Vorstellung des gleichnamigen Buches auf der Frühjahrestagung der Anna Amalia und Goethe Akademie zu Weimar am 1. Mai 2010
»GOETHES ERSTESWEIMARER JAHRZEHNT«
Ilse Nagelschmidt/Stefan Weiß/Jochanan Trilse-Finkelstein (Hrsg.) Interdisziplinäres Symposium anlässlich des 270. Geburtstags von Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach am 24. Oktober 2009
Tagungsband mit weiteren Forschungsergebnissen, 464 Seiten, Format 24 x 16 cm, Broschur, Weimar 2010, ISBN 978-3-936177-15-2
Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Freunde von Goethe und Anna Amalia,
einerseits gibt es eine nahezu unüberschaubare Goethe-Literatur, also Literatur über Literatur, die zuweilen auch eigenen Literatur-Wert hat, vor allem, wenn sie von Dichtern bzw. großen Literaten geschrieben worden ist: etwa von den Schlegels oder gar Heinrich Heine, von Gerhart Hauptmann oder gar Thomas Mann, den Zweigs, Joh. Robert Becher, Louis Fürnberg oder gar Bertolt Brecht geschrieben ward, weniger Martin Walser, umso lieber Peter Hacks!
Die germanistisch-philologische Wissenschaft tat das ihre, zumindest seit der großen Weimarer- oder Sophien-Ausgabe vor und nach der Wende der Jahrhunderte um 1900. Da gab es wahre Literatur-Schübe und etliche große Biografien. Stellvertretend sei der Name des nationalbürgerlichen, doch eher positivistisch denkenden Gelehrten Erich Schmidt genannt.
In eine eher idealistische Richtung trieben Georg Simmel und Housten Stewart Chamberlain (beide um 1913) ihre Interpretation des großen Weimaraners, die darnach freilich fatale Züge durch Friedrich Gundolf angenommen hatte. Sie lieferte Ansatzpunkte für eine Umdeutung in eher nordisch-rassische, für den kommenden NS-Faschismus brauchbare Variante, die selbst Hitler ertrug. Freilich: dies konnte bei Goethe niemals aufgehen.
Die zwanziger Jahre brachten im Gefolge der Schlachten und Einbrüche, der Leichenberge, der Opfer, der materiellen und geistigen Schäden neue Sichten, wie sie vor allem in den Ausgaben der originalen Jugendschriften durch Hans Gerhard Gräfe und in großen Biografien von jüdischen Autoren Gestalt bekommen hatten: etwa Emil Ludwig (eigentl. Cohn) und Albert Bielschowski. Ludwigs „Goethe. Geschichte eines Menschen“ (3 Bde) kam 1920 heraus und hatte großen Erfolg, trotz etlicher sachlicher Unangemessenheiten. Bielschowskis „Goethe“ war zwar bereits 1896 erschienen, ebenfalls mit großem Erfolg, doch als Standardwerk galt er erst durch Walter Lindens Neufassung von 1928.
Seine Leistung liegt vor allem in tieferer Durchdringung des Philosophischen und in seinen ästhetischen Bewertungen. Die historischen Untersuchungen, Beschreibung und Analyse des Goetheschen Umfeldes, des Höfischen wie der Bürgerlichkeit blieben weitgehend auf der Strecke. Goethes politische Tätigkeit wirkt hier recht harmlos. Anna Amalia erhält zwar eine ganze Anzahl von – durchaus würdigenden – Seiten, doch über allgemein Bekanntes geht es nicht heraus. Auffällt lediglich ihr Brief an Minister Fritsch vom Mai 1776, in welchem sie ihre Sympathie für den Dichter unverhohlen bekennt, Fritsch hält und bereits im Juni dem Dichter zum Minister-Posten verhilft. Neben Friedrich II. von Preußen Carl August zum zweitbedeutenden Monarchen und Staatsmann Deutschlands zu erklären, scheint mir übertrieben. Freilich: allzu große Konkurrenz unter deutschen Monarchen hatte er nicht, doch lebten noch Maria Theresia und Joseph II., Kaiser in Wien.
Das nur aus der Politik zu erklären, lässt sich auch Bielschowski nicht einfallen, auch interpretiert er es nicht, lässt es stehen. Noch war auch 1928 die Zeit nicht reif, da ganz offen zu werden.
