Günter Schabowski: Zwieback im Politbüro, Die profitfreie Planwirtschaft

Wenn Bürger gegen die eigene Regierung aufbegehren, so hat es im Vorfeld meist ernste wirtschaftliche Probleme gegeben. Wussten Sie 1989, wie schlecht es um die Wirtschaft der DDR bestellt war?

Wie prekär die Lage war, erfuhren wir erst nach der Abset­zung Honeckers. Der Planungschef Gerhard Schürer teilte im Politbüro mit, dass die DDR im Frühjahr 1990 zahlungs­unfähig sein würde, weil sie die Zinsen für die ausländischen Kredite nicht mehr begleichen konnte. Bis dahin war dieser heikle Umstand nur Thema zwischen Schürer und dem Ge­neralsekretär gewesen.
Sechs Jahre zuvor hatte die Bundesrepublik auf Drängen von Franz Josef Strauß für einen Zwei-Milliarden-DM-Kre­dit der Bayerischen Landesbank für die DDR gebürgt. Ge­stützt auf die Bundesbürgschaft konnte der Außenhandels­bankchef der DDR bei ausländischen Banken unter Hinweis auf die von Bonn verbürgte Bonität wieder neue Kredite ein­sammeln. 1989 betrug die Bruttoauslandsverschuldung der DDR nahezu 50 Milliarden Valutamark. Die Valutaeinnah­men, also die Einnahmen von Westwährung durch Exporte, lagen niedriger als die Zinsbelastungen im Westen. Damit wären sowohl wichtige Importe von Rohstoffen und Halb­fabrikaten als auch Konsumgütern wie Apfelsinen und Bana­nen oder notwendigen Medikamenten nicht mehr gesichert gewesen. Ein Schuldenerlass oder ein Aufschub der Rück­zahlung hätte dann zur Machteinschränkung und früher oder später gleichfalls zum Machtverlust der SED geführt.

Warum hat die DDR keine Gewinne erwirtschaftet wie Chi­na heute?

In einem Satz: Weil wir nicht so gewieft waren und den Ka­pitalisten wieder die Wirtschaft überlassen haben. Auch der chinesische Sozialismus hat wirtschaftlich so wenig reüssiert wie der in der DDR. Deshalb zog die chinesische Partei den Schluss, besser wieder die wirtschaften zu lassen, die davon mehr verstehen. Die Diktatur der Partei über China bleibt na­türlich bestehen. Sie und der Staat finanzieren sich heute nur anders, nämlich durch die Steuern und Abgaben, mit denen die sprießenden Profite der kapitalistischen Unternehmen belegt werden. Von den Summen, die in die Taschen bestechlicher und treuer Parteifunktionäre fließen, ganz zu schweigen. Die Ineffizienz der DDR-Wirtschaft beruhte auf der totalen Ent­eignung und Verstaatlichung der Unternehmen – damit wurde die Regulierung über Märkte durch eine Planwirtschaftsbüro­kratie ersetzt. 50 000 Schreibtische konnten nicht die Intel­ligenz, Initiative und Risikobereitschaft von Unternehmern und die Impulse einer Marktwirtschaft ersetzen. Die Diktatur der Partei mit ihrem Primat der Politik über die Ökonomie führte dazu, dass taktische Momente und Parteibeschlüsse über die ökonomische Vernunft obsiegten. Dazu trug we­sentlich das schon erwähnte sozialpolitische Programm bei, mit dem sich Honecker nach seinem Machtantritt von sei­nem Vorgänger Ulbricht positiv unterscheiden wollte. Dies, so hoffte er, würde sich in mehr Leistungsbereitschaft und volkswirtschaftlich in höhere Produktivität umsetzen. Aber der Effekt trat nicht ein. Stattdessen nahm die Verschuldung zu, mit der die bescheidenen sozialpolitischen Verbesserungen finanziert werden mussten. Die Partei schien nach der Devise zu verfahren: Auf Schulden reitet das Genie zum Erfolg.

Das kommt einem bekannt vor, wenn man gegenwärtig in die USA schaut.

Immerhin wird es aufgedeckt. Bei unserem politischen Leben auf Pump spielte unausgesprochen auch eine Rolle, dass wir Kommunisten daran glaubten, durch westliche Kredite Ka­pitalisten für unsere Errungenschaften zu schröpfen. Früher oder später würde die Revolution auch über sie hereinbre­chen, und damit wären dann alle Schulden auf einen Schlag getilgt. Die ökonomische Schwäche der DDR wurzelte also in der verfassungsgemäßen Führungsrolle der SED – und wohl auch in diesem Kinderglauben.

