Der Weimarer Denkerfürst Johann Wolfgang Goethe hatte im Jahre 1787 in einem Brief an seine damalige Jugendliebe Charlotte von Stein ein düsteres Zukunftsmodell der globalen Gesellschaft gezeichnet. Goethe, der Empiriker, Naturwissenschaftler und methodische Analyst, der die Welt vom Kleinen zum Großen hin kartographierte, um vom Besonderen das Allgemeine und das Gesetz zu abzuleiten, warnt von einer Welt als großem Hospital als neuer Apokalypse. Damit gibt der bekennende Spinozist und Pantheist seine Prophetie der Zukunft, die als Weltmetapher zugleich als pathologischer Befund für eine globale Immunschwäche gelesen werden kann.
Bereits vor 233 Jahren spricht Goethe von einer großen Krankheit, die die Zivilisation bedrohe. Und tatsächlich ist sein Schreckensszenario heute aktueller denn je. Inmitten des 21. Jahrhunderts zeigt sich die technisch-zivilisierte Welt für Krisen anfälliger denn je. Das Veloziferische erobert sich seine Domänen zurück und die Mikroorganismen übernehmen in Form eines pandemischen Zeitalters die Weltherrschaft im Sinne einer neuen Evolutions-Dynamik. Von Weltteil zu Weltteil springt die entfesselte Urkraft der Natur, schafft sich neue Ermächtigungsspielräume und offenbart damit ihr gewaltiges Potential, es der ungezügelt-maßlosen Vernunft gleichzutun. Während die Vernunft nach der Aufklärung zum Maß der Dinge avancierte, sich als universell tätige Kraft des Machbaren kaprizierte und damit ihren universellen Geltungsanspruch einklagt, zeigt sich im Umkehrschluss einer ausufernden-grenzenlosen Vernunft letztendlich auch jene Dialektik der Aufklärung, die in ihr Gegenteil verfällt. Zwar geht sie nicht im Sinne von Max Horkheimer und Theodor Adorno ins Mystische. Doch ihre Grenzen und ihre Hybris werden augenscheinlich. Der Siegeszug der Vernunft, alles und jeden in ihren Bann zu schlagen, die Beschleunigung in die Maßlosigkeit zu treiben, führt nicht zum Heil, sondern zum Unheil.
Goethe spricht dabei ,wie später Sören Kierkegaard, von einer großen Krankheit, die nicht zuletzt darin rührt, dass der Mensch im Wahn seiner subjektiven Selbstüberschreitung die Schleusen der Pandora geöffnet hat, die zu schließen im pandemischen Zeitalter nun für ihn immer schwerer werden. Für Goethe, der in der Natur ein großes Geheimnis sah, dass er Zeit seines Lebens zu entschlüsseln suchte, ist es letztendlich die Zivilisation selbst, die einen Entfremdungsprozess gegenüber der Natur eingeleitet hat. Die Diagnose fällt dann in eine Analyse der menschlichen als Teil der großen panthetisch-geordneten Natur, die all ihrer Heiligkeit und Ganzheit zunehmend beraubt wird. Bereits im Jugendwerk „Werther“ zeichnet der Frankfurter Jurist und spätere Geheime Rat die „Krankheit zu Tode“ als jene, „wodurch die menschliche Natur so angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist“.
Damit ist Goethe Chronist und kritischer Visionär zugleich. Chronist, weil er in der exponentiellen Beschleunigung der industriellen Revolution eine Gefahr dafür sieht, dass diese die Natur zum „Spaße“ missbraucht. Visionär, weil eine Missachtung der Natur als wirtmächtigste Bedingung des Lebens, die Selbstzerstörung des Menschen und des Planeten mit impliziert, eine Wahrheit, die erst im 20. Jahrhundert vom „Club of Rome“ in all ihrer Dramatik wiederentdeckt wurde. Und im Unterschied zum prometheischen Menschen, der in die Brunnenstuben hinabsteigt, um sich die Welt Untertan zu machen, hält Goethe an der Erkenntnis fest, dass die Natur gar keinen Spaß versteht, „sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen“, wie es in einem Gespräch mit seinem Sekretär Johann Peter Eckermann aus dem Jahr 1829 heißt. Es sind und bleiben die großen Späße mit der Natur, die die Welt zunehmend zu jenem großen Hospital machen, die letztendlich auch zu jener großen Immunschwäche führen. So sehr die Diagnose Goethes beunruhigt, so gibt er doch ein Krisenmanagement an die Hand. Nicht nur, dass er fordert, dass ein jeder ein „humaner Krankenwärter“ des anderen sein sollte, eine Idee des Humanen in der weltzeitlichen Katastrophe, sondern er bestärkt den Einzelnen darin, die Kräfte des Immunsystems einerseits „durch einen entschiedenen Willen“ zu stärken und verordnet andererseits ein Maßhalten und eine Entschleunigung. Gerade in der „Übereilung“ sieht der die Krankheit der Moderne am Werk, die sich in der Postmoderne geradezu in ein exponentielles Wachstum gesteigert habe.
Schon im Jahr 1825 gibt er in einem Brief an Zelter die Diagnose. „Alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“ Die große Gesundheit, die Goethe allerdings nicht in einem übermenschlichen Streben mit einem inkludierten Willen zur Macht wie Nietzsche sieht, zeigt sich aber für ihn einerseits in einer Ökologie des Humanen und anderseits mittels eines kategorischen Imperativs der Ökologie für das 21. Jahrhundert. Es bedarf in allen Fällen einer Katharsis, einer Zurückhaltung des Menschen und ein sorgender Umgang mit der Natur, die Goethe anders als das Christentum nicht als Schöpfung, sondern als Pantheismus begreift, wo Gott in allem wohnt. Was daher sein kategorischer Imperativ gebietet, ist eine Umkehr und Reinhaltung der Elemente der Natur wie Luft, Wasser und Erde. Nur durch dieses „heilige Vermächtnis“ als ein globales „brüderliches Wollen“ vermag es gelingen, katastrophale klimatische und pandemische Hospitalisierungsfolgen für den Planeten Erde und seine Bewohner, wenn nicht endgültig zu beseitigen, so doch zu lindern. Und so fordert Goethe lange vor Hans Jonas‘ „Das Prinzip der Verantwortung“ nicht nur eine Ökologie des Menschen, sondern eben auch einen Gesinnungswandel hin zur Mäßigung.