In der Folge-Zeit kam über lange Zeit dem Bielschowski-Linden keiner mehr so nahe. Seit 1940 stand die deutsche Goethe-Forschung und Deutung vorrangig im Zeichen von August Hermann Korff ( bis 1963), dessen vierbändiger „Geist der Goethezeit“ sich wenig im biografischen Bereich aufhielt, Klassik und Romantik als Epochen zusammenfasste und interpretierte, dies freilich nach streng idealistischen Prinzipien, ins Irrationalistische tendierend und nahezu jeden historischen Bezug vermissen lassend. Das ist Literatur an und für sich, eine Literatur, die jeden Bezug zur Realität verloren hat, sowohl in ihren Entstehungsbedingungen wie auch den Wirkungsmöglichkeiten. Das hat ihn auch für eine NS-Kulturpolitik erträglich, ja hoffähig gemacht. In seiner Allgemeinheit hat ihn sogar die DDR ertragen. Ich war sehr verblüfft, als ich ihn – aus Exil und anderen Ländern kommend – in den fünfziger Jahren in Leipzig hörte. Immerhin: Ich war vom Wiener Heinz Kindermann, einst hier in Weimar Mitglied des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ des Alfred Rosenberg, einiges gewöhnt, auch über Goethe. Das aber in Leipzig, an einer Universität, die damals den ehrenvollen Namen eines Karl Marx getragen hatte, war mir unerklärlich! Zum Glück gab es dort Gegengewichte: den Philosophen Ernst Bloch, den Historiker Walter Markow, vor allem aber den Literaten Hans Mayer. Hatte Bloch den Denker Goethe auf die höchste Ebene gehoben, auf die er gehört; Markow den Geschichts- und auch Politik-Sinn des Ministers erkannt, auch dort, wo der irrte, etwa in seiner frühen Einschätzung der Französischen Revolution, so pries Mayer den Dichter ersten Ranges, den Schriftsteller der Weltliteratur, einen Menschen von Renaissance-Charakter. Auch der Hof in Weimar ward in seinem reformfreudigen, doch sehr beschränktem Rang erkannt. Doch das Verhältnis Anna Amalia und Goethe nicht, weder als Liebespaar noch in deren politischer wie sozialer Bedeutung.
Überblickt man die deutschen Literaturgeschichten und entsprechenden Lexika etwa von Fritz Martini (1948/ 1957), Elisabeth Frenzel (1962/63), Gero von Wilpert (1955-1979), also Bereich West, oder das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ von Albrecht, Böttcher u.a. (1968 – 1974) oder gar die 12bändige „Geschichte der deutschen Literatur“ (seit 1960), also Bereich Ost, sind keine grundsätzlichen Entdeckungen besonders zur Klassik zu vermerken, es sei denn, die materialistische Betrachtungsweise und der andere Kanon im Osten.
Da mussten noch die Scholz-Schule kommen und schließlich die Anna-Amalia-Goethe-Akademie mit dem deutsch-italienischen Juristen und Schriftsteller Ettore Ghibellino sowie dessen Mitstreitern, also uns, die wir hier stehen, reden und neue Bücher mit neuen Entwürfen vorstellen. Ein Name muss allerdings hier noch genannt werden, zumal sein Träger Weimaraner war: Hans Wahl. Der umtriebige Mann, der über die NS-Zeit und Krieg rettete, was zu retten war – geistige wie seelische Trümmer – wusste so ziemlich alles, was sich in Weimar begeben hatte. Über unser Thema hatte er nichts gesagt, was heute nutzbar wäre, Zumindest habe ich nichts darüber gefunden. War er wie Wolfgang Vulpius, der viel wusste, es mir gesagt hatte, mit der flehentlichen Bitte, es nicht weiterzugeben (s. Beitrag von 2008, hier in diesem Band)? Wusste Wahl auch und behielt es bei sich? Oder wusste er nichts, wollte nichts wissen? Hatte ihn damals niemand gefragt? Er war 1948 verstorben.
Neue und sehr wichtige, realistische Fragen hatte wirklich erst die Gruppe um Gerhard Scholz gestellt, die meisten jüdische Remigranten, von mir in meinen Beiträge zum Thema bereits genannt.