Wie wirkte das sozialistische Korsett auf die Wirtschaft?

Die DDR-Wirtschaft konnte nur durch Exporte ins westliche Ausland überleben. Doch Rohstoffmangel, Innovations­schwäche und Schwerfälligkeit der Planwirtschaft führten dazu, dass über den Außenhandel stets ein kleineres Ergebnis erbracht wurde, als notwendig gewesen wäre. Die Gewinne der Betriebe zu zentralisieren war die Regel. Jegliches erwirt­schaftetes Plus floss auf das zentrale Staatskonto. Die Plan­kommission entschied dann auf Geheiß der Partei, wie viel welchem Betrieb im folgenden Jahr zugestanden wurde, da­mit dieser seine Planziele erfüllen konnte. Demnach musste ein erfolgreicher Betrieb die von ihm erwirtschafteten Valu­tabeträge zum größten Teil an unprofitablere Betriebe ab­führen, deren Erzeugnisse aus politischen oder strategischen Gründen Vorrang hatten.
Zudem musste jede Neuentwicklung oder Erfindung von der Plankommission als nützlich oder ertragbringend be­stätigt werden. Daran gebunden war die Genehmigung von Mitteln oder gar von partiellen Rohstoffimporten aus dem Westen. Dieses Procedere erforderte viel Zeit, und bis die Genehmigungen vorlagen, beherrschten längst schon west­liche Innovationen den Weltmarkt. So fehlten zunehmend die Mittel, die zu einer Steigerung der Produktivität nötig gewesen wären. Damit wurde die Absicherung der Sozial­politik immer schwieriger. Infolgedessen mussten immer mehr Kredite aufgenommen werden.
Die Ölpreisexplosion und Kreditboykotte vergrößerten die Schwierigkeiten. Probleme wurden »operativ«, also von Fall zu Fall, bewältigt. Man riss Löcher auf, um andere Löcher zu stopfen. In unseren Plänen klafften von Jahr zu Jahr größere Bilanzlücken, die von den Produzenten ausgeglichen werden mussten. Der Plan sah folglich zum Jahresbeginn hohe Stei­gerungsraten vor – das machte sich gut für die Öffentlichkeit. Seitenlang wurden alljährlich in den Zeitungen die Planziele ausgebreitet. Im Laufe des ersten Quartals wurde der Plan jedoch »präzisiert«, also an die unzureichenden Material­zulieferungen und an die mangelhafte Grundfondsausstat­tung angepasst und damit heruntergefahren. Davon erfuhr die Öffentlichkeit jedoch nichts. Am Jahresende gab es dann erfüllte und übererfüllte Pläne, ohne dass ein wesentliches Wachstum gegenüber dem Vorjahr erzielt worden wäre.

Wie erlebten Sie als Funktionär den wirtschaftlichen Alltag in der DDR?

Hinter der monolithischen Fassade des SED-Politbüros wur­den auch Intrigen gesponnen. Zur Pflicht der Ersten Bezirks­sekretäre, also auch zu meiner Pflicht, gehörte es, dem Ge­neralsekretär jeden Monat die Wirtschaftslage zu schildern. Wir hatten in Berlin wiederholt in unseren Berichten auf brüchige Zulieferketten hingewiesen, die den Berliner Be­trieben die Planerfüllung erschwerten. Das Politbüromitglied Günter Mittag, Honeckers Vertrauter und Kommandeur der volkseigenen Wirtschaft, witterte darin einen Angriff auf seine Kompetenz. Er revanchierte sich in einer Politbürosit­zung und machte Berlin für die mangelhafte Versorgung der Bezirke mit Zwieback verantwortlich. Berlin verfüge doch über die modernste Fertigungsstraße für Zwieback, meinte er, aber bringe nicht genügend Leistung. Da sei Schlamperei im Spiel. Mit anderen Worten: Die Bezirksparteileitung habe sich nicht darum gekümmert.
Doch ich hatte aus Mittags Apparat vorab von seiner be­absichtigten Attacke Wind bekommen und war gewappnet. Ich sagte, dass die zitierte »modernste Fertigungsstraße« ein DDR-Eigenbau sei, der vom ersten Tag an seinen Widerwil­len gegen Zwieback offenbart habe. Die Maschine sei weder imstande, den Teig angemessen zu rösten, noch die Produk­te einwandfrei zu verpacken. Die Kollegen hätten sich un­ablässig bemüht, das Ding zu reparieren, aber ohne Erfolg. Honecker blickte fragend zu Mittag. Die Fakten waren so überzeugend, dass Mittag und Regierungschef Stoph den Auftrag erhielten, einschlägige Technik aus dem »KA«, dem kapitalistischen Ausland, zu beschaffen. Ob es dazu dann noch gekommen ist, weiß ich nicht. Aber ich war um die Erfahrung reicher, dass auch im Zwieback politische Brisanz stecken konnte – zumindest in der DDR. Dieser Vorgang aus dem Politbüro illustriert die Absurdität einer Volkswirt­schaft unter dem Diktat einer Partei. Ein Staatschef muss über die Zwiebackproduktion der Hauptstadt entscheiden. Das Politbüro muss die Beschaffung der Technik veranlas­sen. Dadurch entsteht ein doppeltes Versorgungsdefizit: Der Betrieb kann sich die notwendige Technik nicht beschaffen, die Bürger bleiben ohne Zwieback. So sahen sie aus, die kümmerlichen Früchte einer enteigneten und dann verstaat­lichten Wirtschaft.

