Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler zum 600-jährigen Bestehen der Universität Leipzig

Wir feiern heute den 600. Geburtstag der Universität Leipzig – herzlichen Glückwunsch!

600 Jahre: Das sind 20 Generationen von Lehrenden und Lernenden, 20 Generationen wissenschaftliche Neugier, Streben nach Erkenntnis, Bemühen darum, Wissen zu erwerben, weiterzugeben und zu vermehren zur „Erleuchtung der Welt“ – wie Sie die große Jubiläumsschau „Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften“ genannt haben. 600 Jahre – das bedeutet aber auch: 20 Generationen lang Irrtum, mal fruchtbar, mal furchtbar – furchtbar vor allem da, wo ideologisch verblendet. 20 Generationen Emanzipation der Universität von geistlichen und irdischen Autoritäten, 20 Generationen mit hunderttausendfachem persönlichem Ringen, sich zu bilden und einen guten Weg ins Leben zu finden. Wer heute hier forscht, lehrt oder studiert, ist Teil dieser Geschichte und wird dabei – wie ich denke – zu einem guten Kapitel gehören und beitragen. Darum lohnt es sich, nicht nur die 600 Jahre feiernd zu bedenken, sondern zugleich auch über die eigene Lage zu reflektieren.
Wie heißt es in Thomas Manns Buddenbrooks doch so treffend: „Die Vergangenheit zu feiern ist hübsch, wenn man, was Gegenwart und Zukunft betrifft, guter Dinge ist“.
Können wir guter Dinge sein, was Gegenwart und Zukunft unserer Hochschulen betrifft?
Hier im Paulinum wird noch kräftig gebaut. Ich wünsche Leipzig ein Ergebnis, dass dann doch möglichst alle überzeugt.
Auch das deutsche Hochschulsystem befindet sich im Umbau. Die Notwendigkeit dieses Umbaus ist unbestritten: zu lange Studienzeiten, zu viele Abbrecher, zu schlechte Studienbedingungen, zu wenig Unterstützungsangebote, zu wenig Chancengerechtigkeit: So konnte es nicht weitergehen.
Die größte Baustelle im deutschen Hochschulwesen – daran haben uns die Studierendenproteste gerade erst wieder erinnert – heißt derzeit zweifellos „Bologna“. Ehrgeizige Ziele verbinden sich damit: die Schaffung eines Europäischen Hochschulraums, in dem Studierende problemlos von Ort zu Ort, von Land zu Land wechseln und Absolventen vergleichbare Abschlüsse vorzeigen können, kürzere Studienzeiten, höhere Erfolgsquoten, bessere Arbeitsmarktchancen. In Deutschland soll Bologna nicht zuletzt eine Antwort auf die Frage geben, wie sich möglichst viele junge Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten umfassend bilden und auf die anspruchsvollen Berufe der Zukunft vorbereiten können.
Das klingt gut, aber mit der Umsetzung sind wir nach zehn Jahren längst nicht da, wo wir sein sollten. Sicher: Reformen brauchen Zeit, aber sie brauchen vor allem auch Ernsthaftigkeit, den Willen, als richtig erkannte Ziele auch konsequent umzusetzen. Für die Bologna-Reform wie für das Megathema Bildung insgesamt gilt: Wir brauchen an vielen Stellen mehr Ehrgeiz und mehr Mitmacher! Die Frage, wie wir unsere Hochschulen weiterentwickeln, ist auch ein Lackmus-Test dafür, wie ernst wir es wirklich meinen mit dem Ziel: der Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Fangen wir bei den Finanzen an. Wer im Bund und vor allem in den Ländern geglaubt hat, man könnte das Hochschulwesen kostenneutral umbauen, ja vielleicht sogar durch die Einführung der Bachelor-Studiengänge Geld sparen, der sei daran erinnert: Deutschlands Aufwendungen für den Hochschulbereich sind seit Jahren unterdurchschnittlich, die chronische Unterfinanzierung wird in schlechten Betreuungsquoten, maroden Gebäuden und mangelnder Infrastruktur für Forschung und Lehre sichtbar. Das ist eine Botschaft auch an die Studierenden – und es ist die falsche Botschaft.
Wenn die Hochschulen mehr jungen Menschen offenstehen sollen – auch solchen, die nicht auf dem klassischen Weg über das Abitur kommen -, wenn die Betreuung in den Hochschulen insgesamt wirklich besser werden soll, dann brauchen wir mehr engagiert Lehrende. Es muss doch zu denken geben, dass die Zahl der Professoren in den vergangenen Jahren keineswegs im gleichen Verhältnis wie die der Studierenden gewachsen ist. Eine gute Betreuung und eine aktive Teilhabe der Studierenden an der Forschung sind so nicht möglich. Wir müssen endlich mehr tun für die Qualität der Lehre. Es gibt schon erfreulich viele Ansätze im Kleinen, aber das Grundsatzproblem, dass gute Forschung sich auszahlt, gute Lehre aber kaum, ist nach wie vor ungelöst. Wir brauchen endlich eine Exzellenzinitiative für die Lehre. Ich wünsche mir, dass künftig über die Exzellenz von Hochschulen auch anhand der Qualität ihrer Lehre geurteilt wird. Ich wünsche mir Hochschulen, für deren Selbstbild exzellente Studienbedingungen denselben Rang haben wie exzellente Forschungsergebnisse. Erst wer beides zusammen erreicht, kann wirklich Vorbild sein.