Sie stellten soziologische Grundfragen – nach der sozialen Basis von Literatur und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit, besonders zur Klassik. Gerhard Scholzens Faustgespräche“, Edith Braemers Buch über „Prometheus“, Ursula Wertheims Untersuchungen zum „West-östlichen Divan“ sind unschätzbar gewesen, wie Lore Kaim-Kloocks Arbeiten zum Sturm und Drang – z.T. sind sie es heute noch. Doch unsere Fragen nach dem widersprüchlich-produktiven Verhältnis zum Herrscherhaus überhaupt, zum Verhältnis Goethe-Anna Amalia waren damals offenbar noch nicht in den Sinn gekommen – die ideologische Konfrontation zum Feudalabsolutismus bzw. die Auseinandersetzung damit waren noch zu schroff.
Nun sind sie gestellt, liegen offen vor uns, erste Antworten hat es gegeben.
2003 brachte Ettore Ghibellino seinen Aufsehen erregendes Buch “Eine verbotene Liebe?“, 2008 gab Ilse Nagelschmidt den Sammelband mit Konferenzbeiträgen des 1. Interdisziplinären Symposions von 2007 heraus; in der Folge erschienen in der kleinen Reihe etliche Aufsätze, Essays, Stellungnahmen von Gabriele von Trauchburg, Stefan Weiß, JTF. Heute stellen wir vor: „Goethes erstes Weimarer Jahrzehnt – Anna Amalia und Goethe“, hg. von Ilse Nagelschmidt, Stefan Weiß und JTF, mit 15 Beiträgen von 10 Autoren (neben den Hg. mit z.T. mehreren Beiträgen außerdem von Jan Ballweg, Gabriele von Trauchburg, Ettore Ghibellino, Hubert Speidel, Gisela Kahl, Detlev Forst, Rolf Hochhuth).
Die meisten der genannten Kollegen sind anwesend und werden ihre Positionen selbst vertreten. Darum will ich die Beiträge nur anreihen, um die gedanklichen Linien hervortreten zu lassen, die den Band bestimmen. Der Kürze wegen nenne ich nur die Nachnamen, weder Vornamen noch akademische Titel, freilich die Titel der Texte. In zwei Fällen bin ich gebeten worden, Inhalte und Konzepte ausführlicher widerzugeben, da die Kollegen nicht anwesend sein können.
Als Gruppe 1 die vorwiegend personenbestimmten, als da sind: Weiß, Ballweg, von Trauchburg und Trilse-Finkelstein befassen sich mit historischen Persönlichkeiten wie dem genius loci und seinen Geliebten, der realen selbst wie der vermeintlichen, mit beiden Steins, mit beiden Görtzens; Nagelschmidt mit „Literatur und Geschlechterkonstellationen in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts“, also vorwiegend historischen Gegebenheiten und dem entsprechenden Material; Ghibellino und Speidel eher mit methodischen Fragen, dem Material beizukommen; wobei ich der psychoanalytischen (psychogrammatischen: „Psychogramm“ betonend) besonderen Rang einräume, wenn sie die Historie, genauer: Geschichtlichkeit nicht draußen vorlässt); in der dritten Gruppe geht es dann um Kunst, um klassische Werke und ihre Umsetzung, das betrifft die von Kahl und Forst sowie die zweite von mir; dazu gehören dann auch im weiterwirkenden Sinne Deutungsversuche von Kunst (Ghibellino „Hacks und Goethe“ – man höre auf die Reihenfolge, sie hätte Peter Hacks sehr gefallen) – den Schluss des Bandes bilden zwei Gedichte von Hochhuth. Zu erwähnen sei indes auch eine Polemik: die von Weiß und Ghibellino gegen die „Stellungnahme der Klassik Stiftung Weimar zu den Hypothesen Ettore Ghibellinos“.
Ein stattliches Programm, ein Konzept ausdrückend. Nun noch einige Sätze zu den beiden Texten von Kahl und Forst.