Sie haben sich als Berliner Parteisekretär ständig mit der un­zureichenden Planerfüllung befassen müssen. Bekamen Sie bei Ihren Betriebsbesuchen den Ärger der Kollegen zu spü­ren, oder wurden Sie abgeschirmt?

Ja, natürlich traf mich der Ärger. Aber ich wollte mich nicht abschirmen lassen. Ging ich in einen Betrieb, und das war nahezu täglich der Fall, ließ ich deshalb deklamatorische Großveranstaltungen mit geschönten Rechenschaftsberich­ten nicht mehr zu. In kleineren Diskussionsrunden erzielte ich Zustimmung in den Betriebsabteilungen, wenn ich sagte: »Halten wir uns nicht mit Sprüchen auf. Sagt, wo es hapert. Wir, die Bezirksleitung, wollen versuchen zu helfen. Wenn wir von zehn eurer Probleme nur drei oder vier bewältigen, hat es sich für beide Seiten schon gelohnt.« Im Ergebnis der Debatte wurde ein Protokoll über die einzuleitenden Schritte verfasst. Meist ging es um bessere Arbeitsorganisation, ver­sackte Zulieferungen oder um Plankorrekturen. Die Me­thode fand Anklang. Ich lud stets den zuständigen Minister zu solchen Zusammenkünften mit ein. Er verpflichtete sich, Zulieferungen zu besorgen, die den jeweiligen Betrieb in die Lage versetzen sollten, den Plan zu erfüllen. Die Kollegen meinten, sie bekämen Hilfe statt Besserwisserei oder Phra­sengeknatter. Und ich wiegte mich in der Illusion, einen opti­malen Arbeitsstil gefunden zu haben.

Illusion? Es hat also nichts gebracht?

Einige Tage später erreichten mich erregte Anrufe von Be­zirkssekretären aus Cottbus oder aus Dresden, dass ihren Be­trieben Mittel entzogen und nach Berlin umgelenkt worden seien. Der Minister hatte so entschieden, weil ich als Berliner Sekretär und Politbüromitglied für ihn mehr Gewicht hatte als ein SED-Bezirkssekretär, der nur ZK-Mitglied war. Die Praxis verriet die Misere des Systems. Die Betriebe funk­tionierten in den wenigsten Fällen von alleine. Die meisten bedurften ständig der Hilfe, die wir, die Partei, unzulänglich genug zu leisten versuchten.

Nach einem Dreivierteljahrhundert des Experimentierens sind die sozialistischen Volkswirtschaften in sich zusammen­gefallen. Wie kam es dazu? Manche Ihrer Genossen sind noch heute überzeugt, dass dies nur eine kurzfristige Schwäche war, die mit dem Ölpreis und der Hochrüstung zu tun hatte.

Es war die unabwendbare Folge ihrer Lebensuntauglich­keit. Die sozialistischen Volkswirtschaften waren dem Wirt­schaftssystem unterlegen, das sie herausgefordert hatten. Ein kommunistischer Glaubenssatz von Lenin lautet: Die höhere Arbeitsproduktivität entscheidet in letzter Instanz über den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Damit war dem System schon früh das Ende prophezeit. Es hat den eigenen Kriterien nicht standgehalten. Die Ineffizienz der sozialistischen Volks­wirtschaften ist keine temporäre oder nationale Erscheinung, die durch spezifische Ursachen – wie technologische Rück­ständigkeit, Bildungsdefizite und Erfahrungsmangel, ad­ministrative Inkompetenz und andere Faktoren – zu erklären wäre.

