Gotische Architektur am Mittelrhein von Hauke Horn & Matthias Müller

Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch

Dom Aachen. Bild von SofieLayla Thal auf Pixabay.

Hauke Horn/Matthias Müller (Hrsg.): Gotische Architektur am Mittelrhein. Regionale Vernetzung und überregionaler Anspruch, De Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN: 978-3-11-057719-8, 79,95 EURO (D)

Der Mittelrhein, der 130 Kilometer lange Flussabschnitt des Rheins zwischen der Mündung der Nahe bei Bingen und derjenigen der Sieg gegenüber von Bonn, ist eine der bedeutendsten Kulturlandschaften der BRD. Der Mittelrhein weist eine hohe Dichte von mittelalterlichen Kirchenbauten und Burgen auf. Die in den Städten errichteten Kirchenbauten repräsentieren mit ihrer Gestaltung den Status und das Konkurrenzverhältnis der auftraggebenden Institutionen und vermitteln einen Aufschluss über die Bautechnik und Bauorganisation. 

In diesem Band wird die gotische Architektur am Mittelrhein vor dem Hintergrund von Konkurrenzen und Konflikten. Netzwerken und Transferprozessen beleuchtet. Dies sind die Ergebnisse eines mehrjährigen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes und einer im November 2016 durchgeführten Tagung. Folgende Fragestellungen standen dabei im Mittelpunkt: Welche Rolle spielten an den etwa zeitgleichen Bauprojekten am Mittelrhein die potentiell zu ermittelnden regionalen oder überregionalen Vernetzungen von Bauleuten und Werkstätten bzw. die Transferprozesse architektonischer Motive, Formen und Techniken innerhalb der Entwurfs- und Konstruktionsprozesse? Welche Rolle nahmen die Auftraggeber, Stifter und Rezipienten bzw. Nutzer der Bauten aus Klerus, weltlichem Adel oder stadtbürgerlichem Patriziat ein, die mit einer möglicherweise von ihnen beeinflussten Formen- oder Stilwahl bestimmte institutionelle oder politische sowie dynastische Zugehörigkeiten ausdrücken oder zeichenhaft repräsentieren wollten?

In der Einleitung werden zunächst die früheren wissenschaftlichen Forschungen und deren Ergebnisse behandelt, bevor dann daran anknüpfend Ziele, Fragestellungen und Ergebnisse des DFG-Projektes und die zitierte Literatur vorgestellt werden. 

Im ersten Teil wird in zwei Essays auf die Geschichte, Methoden und Perspektiven der Gotikforschung zum Mittelrhein eingegangen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Netzwerken und Transferprozessen in der Architektur und Ausstattung am Mittelrhein. Dazu gibt es zunächst einen längeren Beitrag von Hauke Horn über die politische und soziale Dimension mittelalterlicher Architektur im Mittelrheintal. Anschließend skizziert Eduard Sebald die spätmittelalterliche Bau- und Territorialpolitik am Mittelrhein. Hauke Horn stellt die Bautechnik und Bauorganisation des 13. -15. Jahrhunderts vor, bevor Ute Engel Mainz als Schaltstelle der Gotik um 1300 und den überregionalen Kunsttransfer am Mittelrhein präsentiert. Danach geht Sascha Köhl auf die internationalen Transferprozesse von Paris, dem stilprägenden Zentrum, und die Rezeptionsprozesse gotischer Architektur in der Peripherie des Rheingebietes ein. Die Verflechtung zwischen Straßburg und dem Mittelrhein untersucht Marc Carel Schurr, bevor Karola Sperber auf die Frage nach Herkunft und Interpretation der asymmetrischen-zweischiffigen Franziskanerkirchen eingeht. Yves Gallet stellt am Beispiel des Goldenen Altars zu Oberwesel Mikroarchitektur und Kulturtransfers zwischen Frankreich und Mittelrhein um 1340 dar. 

Der dritte Teil beschäftigt sich mit den Aspekten der Transformation, Repräsentation und Innovation der Sakralbauten am Mittelrhein. Dabei geht Catharina Lathomus auf die Stiftskirche St. Kastor in Koblenz, Maria Wenzel auf den Glockenstuhl von St. Martin in Oberwesel, Hauke Horn auf die Baugeschichte von St. Martin zu Bingen und Britta Hedtke auf die Baugeschichte der westlichen Stifsklausur des Mainzer Doms. Benedikt Ockenfels stellt Eltville und den Rheingau als Ausweichresidenz der Mainzer Erzbischöfe vor. 

Im vierten Teil geht es um Struktur und Verflechtung politischer und funktionaler Eliten in den Städten am Mittelrhein. Regina Schäfer setzt sich mit Struktur und Verflechtung des Hoch- und Niederadels am Mittelrhein im 14. Jahrhundert auseinander. Danach stellen Rauol Hippchen und Heidrun Ochs noch die Beziehungen von Führungsgruppen mittelrheinischer Städte (Stadtadel, Patriziat, Funktionselite) mittelrheinischer Städte vor. 

Quer durch die Texte findet man noch viele schwarz-weiß Abbildungen, vergleichende Bilder, Grundrisse, zeitgenössische Stadtansichten, Längsschnitte und Zeichnungen. 

Im Anhang findet man noch Farbtafeln mit Karten des Mittelrheintales, Sakralobjekte aus verschiedenen Blickwinkeln und Himmelsrichtungen, Kirchenfenster, Innenansichten von Kirchen und zahlreiche Abbildungen der Liebfrauenkirche in Oberwesel. Außerdem gibt es dort noch Abbildungsnachweise. 

Die wichtigsten Ergebnisse sind die folgenden: Die Architektursprache der Sakralbauten des 13. und 14. Jahrhunderts im Mittelrheintal konnten weder einem Diözesan- noch einem Herrschaftsteil zugeordnet werden, sondern stattdessen wurde der in der Architekturforschung bisher wenig beachtete Kirchherr als maßgebliche Referenzebene identifiziert. Der Kirchherr hatte mehr Gewicht als die Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsterritorium oder einer Kirchenprovinz. Die lokalen, regionalen und überregionalen Netzwerke der Auftraggeber weniger der Werkstätten bestimmten letztlich die Transferwege für Bauformen und Bautechniken. In diesem Zusammenhang wurde die Sakralarchitektur auch genutzt, um im geostrategisch bedeutsamen Mittelrheintal mit seinen vielfältigen Überlagerungen von Interessensphären und Herrschaftsstrukturen eine institutionelle Zugehörigkeit auszudrücken und damit verbundene Ansprüche architektonisch zum Ausdruck zu bringen. 

Hier werden architektonische und kunstgeschichtliche Aspekte umfassend mit machtpolitischen, gesellschaftlichen und repräsentationshistorischen verbunden. Dies ist also kein Bildband im klassischen Sinne, wo gotische Bauten im Mittelpunkt stehen und einzeln vorgestellt werden, sondern das Ergebnis eines Forschungsprojektes mit interdisziplinärem Charakter. Dies geschieht auf dem neuesten Stand der Forschung über ein Gebiet, das überproportional mittelalterlichen Kirchenbauten und Burgen zu bieten hat. Gut ist auch der transregionale Blickwinkel nach Frankreich, speziell nach Paris.

Über Michael Lausberg 572 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.