in Europa, gerade in Westeuropa, auch in Asien. Dort wird investiert in Moscheen, in Koranschulen, in Publikationen – und in Waffen. In diesem Haus des Waffenstillstands soll man losschlagen, wenn die Zeit reif ist für die Sure 47: „Wenn ihr den Ungläubigen begegnet, schlagt ihnen das Haupt herunter und richtet unter ihnen ein großes Gemetzel an.“ Genau das ist am 11. September 2001 in Amerika geschehen oder am 7. Juli 2005 in London oder am 11. März 2004 in Madrid. Und nun am 13. November in Paris. Der Waffenstillstand ist beendet. Europa gehört zum dar al harb, zum „Haus des Krieges“.
Wo stehen die Muslime in Frankreich in diesem Krieg? Die größten Moscheen haben sich wie schon nach den mörderischen Anschlägen auf Charlie Hebdo von den jüngsten Massenmorden distanziert. Der in der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy gegründete Französische Rat Muslimischen Kults (CFCM) zeigt sich sogar darüber hinaus kooperationsbereit. Im Januar fühlte man sich noch als Opfer, als Gemeinschaft, auf die man mit dem Finger zeigte. Jetzt wurde ein Text für alle angeschlossenen Moscheen erarbeitet und der Präsident des CFCM, Anouar Kbibech, will auch die Ausbildung der Imame reformieren. Ein Lehr-Zertifikat soll eine tolerante und offene Lehre des Islam garantieren.
Das ist in der Tat dringend nötig. Von den rund zweitausend Imamen in Frankreich sind etwa vierhundert Franzosen. Die anderen sind entweder Wanderprediger aus Nordafrika oder vom Golf und aus dem Nahen Osten „importiert“. Sie werden von der jeweiligen Gemeinde in Frankreich „gerufen“ – je nach theologischer Ausrichtung der Gemeinde – oder von Regierungen in Algerien, Marokko, Katar, Saudi-Arabien und der Türkei entsandt. Das sind auch die Länder, die den größten Einfluss auf den Islam in Frankreich haben und die Expansion des Islam in Europa in seiner sunnitischen Version finanzieren. Etwa vier von fünf Imamen sind also nicht in Frankreich sozialisiert, sondern in Ländern und Gesellschaften, in denen der Islam offiziell Staatsreligion ist und die Scharia angewandt wird. Einzige Ausnahme ist die Türkei, wo allerdings der Islam in seiner orthodoxen Version unter „Sultan“ Erdogan eine Renaissance erlebt. In allen diesen Ländern werden nichtmuslimische Minderheiten verfolgt oder bedrängt und auf Abfall vom Islam und Beleidigung des „Propheten“ steht nicht selten die Todesstrafe. Die importierten Imame sprechen kaum oder gar nicht französisch, sie predigen in Arabisch oder werden übersetzt. Von Land und Leuten in Frankreich haben sie oft keine Ahnung. Die gebildeteren Imame haben islamische Universitäten in Saudi-Arabien, Ägypten, früher auch im Irak und in Syrien besucht, wo der westliche Lebensstil verachtet wird. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der großen Mehrheit der 2500 Moscheen und Kultstätten des Islam in Frankreich ein orthodoxer Islam mit entsprechender Lebensweise gepredigt wird (keine gemischten Ehen oder nur wenn der Nicht-Muslim zum Islam konvertiert; bei öffentlichen Events strikte Trennung von Mann und Frau, kein Schweinefleisch essen, keine westliche Musik hören und so weiter).
In Frankreich selbst gibt es nur drei Imam-Schulen: Die Schule der großen Moschee in Paris steht unter Kontrolle algerischer Imame, die Schule in Nièvre wird von den Muslimbrüdern kontrolliert, die auch bei ihrem Ableger in Saint Denis in Paris darauf achten, dass ein radikaler Islam gelehrt wird. Die dritte Ausbildungsstätte wird von der Türkei in Strasbourg finanziert. In keiner dieser Schulen, so die Autorin des Buches „Islam – l’épreuve francaise“ (Islam – Herausforderung für Frankreich), Elisabeth Schemla, lege man Wert auf den französischen Kontext, auf französisches Denken, Fühlen und Sinnen. Das aber müsste sich ändern, wenn man es ernst meint mit dem Lehr-Zertifikat für Imame in Frankreich. Über Schulen, Herkunft und Curriculae muss verhandelt werden. Der Staat versteht sich als laizistisch und verlangt entsprechende Toleranz. Dazu sind die meisten Muslime in Frankreich auch bereit. Als gewaltbereit zählt man etwa fünfzigtausend, zehntausend davon sind aktenkundig. Die Zahl der Muslime in Frankreich wird auf sieben Millionen geschätzt. Davon gelten zehn bis fünfzehn Prozent als praktizierende Gläubige, die für ihr Gebet auch täglich in die Moschee gehen. Am Tag des Gebetes, dem Freitag, sind es wesentlich mehr. Zuverlässige Daten gibt es jedoch nicht, die Religion wird im Pass oder Personalausweis nicht angegeben, anders als bei den Christen, die bei der Taufe registriert werden, gibt es auch keine Taufe, mithin kein religiöses Familienbuch.