Aber man darf das niedrige wirtschaftliche Niveau des Os­tens als Ausgangsniveau nicht vergessen. Der Westen und der Osten hatten nicht die gleichen Startbedingungen.

Das niedrige wirtschaftliche Ausgangsniveau, das entgegen der Marx'schen Annahmen die sozialistische Umwälzung in einer Reihe von Ländern begleitet hatte, sprach eine Zeit lang scheinbar sogar für die Kommunisten. Die Bewirtschaf­tung und Verteilung des Mangels ist mit Kommandostruk­turen besser zu bewerkstelligen als durch Selbstregulation. Eine Exekutive, deren Macht nicht durch Gewaltenteilung reguliert ist, kann sogar Spitzenleistungen hervorbringen, indem sie die begrenzten gesellschaftlichen Mittel rück­sichtslos auf ein Ziel wie beispielsweise die Entwicklung des Sputniks konzentriert. Es waren ja die Sowjets, denen es noch vor den Amerikanern gelungen ist, im Oktober 1957 den ersten künstlichen Erdsatelliten in eine Umlaufbahn zu schießen. Selbst ein eingefleischter Schöngeist wird nicht in Abrede stellen können, dass profane Ökonomie die wichtigs te Lebensgrundlage jeder Gesellschaft ist. Banal scheint auch die Feststellung, dass die Produktion nur dann sinnvoll ist, wenn damit ein Plus erzielt, wenn also mehr erwirtschaftet wird, als an Kosten für Material und Arbeitskraft hineinge­steckt wurde. Auch die kommunistische Zukunftsvision, in der Ökologie aus historisch begrenzter Einsicht keine Rolle spielte, baute auf Wachstum.

Können Sie noch einmal kurz die wirtschaftliche Hoffnung umreißen, die Marx in die Welt gesetzt hat?

Die Annahme von Marx besagt in groben Zügen: Der private Besitz an den wichtigsten Gütern und an den Produktions­mitteln macht deren Eigentümer zur einflussreichsten oder gar herrschenden gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse. Sie wird durch ihre Dominanz permanent die ihr gemäßen Ver­hältnisse sichern und die ökonomisch abhängige Mehrheit ausbeuten. Auch der gesellschaftliche Überbau richtet sich nach den Interessen der ökonomischen Klasse. Alle Übel dieser Welt, ihre Krisen und Kriege, ihr Elend und ihr Ver­brechen entstammen der einen Büchse der Pandora mit dem Etikett »Privateigentum«.
In dem Maße, in dem die Produktion arbeitsteiliger würde und die Erträge steigen würden, verschärfe sich zwangsläu­fig der Widerspruch zwischen der besitzlosen arbeitenden Mehrheit und dem Kapital. Das führe letztlich zur sozialen Revolution. Erst wenn die besitzlose Mehrheit die Min­derheit der Eigentümer enteignet und die Produktionsmittel vergesellschaftet, wird allen negativen Einflüssen des Privat­eigentums ein Ende gesetzt sein. Die »Expropriation der Ex­propriateure« schafft gesellschaftliche Vernunft. Die wirt­schaftlichen Möglichkeiten können fortan zum Nutzen aller planmäßig eingesetzt, ihre Erträge in Harmonie zwischen Akkumulation und Konsum verwendet werden.
Im Unterschied zu den wolkigen Träumen von einer bes­seren Welt, wie sie etwa Thomas Morus oder Rousseau hattten, setzte Marx die gesellschaftliche Veränderung im ver­achteten Milieu der Warenproduzenten an. Der Marxismus hat konkret die Mängel benannt, die in den Eigentumsverhältnissen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft oder in ihren Warenbeziehungen steckten. Aber Marx wie Lenin verstießen gegen ihre eigene dialektische Räson, indem sie jede Möglichkeit zur Veränderung der von ihnen entschlüs­selten und zugleich dämonisierten Eigentumsverhältnisse leugneten. Sie konnten die enorme technische Entwicklung nicht voraussehen. Sie sahen in der Demokratie keinen ei­genständigen politischen und sozialen Wert – auch nicht zur Kontrolle der Wirtschaft. Sie werteten Demokratie ab als Mittel der Verschleierung der wahren Machtverhältnisse zum Nutzen der unumschränkten Macht des Kapitals. Im Kommunistischen Manifest verkündet Marx die Vision eines neuen Arkadien, das Reich des homo ludens, bevölkert von materiell sorgenfreien, denkenden und dichtenden Individu­en, die einander solidarisch zugetan sind. Nach jahrzehnte­langem globalem Experiment ist heute offenkundiger denn je, dass die Vergesellschaftung des wirtschaftlichen Besitzes kein Allheilmittel ist.