Kahl geht auf zwei bedeutende Inszenierungen des Stückes ein: auf die von Peter Stein von 1969 in Bremen, die später auch in die Berliner Schaubühne aufgenommen ward, mit Bruno Ganz in der Titelrolle, sowie auf die von Claus Peymann 1980 in Bochum mit Branko Samorowski. Ich habe beide Inszenierungen gesehen und kann den von Kahl abgedruckten Kritik-Auszügen nur begrenzt zustimmen: der Henselschen über Steins Aufführung eingeschränkt, der von Melchinger über Stein gar nicht. Melchinger mochte den rebellischen Impetus der Schaubühne unter Stein überhaupt nicht, er passte nicht in sein konservatives Konzept von Theater wie überhaupt in sein Weltenbild: „Dieser Tasso widersetzt sich nicht, er leistet sich nur Fauxpas.“ (1969). Das sah ich gänzlich anders. Dieser Tasso leistete erstaunlichen Widerstand, auch hinter der Maske eines höfischen Clowns. Ganz gewiss nicht als einen mit äußerlich heroischen Mitteln. Nein, mit künstlerischen unter immerhin höfischen Bedingungen, eben auch denen eines Goethe. Masken gehörten dazu (Goethe hatte bekanntlich auch Maskenspiele geliebt, gefördert, genutzt.) Vor wenigen Jahren hatte ich anlässlich der Aufführung des ungekürzten Berliner „Faust“ in einer Art Sommertheater, die Gelegenheit, in einer Probenpause Bruno Ganz zu sprechen. Es war kein Interview, sondern ein Gespräch, bei einem kleinen Essen. Alles, was zu Faust kam, sei hier beiseite gelassen. Ich hatte ihn einiges zu früheren Bühnen-Rollen gefragt, etwa zu „Peer Gynt“, zum „Prinzen von Homburg“, zu Pentheus („Bacchen-Troerinnen“ und Prometheus, eben auch zum „Torquato Tasso“. Wen habe er sich unter oder hinter Tasso vorgestellt? Der Künstler sah mich mit erstaunten Augen an und meinte dann: „Wollen Sie mich reinlegen, narren? Sollte ich den alten Tasso aus dem 16. Jahrhundert verkörpern? Obwohl auch der kräftige sinnlich-oppositionelle Züge hatte! Nein, natürlich Goethe! Aber ich wollte und sollte keine fotografisch-bildliche Gestalt darstellen, sondern eben einen Künstler in all seinen Widersprüchen spielen.“ (Aus dem Gedächtnis und kurzen Notizen zitiert!)
Auch der Tasso von Samorowski war nicht viel anders, wendiger, vielleicht windiger; seine weiblichen Gegenspielerinnen. (So bedeutende Schauspielerinnen wie Kirsten Dene und auch Barbara Nüsse hatten es dem zarten Samorowski, später Peymanns spielgescheiter Mephisto, einem exzellenten Gegenentwurf zu Gründgens Mephisto, schwer gemacht.) Doch auch bei ihm war Goethe zu erkennen, nur schwächer. Vorteilhaft: Es war vornehmlich der Spieler und Taktiker, oft zurückweichende Goethe erkenn-, ja sichtbar.
Solche genialen wie gebildeten Regisseure wie Peymann und Stein hatten wie ihre herrlichen Schauspieler ein Gespür für Wahrheit: Nicht nur für die Wahrheit der Bühne, sondern auch für die gesellschaftlich-historische. Auch wenn diese höfische von Weimar noch nicht klar im Bild war dank wettinischer und anderer Retuschen – sie spürten etwas von der echten lebenden Frauengestalt höheren Ranges wie vom echten Goethe, der als politischer Mensch cleverer Taktiker, als Künstler Wahrheitsfanatiker war – künstlerischer Wahrheit! Insofern sollten diese Inszenierungen nicht als Gegen-Entwürfe dargestellt werden, sondern als Vorwegnahme, was nur große Künstler können.
Ich muss dabei an eine ebenfalls ältere Inszenierung des „Tasso“ im DT erinnern, die von Frido Solter aus dem Jahre 1975 (lange gespielt) mit Christian Grashof als Tasso, Dieter Mann als Antonio und Fred Düren als Herzog. Auch darin war Goethes Stück deutlich (bis ins Kostüm): Goethe biografisch – und daher – in doppeltem Sinne – echt zeitgenössisches Künstler- und Liebesdrama, doch historisch wahr. Prinzessin Leonore sah wie Anna A. auf zeitgenössischen Stichen aus und die andere Leonore wie die Stein. Ob Solter, für exakte Studien und bedeutendes Einfühlungsvermögen bekannt, bereits genauere Vorstellungen hatte, kann ich hier nicht belegen. Aber er war der Wahrheit sehr nahe gekommen.
Vom Stand zeitgenössischer Theaterpraxis her und vom heutigen historisch-wissenschaftlichen betrachtet, liegen also zwischen diesen drei Aufführungen zwischen 1969 bis 1980 und dem „neuen Inszenierungsansatz“ von Kahl keine großen Unterschiede. Man kann den ihren annehmen. Zu ihrem Unglück führt sie leider eine offenbar total missratene, dem Unfug des „neuen“ Regisseurstheaters geschuldete Inszenierung des Jahres 2007 aus Nürnberg durch einen sonst kaum bekannten Regisseur namens Kusenberg an, die ich nicht gesehen habe, doch aus beschreibenden Rezensionen zur Kenntnis genommen habe.
