Gottes Liebling am Plauer SeePeter-Michael Diestel diskutiert mit Oskar Lafontaine

Der ungewöhnliche Titel „Sturzgeburt“ soll dem Leser suggerieren: Die Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90 ist auf allen Ebenen gescheitert! Dafür gibt es Argumente, die man annehmen oder abweisen kann; sie werden von Oskar Lafontaine (Die Linke), der damals vor einer überstürzten Einheit gewarnt hat, mehr oder weniger überzeugend vorgetragen. Immerhin verfügt er über eine politische Konzeption, die ihm die Euphorie des Mauerfalls von 1989 in einem anderen Licht erscheinen lässt. Was sein Widerpart Dr. Peter-Michael Diestel (CDU) dagegen vorzubringen hat, sind vage Anmerkungen und schräge Einwürfe. Schon auf der ersten Interviewseite schwärmt er, eitel, wie er ist, von seinem „Anwesen am Plauer See“, von seinen beiden Anwaltskanzleien und von seiner Frau, die Zahnärztin in Potsdam ist. Das alles gipfelt in dem Satz: „Wenn ich morgens dort aufwachen darf, weiß ich, dass mich der liebe Gott in sein Herz geschlossen hat.“
Der 1952 auf der Insel Rügen geborene Offizierssohn durfte nach dem Abitur 1972 zunächst nicht studieren und wirkte zwei Jahre als Schwimmlehrer, Bademeister und Rinderzüchter, weshalb er noch heute den stolzen Titel trägt „Verdienter Melker des Volkes“. Nach dem Jura-Studium 1974/78 in Leipzig arbeitete er als Rechtsberater der Agrar-Industrie im sächsischen Delitzsch und wurde 1986 mit einer Arbeit über LPG-Recht promoviert.
Wäre im Herbst 1989 die Berliner Mauer nicht gefallen, hätte kein Mensch mehr jemals von ihm gehört, so aber wurde er, durch einen Zufall der Geschichte, in der einzigen freigewählten DDR-Regierung 1990 Abgeordneter in der „Volkskammer“, DDR-Innenminister, der die Machtträger des untergegangenen SED-Staates wie „Staatssicherheit“ und „Volkspolizei“ auffallend schonte, und stellvertretender Ministerpräsident. Dass das, ohne besondere Verdienste, seine große Zeit war, erwähnt er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Als erster Politiker, so lässt er uns wissen, habe er „öffentlich…die Wiedervereinigung gefordert“. Waren das nicht die Leipziger Demonstranten?
Auf diese „Bürgerbewegten“ ist er überhaupt nicht gut zu sprechen, denn die waren, das hat er gründlich erforscht, „in der Regel von der Staatssicherheit beauftragt oder von dieser benutzt“. Auch als CDU-Mitglied steht er eher auf der Seite „meines Freundes Gregor Gysi“ und beneidet dessen Partei um Lothar Bisky und Gregor Gysi: „Eine Partei, die solche Leute an der Spitze hat, ist in Deutschland unschlagbar, die mischt den Laden auf, dachte ich damals. Und ich bin maßlos enttäuscht, dass diese Partei daraus so wenig gemacht hat. Maßlos!“ Der Leser schüttelt verständnislos den Kopf, warum er jetzt nicht bei seiner Parteivorsitzenden Angela Merkel Trost und Rat sucht. Man sieht, der heutige Zustand der CDU, der er seit 1990 angehört, ist ihm kein Nebensatz und keine Fußnote wert, stattdessen sorgt er sich um die Zukunft der Linken, mit deren Führungsriege er befreundet ist.
Zur DDR-Geschichte vertritt er derart verquere Meinungen, dass man zweifelt, ob er jemals dort gelebt hat. Sie war die „logische Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg…wenngleich nicht demokratisch.“ Als Gegengründung zur Nazidiktatur, des „größten Übels dieser Welt“, könne „sie selbst schon kein Übel gewesen sein“, schließt er messerscharf. Dass hier eine blutige Diktatur eine andere abgelöst hat, begreift er nicht. Dass die DDR-Bürger diesen Mauerstaat nach 40 Jahren ständiger Unterdrückung nicht mehr wollten, sieht er immerhin ein. Seine Devise war: „Es sollten nicht mehr Leute über mich entscheiden dürfen, die dümmer waren als ich!“ Gab es die denn?
Schließlich hat er auch Erich Honecker, der wie „Freiwild“ behandelt wurde, gerettet und ihm „ordentliche Papiere“ und ein „Dach über dem Kopf“ besorgt. Wir lesen es mit Bewunderung, auch wenn wir wissen, dass Erich und Margot Asyl bei der Evangelischen Kirche gefunden haben und Unterschlupf im Pfarrhaus Uwe Holmers in Lobetal bei Berlin.
Dieses Interview zeigt, wie ein Ex-Politiker aus dem fünften Glied um Anerkennung bei linken Ideologen bettelt, denen er intellektuell in keiner Weise gewachsen ist. Die Entstehungsgeschichte dieses Gesprächs, wie sie im Vorwort geschildert wird, deutet es an. Demnach hat Frank Schumann, der einstige Leipziger Studienfreund und heutige Leiter des Verlags „Das Neue Berlin“, dieses Interview vermittelt. Der CDU-Mann vom Plauer See hat offensichtlich darauf gedrängt, sich im Glanz des saarländischen Sonnenkönigs spiegeln zu können. So etwas Schönes plant Gottes Liebling noch einmal: Als Egon Krenz erwähnt wird, wirft er großspurig ein: „Ihr kommt mal zu mir nach Zislow am Plauer See. Ich koche und ihr diskutiert.“

Peter-Michael Diestel/Oskar Lafontaine „Sturzgeburt“, Verlag „Das Neue Berlin“, Berlin 2015, 224 Seiten, 14.99 Euro

Über Jörg Bernhard Bilke 261 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.

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