Aber, was war dann im Kern der Denkfehler?

Die Vokabel »Vergesellschaftung« macht dies deutlich. Mit diesem Begriff geriet Marx in eine Reihe mit den frühen Uto­pisten, die er als unwissenschaftliche Schwärmer abgetan hatte. Zwangsläufig stellte sich die Frage, wer den vergesell­schafteten Wirtschaftsorganismus führen sollte, wer also das permanente Reproduktionsbedürfnis, das zudem unablässig wachsen würde, gewährleisten sollte. Aber genau das war nicht definiert. An die Stelle der vielen marktnahen, mitein­ander konkurrierenden Autoritäten trat nach der Revolution, nach der Enteignung, das Superunternehmen sozialistischer Staat. Im Gegensatz zur Marx'schen Voraussage zeigte der sozialistische Staat keine Neigung zum Absterben, sondern wuchs sich zu einem bürokratischen Golem aus. Vergesell­schaftung im Sinne wirklicher gesellschaftlicher Kontrolle der Produktionsmittel fand nicht statt, weil die Partei, ge­nauer das Politbüro, sich Gesellschaft genug dünkte. So geriet mit der »Vergesellschaftung« eine ungleich extremere Art von Subjektivismus ans Steuer der Wirtschaft als in der »alten« Gesellschaft. Und so konnte schließlich ein Mann wie Günter Mittag durch die ihm eingeräumte Machtfülle weitgehend alleine über Wohl und Wehe der Volkswirtschaft der DDR befinden.

Wie sah diese Vergesellschaftung dann im Alltag tatsächlich aus?

Das organische Regulierungs- und Stimulierungsmedium Markt wurde durch zentrale Planung und Leitung der Wirt­schaft ersetzt. Die Planwirtschaft sollte von nun an verlust­frei den Bedarf vorausahnen und durch Prämiensysteme den Markt überflüssig machen. Der Bankrott wurde abgeschafft. Die Zentrale glich die Gewinne und Verluste der Hersteller aus und hielt damit das Leistungsniveau der Wirtschaft ins­gesamt niedrig. Die neuen Regulatoren der Volkswirtschaft konnten sich auf kein Vorbild, auf keinen praktischen Beleg stützen. Sie nahmen die Marx'sche Hypothese als gesicherte Erkenntnis. Schließlich war sie ihr wissenschaftlich begrün­deter Anspruch darauf, dass sie die Macht übernehmen wür­den. Aus derselben intellektuellen Anmaßung heraus wurde die Hypothese auch nie auf ihren Realitätsgehalt überprüft. Damit hätten sich die Machthaber nur selbst in Frage gestellt. Stattdessen gingen sie entschlossen ans Werk, die Bedürfnisse und ihre Befriedigung vom Zentrum aus zu regulieren.

Was aber, wie sich schnell herausstellte, nicht funktionierte. Was hatten Sie gegen die Selbstregulierungskräfte des Marktes?

Die Geringschätzung des Marktes hat ihre Wurzeln in der für den Sozialismus charakteristischen niedrigen Veranschla­gung der Rolle des Individuums. Marxistische Theoretiker sahen im Markt mit seinen vielen Angeboten eine völlig überflüssige Vielfalt. Dadurch würden Ressourcen nur un­nötig vergeudet. Und die Praktiker stimmten ihnen hinterher zu, wenn auch aus einem anderen Grund: Die sozialistische Wirtschaft konnte nicht mit dem freien Markt konkurrieren. Es blieb ihnen daher nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen. Beide, Theoretiker und Praktiker, nährten die Hoffnung, dass die Gleichheit in der entwickel­ten sozialistischen Zukunftsgesellschaft die Interessen und den Geschmack der Menge nivellieren würde. Für Mode zum Beispiel, also für Erzeugnisse, die aus nicht planbarer Kreativität sprießen, bleibt in den endlichen, marktlosen Ge­filden des Sozialismus kein Platz. Schöne Aussichten!
Ein weiteres Manko der Vergesellschaftung besteht darin, dass kaum Mechanismen zur Korrektur von Fehlern aus­gebildet wurden. Rückkopplungen waren bestenfalls schwach ausgeprägt. Die von der Partei gesetzten Richtlinien wurden nicht hinterfragt. Die Unfähigkeit zur Selbstkorrektur war ein tödlicher Systemfehler, eine zwangsläufige Folge des plu­ralistischen und demokratischen Defizits. Bei dem mühseligen Versuch, sich den Leistungen westlicher Industriegesellschaf­ten anzunähern, entstand zwar auch in den sozialistischen Ländern eine Eigendynamik. Sie kollidierte jedoch sofort mit dem statischen Charakter des Systems. Jeder wirtschaftliche Fortschritt machte somit letztlich die zentralistische Trägheit augenfälliger.