Hier wird jegliche Wahrheit, die der Bühne wie die des Lebens, verletzt zugunsten eines albernen Jokus und Publikumsheranschmeißerei, billiger Anbiederung um billigen Erfolgs wegen. Zum Glück – so sagte ich – habe ich sie nicht gesehen, da ich derlei gefährlich-dumme Possen leider zu oft wahrnehmen muss. Darum weiß ich, wie derlei aussieht.
Obwohl ich das als professioneller Kritiker nicht sagen dürfte – es ist Berufsethos, alles zur Kenntnis zu nehmen, allerdings ebenso, kritisch unter die Lupe, was ich mir dann ebenso zur Pflicht mache.
Und derlei Schwachsinn kann freilich nicht ästhetische Norm werden. Normen sind künstlerisch ohnehin fragwürdig, doch sog. „totale „Freiheit“, also anarchistische genauso. Chaos und Ordnung sind Lebensgesetz im tiefsten Innern aller Natur wie Gesellschaft so auch in Kunst. Goethe selbst war Lehrmeister darin. Und das gilt für „Torquato Tasso“ und dessen Ordnung, dessen Wahrheit künstlerischer Wiedergabe historischer Wahrheit.
Selbstverständlich bleibt Ghibellinos These, wie Kahl schreibt, Voraussetzung für „eine neue Lesart“. Sie beschreibt die Fabelführung, die Handlung der fünf Akte und man kann ihr – in Kenntnis der genannten bedeutenden Aufführungen – zustimmen, „dass eine grundsätzlich neue, hochbrisante Lesart des TORQUATO TASSO möglich ist, und zwar ohne äußere Eingriffe in den Text.“ Und anderer Stelle warnt sie vor Historisierung (formal tue ich das auch) wie vor Aktualisierung – so platt wie meist geht diese fast immer schief. Wie so oft gehabt: nur anthropologisches Denken anstelle in disharmonischem Klang mit dem historischem! Menschen des 16., 18. oder 20. Jh. sind nicht gleich, aber vergleichbar – und an klassischen Stoffen und Texten ist immer das interessant, was als nicht gelöste Widersprüche bzw. Konflikte wie unerledigte Forderungen und weiterreichende Ideale bei uns ankommt bzw. über uns hinausgeht.
Was im Falle „Tasso“ nicht sein sollte: 1. Akt – Irgendein mittelstädtischer Vorgarten mit Mülltonnen; 2. Akt – Hinterzimmer einer Berliner Kneipe, in Wien Beisel; 3. Akt – Frauentoilette desselben Beisels (Berlinisch Kneipe); 4. Akt – Müllcontainer, worin Tasso masturbiert und weint; 5. Akt – Müllberg hinter Oranienburg mit Müllverbrennungsanlage: Tasso erschießt mit Kalaschnikow Antonio, pisst auf die Leiche und vergewaltigt diese: „So klammert sich der Schiffer endlich noch/ am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.“
Meine Damen und Herren, Sie grauen sich, verteufeln mich oder lachen: Gehen Sie in diese sog. „modernen Theater“, dieses Regisseurstheater, Theater mittlerer bis schwacher Intelligenzen und sie werden ihr grautrübes Antiwunder hautnah erleben! Kein Goethe noch Schiller, Sophokles oder Shakespeare, Ibsen noch Strindberg ist vor ihnen sicher. Beckett hatte zwar die Mülltonne auf die Bühne gebracht, war darüber, als er die Folgen gesehen hatte, recht unglücklich. So hatte er es nicht gemeint. Brecht ist noch bis 2026 geschützt – ein Glück! Wenn auch nicht völlig! Und so wird man die Wahrheit über diese großartige, deutschlandmögliche Liebes- und Politik-Symbiose Anna Amalia – Goethe zumindest auf der Bühne nicht sehen können. (Vom gutgewollten Senftenberger Beispiel einmal abgesehen!)
So weit – so schlecht, was unser heutiges in seinem Mainstream betrifft! – So gut, wenn die Denkweise Kahl gemeint ist. Ihr Vorschlag zur Parabel ist annehmbar!