Bund und Länder haben sich darauf verständigt, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung zu investieren. Gut so! Wenn nun aber so lange gerechnet wird, bis das Ziel nominal erreicht scheint, ohne wirklich mehr Geld in die Hand zu nehmen, dann lässt das daran zweifeln, ob den Worten wirklich Taten folgen. Wir brauchen die Kraft, Prioritäten zu setzen.
Das gilt für Bund und Länder. Aber die Länder sind – zumal nach der Föderalismusreform – die Hauptzuständigen für die Hochschulen. Vor allem sie müssen das Thema zur Chefsache machen und können die Verantwortung nicht einfach weiterreichen an die Hochschulen, denen sie zwar mehr Freiheit gewährt haben, ohne das aber wirklich mit einem neuen Aufbruchsimpuls und mit den nötigen Ressourcen zu unterlegen. Manche Hochschulen haben den Reformauftrag dann auch nur nach der Devise umgesetzt: „Alter Wein in neuen, übervollen Schläuchen“.
Da muss einen dann die Klage der Studierenden nicht wundern, dass das enge Korsett mancher Studien- und Prüfungsordnungen ihnen zu wenig Freiraum gibt, ja ihnen bisweilen die Luft abschnürt; dass Leistungen, die sie anderenorts im In- oder Ausland erbracht haben, nicht oder nur mühevoll anerkannt werden, dass hochspezialisierte Studiengänge kaum anschlussfähig sind. Da haben an vielen Stellen immer wieder viele auf andere gesetzt. Und deshalb ist jetzt auch wechselseitiges Fingerzeigen wenig hilfreich.
Aber mir ist auch wichtig festzuhalten: Es gibt Fakultäten und Hochschulen, die Reformen ernsthaft angepackt und sehr gute Erfahrungen damit gemacht haben. Davon kann man lernen. Und man sollte sich – wie das an vielen Hochschulen schon geschieht – mit den Beteiligten an einen Tisch setzen und offen und gemeinsam konkrete Verbesserungen besprechen. Ich finde zum Beispiel das Memorandum interessant, das vergangenen Donnerstag die Rektorinnen und Rektoren der nordrhein-westfälischen Universitäten zur weiteren Umsetzung des Bologna-Prozesses verabredet haben. Sie sagen darin: Es ist bei der Reform viel Gutes gelungen, aber es gibt auch Probleme und mögliche Fehlentwicklungen. Also muss der Stand der Reformen überprüft werden und gehören alle an einen Tisch, auch Vertreter der Studierenden, um eine umfassende Bestandsaufnahme zu erarbeiten und zu verabreden, wie die nötigen Verbesserungen erreicht werden können.
Mir macht auch Mut, dass es immer mehr Professoren gibt, die sagen: Ja, die Lehre ist zeit- und kraftraubender geworden; ich muss Themen aufbereiten, die eigentlich nicht zu meinen Steckenpferden gehören. Dafür aber treffe ich in den neuen Lehrveranstaltungen auf Studierende, die zu unterrichten auch mehr Freude und Gewinn bringt. Und auch unter den Studierenden gibt es – allen aktuellen Klagen zum Trotz – nicht nur unzufriedene im Studium. Viele aber sind unsicher, welche Chancen sie mit dem Bachelor auf dem Arbeitsmarkt haben. Die Wirtschaft hat schon vor einigen Jahren die Devise ausgegeben: „Bachelor welcome“. Das finde ich gut. Nun liegt es in der Verantwortung der Unternehmen, ernst damit zu machen. Ich rufe Ihnen zu: Machen Sie die Arme auf für die Absolventen, aber greifen Sie den jungen Leuten auch unter die Arme: im Studium mit Stipendien und mit fairen Praktika, mit besserem „Training on the Job“ und passgenauen Weiterbildungsangeboten. Auch Sie tragen Verantwortung für die Bildungsrepublik! Und wenn wir dem Reden von Wachstumspolitik in Deutschland wirklich Sinn und Inhalt geben wollen, dann müssen wir vor allem über die bestmögliche Bildungspolitik reden.
Auf vielen Ebenen muss also mehr dafür getan werden, unser Hochschulwesen auf die Höhe der Zeit zu bringen. Das sind wir den jungen Leuten schuldig, das sind wir aber auch unserem Land schuldig: Denn Deutschlands Zukunft wird wesentlich von denjenigen geprägt, die heute und morgen unsere Hochschulen durchlaufen. Wir alle haben ein Interesse daran, dass sich möglichst viele junge Menschen in der Universität fundiert bilden können.
Dazu gehört auch die Freiheit und die Zeit, im Studium nicht nur Fakten und Methoden wissenschaftlichen Arbeitens zu erlernen, sondern auch über das „Wozu“ nachzudenken: über Sein und Sollen der Wissenschaft. Wissen ohne Verantwortung, Bildung ohne Herzensbildung ist – der Apostel Paulus möge mir die Anlehnung an seinen Korintherbrief vergeben – „hohl und leer, ohne jeden Klang.“ Geist und Geistlichkeit gehören zusammen – ich finde: hier im Paulinum, wo künftig Aula und Altar unter einem Dach vereint sind, wird dies auf besondere Weise sichtbar.
Wer baut, glaubt an die Zukunft. Hier im Paulinum wie in unserem Hochschulwesen insgesamt muss noch einiges auf- und umgebaut werden, aber ich bin zuversichtlich, dass wir einen Geist und eine Struktur schaffen können, die in die Zukunft tragen. In diesem Sinne wünsche ich der Leipziger Universität stellvertretend für alle Hochschulen im Lande: Vivat, crescat, floreat!

www.bundespraesident.de

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