Konnte die Perestroika etwas an diesen Mängeln ändern?

Perestroika war der in sich widersinnige Versuch, die system­immanenten Fehler des Sozialismus zu beheben, ohne den Sozialismus abzuschaffen. Deswegen hat die »Erneuerung« oder »Umgestaltung« die negativen Folgen der Vergesellschaftung auch nicht beseitigen können. Der Sozialismus hatte das Risiko des einzelnen Produzenten oder einer Pro­duzentengruppe auf die Gesellschaft verlagert. Nun musste die Zentrale die Defizite der Perestroika abdecken. Der Her­steller hatte mehr Eigenständigkeit, aber haftete nicht für sei­ne Fehler. Das Risiko übernahm weiterhin die Zentrale, die gleichzeitig eine überdimensionierte Sozialpolitik finanzieren musste. Sie geriet immer tiefer in die Schuldenfalle. Im End­effekt betrieb sie auf diese Weise ihren eigenen Ruin.
Alles mündete zwangsläufig in mehr Mangelwirtschaft und erbrachte infolge bürokratischer Schwerfälligkeit, unzurei­chender Innovationskraft und verbreiteter Unrentabilität der Betriebe stets weniger Waren und Devisen, als Bevölkerung und Wirtschaft benötigten. Auch in Zeiten der Perestroika. Die zu schmalen Fonds wurden »schwerpunktmäßig« ein­gesetzt, was zu wechselnden partiellen Versorgungslücken führte, mit teilweise entwürdigenden Konsequenzen für den Normalverbraucher. Mal gab es in einigen Teilen der Repu­blik keine Schlüpfer, mal keine Glühbirnen oder kein Toilet­tenpapier. Ein anderes Mal beklagten sich Zahnärzte bei der Bezirksleitung der SED, dass sie keine Kunststoffhandschuhe hatten, um ihre Patienten hygienisch einwandfrei behandeln zu können.
Als Fazit bleibt: Die Vergesellschaftung der Produktions­mittel als Gegenentwurf zur Marktwirtschaft hat nie zu einer Gesellschaft geführt, die mängelfrei oder weniger mangelhaft als die zu überwindende gewesen wäre. An die Stelle des Gegensatzes von Arm und Reich setzte sie den Widerspruch zwischen offiziellem und inoffiziellem Leben, zwischen der Nomenklatur und der Masse der Bürger.

Welche Rolle spielen die Folgen der ruinösen DDR-Wirt­schaft heute noch?

Ich bin nicht in der Lage zu analysieren, in welchem Maße Probleme von Unternehmen im Westen von der gegenwärtigen Lage der Wirtschaft im Osten verschärft wurden. Aber einige Spätfolgen bestimmten definitiv die Entwicklung im Osten und belasten bis heute die vereinte Volkswirtschaft. Es wirkt noch immer nach, dass durch Einheit und Währungs­reform die einstigen Staatsbetriebe der DDR noch schlechter als bisher auf dem Weltmarkt mithalten konnten. Für ihre Erzeugnisse musste nun harte D-Mark bezahlt werden. Die bisherigen, überwiegend aus der Dritten Welt stammenden Abnehmer der Produkte aus der DDR aber wollten ihre D­Mark-Reserven nur für höherwertige Produkte aus der BRD einsetzen. Die Alternative zum drohenden Konkurs der meis­ten DDR-Betriebe bot die Treuhand. Bundesdeutsche und etliche ausländische Unternehmen erwarben viele Betriebe, nicht selten für einen rein symbolischen Preis, und sicherten damit wenigstens ein Minimum an Arbeitsplätzen. Gleichzei­tig mussten die Betriebe umstrukturiert und saniert werden. Die Kapazitäten der Industrie in den alten Bundesländern reichten aus, um den gesamtdeutschen Binnenmarkt wie die Außenmärkte zu bedienen. Daher ist nach wie vor die Mehr­zahl der Zentralen der deutschen Industrie in Westdeutsch­land angesiedelt, während die dazugehörigen Industriebetrie­be reine Tochtergesellschaften sind. In diesen Unternehmen gibt es kein höheres und mittleres Management, keine For­schung, Entwicklung, kein Controlling und Marketing. Als ein erster einsamer Leuchtturm der Hoffnung ist mir das einstige Zeiss-Kombinat in Jena aufgefallen, das sich unter Lothar Späth zum florierenden Großunternehmen Jenoptik gemausert hat. Nach wie vor jedoch gilt: Wir dürfen uns in Ostdeutschland nicht mit einer Zweigwerk-Economy be­gnügen, sondern müssen in wachsender Zahl Stammbetriebe schaffen, um die Aufholgeschwindigkeit zu beschleunigen.