Nun bleiben mir nur noch einige Sätze zu Detlev Forst „Die ‚Wilhelm Meister‘-Lieder in der Vertonung von Schubert – oder ‚Ein Eiertanz‘ “. So ein bescheidener Text mit solcher Aufschlüssigkeit – das ist gekonnt und ich verneige mich! Zunächst hat Forst recht, dass – so genial dieser Schubert seine Lieder gemacht hat – es noch viel mehr gute Leute gibt, gute Komponisten, die diesen unergründlichen Ocean Goethe durchtauchen und feststellen, dass es da Verbindungen zu anderen Meeren gibt, nicht so groß vielleicht wie der pazifische Weimarer aus Frankfurt, aber tief und ebenso unergründlich, mediterran und atlantisch zugleich – amalienhaft eben!
Hermann Hesse hatte seinen Spielmeister im „Glasperlenspiel“ Josef Knecht, in Verehrung des Meisters, der seinen Helden in Lehr- und Wanderjahren Wilhelm Meister genannt hatte. Sein Auto-Ich-Schöpfer war – wie ich an anderer Stelle gesagt hab, ein Meister der Tarnung. Man braucht viel Zeit – die deutsche Kritik, die auch „Wissenschaft“ genannt wird, was auch heißen kann, dass jede Wissenschaft mit Kritik beginnt, bevor sie Entdeckungen macht oder gar Visionen hervorbringt, hat sich jede Zeit genommen, Goethes Tarnungen zu enttarnen: so ganz rund gerechnet (zwischen Tatgeschehen und Ruhmende des Weimaraners das halbe Jahrhundert einbezogen, mitgerechnet) zwei Jahrhunderte.
Weniger deutsche Forscher und Interpreten haben den deutschen Allgott der Literatur in seinem Verhältnis zur deutschen und Weltrealität richtig gesehen – eher Dichter (wir nannten eingangs einige), dazu Literaturfreunde von außen: Ärzte, Juristen, Ökologen, Psychoanalytiker, Schriftsteller bzw. andere Dichter-Kollegen; anders gesehen: Opfer, Remigranten, Verfolgte; oder: Italiener, Juden, Russen. Forst ist von Hause aus Chemiker, heute als Emeritus ein wichtiger Ökologe. Just dieser hat den „Wilhelm Meister“ zugänglicher gemacht. Und das will etwas heißen bei dieser „unkalkulablen“ Produktion, an der sich Generationen so heiß wie müd gelesen und gelangweilt haben. Und dabei ein erstklassiges Werk der Weltliteratur! Das Werk eines „Eiertänzers“ – in bezug auf eine Art Volkstanz der Geschicklichkeit, den ich in den fünfziger Jahren noch auf Kleinstadtmärkten in Tirol gesehen habe, ziemlich weit im Süden. Der Eiertänzer Goethe, der in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, hat auch hier wieder in den verschlungenen Verhältnissen um Wilhelm, Mariane, Mignon, den Harfner (der Künstler sui generis) Schleier gewoben, die der Menge oder den Herrschenden den Blick versperren, aber den Sehenden, Wissenden ermöglichen soll, kann…. Goethe ist in fast jeder Figur wie Anna auch. Schuberts Musik klingt nach – nachdenklich!?- Werden die „Lehrjahre“ zu LEHRJAHREN der Menschheit werden?
Zahnärzte werden, so lange diese sonderbare Menschenwelt noch besteht, nicht arm werden. Wir werden uns die Zähne brechen – sie haben zu tun. Aber das Gebiss retten? Die Menschen werden sich wohl nicht mehr durch die von ihnen hervorgebrachten Nuklearwaffen (aus den geheimsten Kräften der Natur geschaffen) vernichten – da hat die Vernunft noch einmal gereicht. Wohl eher durch ihre fürchterliche, inzwischen Angst gebietende Zeugungskraft! Das „Stirb und Werde!“ des Altmeisters vom Frauenplan ist offenbar falsch angenommen worden. So haben Anna Amalia und ihr großer Geliebter das Werden sicher nicht verstanden Da ist Kants und Lessings Vernunft offenbar in der Allumarmung untergegangen – und selbst das großangelegte Reformmodell des Kleinstaats hatte die gewünschte Strahlkraft nicht. Das Prinzip Hoffnung und die Kraft von klassischer Literatur waren – sind – an ihre Grenzen gekommen. Was gilt? Lassen Sie mich schließen mit einem Satz des sozialistischen Neu-Klassikers Peter Hacks: „Ich hoff, die Menschheit schafft es!“
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