Seit einigen Jahren nun ist eine offensive und fast aggressive Verkündigung und Propaganda außerhalb der Moscheen zu beobachten. Sie richtet sich überwiegend an junge Leute und nutzt dafür vor allem Twitter und Facebook. Hier sind die Predigten und Unterweisungen deutlich radikaler. Die Vergewaltigung von nicht-muslimischen Frauen (als Kriegsbeute) wird gerechtfertigt, minutiös wird erklärt, wie man eine Bombe bastelt oder eine Autobahn blockiert. Allen voran ist die Terror-Organisation Islamischer Staat im Internet unterwegs. Die Behörden sprechen von einem aggressiven Cyber-Dschihad. Über ihn werden Jugendliche verführt und für den Krieg in Syrien rekrutiert.
Das ist im Kontext zu sehen. Bei der französischen Jugend beschleunigt sich ganz allgemein eine geistliche Polarisierung. Nach Daten des größten Demoskopie-Instituts des Landes (Insee) über die religiöse Praxis der Franzosen sind es unter den jungen Franzosen (15 bis 25 Jahre) vierzig Prozent. Bei den 25- bis 39-jährigen auch überdurchschnittlich viele, nämlich 35 Prozent, denen jede Religion fremd ist und die jeder Religion gegenüber auch fremd bleiben wollen. Dagegen steigt auch die Zahl derjenigen, die sich zur regelmäßigen Ausübung ihrer Religion bekennen. Vor gut zwölf Jahren waren es dreizehn Prozent, heute sind es siebzehn Prozent. Das soziale Milieu spielt keine Rolle, diese Zahlen gelten durchweg für nahezu alle sozialen Schichten. Dagegen ist es für die Glaubenspraxis junger Menschen von erheblicher Bedeutung, ob die Eltern praktizierende Gläubige sind/waren oder nicht. 42 Prozent der jungen, praktizierenden Gläubigen erklären, dass ihre Eltern ebenfalls praktizierten und dieses Beispiel sie geprägt habe. Das gelte vor allem für den Vater. In den patriarchalisch geprägten islamischen Familien ist Glaubenspraxis mehr als Gewohnheit. Die Dekadenz westlicher Lebensformen und Gesellschaften führt auch in Frankreich zu einer stärkeren Absonderung und Ghettoisierung in den Banlieus. Hier ist das Feld, auf dem die Saat der radikalen Cyber-Dschihadisten besonders üppig aufgeht und blüht. Soziale und ethnische Umstände sind wie Dünger auf dem Feld.
In diesen Stadtteilen sind natürlich überdurchschnittlich viele Kopftücher und Verschleierungen bis hin zu Burkas zu sehen. Das Burka-Verbot in Frankreich betrifft nach Schätzungen des Innenministeriums in Paris zwar nur ein paar tausend Frauen – eine verschwindende Minderheit. Man sieht in der Tat außerhalb der Banlieus in den Straßen von Paris auch nur selten ganzkörperverhüllte Personen, in den Straßen von Marseille dafür schon öfter. Es geht bei dieser Debatte aber auch nicht mehr um Religion. Mehr als zwei Drittel der Franzosen sind für ein striktes Burka-Verbot im öffentlichen Raum, man sieht in der Burka einen Gradmesser für die Integrationswilligkeit von muslimischen Einwanderern. Die Burka ist, ähnlich wie das in Frankreich seit 2003 verbotene Kopftuch, kein religiöses Gebot. Ein Verbot widerspräche also nicht der Religionsfreiheit. Man kann diese Kleidungsstücke aber durchaus als politische Demonstration betrachten. Denn der Islam ist eminent politisch und daraus resultiert das Unbehagen der Franzosen. Eine politische Religion stellt den Primat des Staats infrage. Vielfach schlägt dieses Unbehagen um in Angst, vor allem unter den Juden. Tausende französischer Juden tragen sich mit dem Gedanken, nach Israel auszuwandern. Sie zweifeln an ihrer Sicherheit. In diesem Jahr (2015) wanderten fünfzehntausend Juden aus Frankreich nach Israel aus, mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr und vier Mal so viel wie 2013. Das entspricht auch dem Anstieg der antisemitischen Anschläge und Übergriffe. Niemand zweifelt mehr daran: Die aggressive Propaganda der Salafisten und des IS ist die Hauptursache für den wachsenden Antisemitismus in Frankreich und Europa.
Selbst wenn man der Meinung der überwiegend linksliberalen Medien in Frankreich und dem Ausland zuneigt und ähnlich wie Premierminister Valls und Präsident Hollande davon ausgeht, dass Armut und Arbeitslosigkeit die treibenden Kräfte der anhaltenden Gewalt in Banlieus und gegen Juden seien, so bleibt doch das Faktum, dass die meisten Jugendlichen, die die Gewalt ausüben, sich ausdrücklich auf den Islam berufen, dass ihr Schlachtruf Allahu Akbar ist und dass ihre Vorbilder und Helden Islamisten oder radikale Prediger in den Vorstädten sind.
Die Geopolitik der drei Häuser gilt für Europa nicht mehr. Frankreich und auch Deutschland stehen im Krieg gegen den Islamismus. Hier erwarten die Franzosen Taten, nicht nur in Syrien. Zum Beispiel Razzien in den Banlieus oder mehr Kooperation der islamischen Verbände. Es wird ein Häuserkampf der dritten Art. Mit Sozialmaßnahmen – Hausbau, Betreuung, staatlich geförderten Arbeitsstellen – wird man das Problem nicht in den Griff bekommen. Hier geht es um das, was man in Deutschland zaghaft hin und wieder als „Leitkulturdebatte“ bezeichnet. Das ist in einem geschichtsbewussten Land wie Frankreich, wo fast jeder Schüler mit dem Namen Charles Martel und dem Datum 732 bei Tours und Poitiers etwas anzufangen weiß, in vollem Gang.
Quelle:

VATICAN-magazin 12/2015

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