Die DDR war stärker von der Landwirtschaft abhängig als die Bundesrepublik. Erschwerte das die Transformation nach der Vereinigung?

Nur auf den ersten Blick sieht das so aus. Der inzwischen verstorbene Fritz Schenk, langjähriger Sekretär des ersten Planungschefs der DDR und ein hervorragender Kenner der DDR-Wirtschaft, machte auf einen wichtigen Aspekt der Transformationsphase aufmerksam. Schenk war 1957 in die Bundesrepublik geflüchtet und war später mit Gerhard Löwenthal Redakteur der ZDF-Sendung »Mitteldeutsches Tagebuch«. Schenk korrigierte das Bild, das die SED selbst verbreitete, um die augenfälligen Rückständigkeiten der DDR gegenüber dem Westen zu rechtfertigen. Der SED zu­folge war die DDR der überwiegend agrarisch geprägte Teil Deutschlands. Dem widersprechen jedoch einige Tatsachen, die allerdings in Vergessenheit geraten sind.
Zur Potsdamer Konferenz 1945 hatte ein Gremium inter­nationaler Statistiker die wirtschaftlichen Ist-Daten Deutsch­lands für das letzte Friedensjahr 1939 ermittelt und nach Besatzungszonen gegliedert. Danach gab es in der amerika­nischen Zone (Bayern, Württemberg, Hessen) 433 000 Betrie­be mit rund 3 Millionen Beschäftigten, in der britischen Zone (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen) 453 000 Betriebe mit 4,2 Millionen Beschäftigten, in der französischen Zone (Baden, Rheinland-Pfalz, ohne Saarland) 164 000 Betriebe mit einer Million Be­schäftigten und in der sowjetischen Zone 488 000 Betriebe mit 3,6 Millionen Beschäftigten. Diese hohe Zahl der Betriebe bei niedrigerer Beschäftigtenquote gegenüber der britischen Zone drückte den für damalige Verhältnisse fortgeschrittenen Rationalisierungsgrad in Mitteldeutschland aus. Man baute schon mehr mit Maschinen. Laut Analyse hatte sich dieses Verhältnis bis Kriegsende sogar noch zugunsten der sowjeti­schen Zone verbessert, die erst gegen Kriegsende stark bom­bardiert wurde – davor war jedoch noch kräftig investiert worden.
Stärker noch schlug zu Buche, dass sich in Ostdeutschland vor allem für eine Friedenswirtschaft geeignete Wirtschafts­zweige befanden: die Autounion (DKV, Horch, Audi, Wan­derer) in Sachsen, BMW in Eisenach und das hochmoderne Opelwerk in Brandenburg, sowie entsprechende Zulieferer; die weltweit modernsten Zweige der Elektrotechnik, Fein­mechanik und Optik; graphische Industrie, Verpackungstech­ii ik; der modernste Teil der Chemie, Pharmazie, Film- und Kunststoffproduktion; die Textil- und Bekleidungsindustrie, die Glas-, Keramik- und Möbelindustrie und Ausrüster für Einzelhandel, Gastronomie und Handwerk. Die Liste der damals weltbekannten Produkte, Hersteller und Standorte wäre sehr lang, und es handelte sich hauptsächlich um leis­tungsstarke Mittelstandsbetriebe mit weltweiten Kunden­stämmen. Gewiss haben auch dort der Bombenkrieg und sowjetische Demontage verheerende Schäden angerichtet. Doch wenn der mitteldeutsche Wirtschaftsraum in seiner Grundstruktur erhalten geblieben wäre und am Marshall-plan hätte teilnehmen können, wären die Lücken im Osten womöglich schneller geschlossen worden als in den West­zonen.

Demnach hat neben der Demontage für Reparationen die SED-Politik die entscheidenden und längerfristigen Schäden an der industriellen Entwicklung in der DDR angerichtet.

Ja. Hunderttausende Unternehmer wurden enteignet und systematisch vertrieben, die Betriebe wurden in sozialistische Kombinate eingegliedert und die zentrale Planwirtschaft so­wjetischen Typs eingeführt. Diese Maßnahmen wurden allen Satellitenstaaten der Sowjetunion aufgezwungen. Die Politik Ulbrichts erhöhte zusätzlich den wirtschaftlichen Schaden der DDR. Der SED-Chef war sich der geostrategischen Lage seines Landes bewusst. Er ging davon aus, dass Moskau, um nicht den gesamten Satellitengürtel zu verlieren, seine west­lichste Bastion nie preisgeben würde. Doch der Kreml soll­te neben dem geostrategischen auch ein handfestes ökono­misches Interesse am Verbleib der DDR im Sowjetbereich haben. Daher machte Ulbricht die DDR zum wichtigsten Zulieferer für die sowjetische Schwer- und Rüstungsindustrie und zerstörte damit den Rest der mitteldeutschen Be­triebe.
Ende Oktober 1989 wurde für das Politbüro in einem Ex­pertenbericht das wirtschaftliche Endergebnis dieses unsäg­lichen Experiments beschrieben. Jenem Bericht zufolge er­brachte die DDR nur noch ein Drittel der Produktivität des Westens, was einen Überhang an Arbeitskräften von etwa 2 Millionen Beschäftigten bedeutete. Mehr als sechzig Pro­zent der Industrieanlagen waren verschlissen und mehr als dreißig Prozent älter als sechzig Jahre. Das Gesamtvolumen des Investitionsplanes für 1989 lag unter 60 Milliarden Ost­mark, was nicht einmal mehr dringende Reparaturen deck­te und Neuinvestitionen nahezu ausschloss. Die DDR stand mit rund 200 Milliarden Ostmark in der Kreide, wodurch praktisch alle Sparguthaben der DDR-Bürger wertlos waren. Die DDR war außenwirtschaftlich mit 50 Milliarden Valuta überschuldet. 1990 hätte sie, wie erwähnt, den Schulden­dienst, also die Zinszahlungen für Kredite, die in Devisen zu erstatten waren, nicht mehr erfüllen können. Die DDR hätte also gegenüber dem Internationalen Währungsfonds Zahlungsunfähigkeit erklären müssen. Da die DDR-Bürger 6 Milliarden Ostmark gespart hatten, hätten die Einkünf­te aller DDR-Bürger verringert und ihre Sparguthaben ge­sperrt werden müssen. Der Bericht enthielt sich konkreter politischer Empfehlungen, machte aber deutlich, dass die Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus ei­gener Kraft »die DDR unregierbar« machen würde. Daher empfahl er die umgehende Aufnahme von Verhandlungen mit der Bundesregierung zur »Herstellung konföderativer Strukturen zwischen DDR und BRD «.

Welcher Schluss hätte aus dieser Situation gezogen werden sollen?

Nur einer, von dem wir nach Honeckers Sturz noch weit entfernt waren. Nämlich die schnelle und großzügige Rückgabe von Eigentum, das die SED rund einer Million früherer Besitzer geraubt hatte. Man hätte die Erfahrungen dieser Eigentümer nutzen können, ihre Marktkenntnisse internationales Standing. Das hätte nachhaltiger gewirkt und die öffentliche Hand weniger gekostet als alle Verkaufs- und Subventionsbemühungen der 3000 überwiegend aus dem Westen stammenden Juristen der Treuhandanstalt. Fritz Schenk nannte es ein großes Versäumnis des deutschen Parlaments, dass es den Einigungsvertrag nicht in der ersten Legislaturperiode nachgebessert hat. Damit wurden die sozialistischen Hypotheken konserviert.

(c)-Vermerk: Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren, Wir haben fast alles flasch gemacht. Die letzten Tage der DDR, 2009 Econ Verlag in der Ullstein Bucherverlage GmbH, Berlin.

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Über Schabowski Günter 3 Artikel
Günter Schabowski, geboren 1929, studierte in Leipzig Journalistik. Bis 1985 war er Chefredakteur vom "Neuen Deutschland". Von 1985-1989 ist er Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin gewesen. Zuletzt erschien sein Buch „Wir haben fast alles falsch gemacht“ (2009).

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