1.1. Die Philosophie des Alevitentums
Einen regen Zulauf konnte ein Philosoph und Reformator im 13. Jahrhundert in Ostanatolien unter der einfachen Bevölkerung verzeichnen. Es war Haci Bektas Veli, der Begründer des Alevitentums, dessen Lehre über Humanismus, Liebe und Toleranz handelte und eine Alternative gegenüber des despotischen Seldschukenreiches und später der strengen Scharia-Regel des osmanischen Staates darstellte.
Haci Bektas’ Lehren sowie Anschauungen der Welt gegenüber war in der damaligen Zeit in Anatolien revolutionär, denn sie waren freiheitlich, tolerant und humanistisch. Anatolien war oft Schauplatz vieler Kriege und die Menschen fanden in der Philosophie des Alevitentums Trost.
Aber obwohl das Alevitentum in seiner Theorie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, den Humanismus sowie Toleranz offen darlegte, sah die Praxis jedoch anders aus. Das Leben war geprägt durch die Landarbeit, Frauen besaßen kaum Mitsprachrecht und die Dorfbewohner waren hauptsächlich Analphabeten, hatten nicht die Möglichkeit Schulen sowie Universitäten zu besuchen.
Das Dorfleben der Aleviten unterschied sich nicht sonderlich von denen der Sunniten. Es war segmentär, patriarchalisch sowie traditionell. Die mechanische Solidarität ließ keine Individualität zu. Der Alltag bot nicht den entsprechenden Rahmen für die Entfaltung des Alevitentums und ihrer Philosophie. Nur in der religiösen Zeremonie, des Cem’s, nahmen Mann und Frau gleichberechtigt teil, um sich dem Spirituellen hinzugeben.
Die Philosophie der Liebe und Toleranz entsprach nicht der osmanischen Islamauslegung, was einen weiteren ausschlagsgebenden Grund für die Nichtentfaltung der Philosophie im Alltag ausmachte. In den Städten hatte das Alevitentum erst recht keine Chance. Lediglich in dem zeremoniellen Cem konnte die alevitische Lehre umgesetzt werden.
1.2. Unterschiede zwischen dem Alevitentum und Sunnitentum
Dies ist auf die Tatsache zurück zu führen, dass die Aleviten, deren Glaube und Philosophie christliches, jüdisches sowie vorislamisches Mystikverständnis in sich vereint, durch ihre mystische Auslegung des Islams sowie ihrer Nichtbeachtung der fünf Gebote des Korans verfolgt wurden und sich daher in abgelegenen Dorfregionen niederließen, um für mehr Sicherheit die Abgeschiedenheit in Kauf zu nehmen. Aleviten sind Pantheisten und glauben nicht an einen personifizierten Gott. Weiterhin besuchen sie keine Moscheen. Das Paradies sehen Aleviten auf Erden..
Vor allem in alevitischen Gedichten und Liedern kommt die Philosophie zum Vorschein, die voller Melancholie und Sehnsucht ist. Sehnsucht nach einer besseren Welt, von Freiheit und Frieden und nach konfessionaler Selbstbestimmung.
Im Gegensatz zu der sunnitischen Mehrheit, glauben die Aleviten an eine Wiedergeburt des Verstorbenen, sprich, die Seele wird sich nach dem Tod mit einem neuen Menschenkörper vereinigen. Der Glaube an die Wiedergeburt unter den Aleviten stammt vermutlich aus der vorislamischen Zeit.
Die Sunniten dagegen gehen davon aus, dass die Seele bis zum jüngsten Gericht im Grab auf die Erlösung warten wird. Daher stößt bei den orthodox denkenden Sunniten der Glaube an eine Wiedergeburt unter den Aleviten auf Unverständnis. Im Gegensatz zu ihrem Glauben kennt die alevitische Minderheit in der Türkei zudem eigentlich keine Hölle bzw. Himmel und die Aleviten schwören auf Gottesliebe anstatt mit Gottesangst Furcht unter den Gläubigen zu verbreiten.
In den Gedichten des türkischen Dichters Yunus Emre und auch vieler anderer alevitischer Dichter wurde der Tod als der Beginn einer Wiedergeburt beschrieben und nicht als etwas endgültiges. Die Seele ist göttlich und somit unsterblich.
Aber es muss erwähnt werden, dass während der jahrhundertlangen Assimilationspolitik durch die sunnitische Mehrheit vieles von dem Brauch der Aleviten verloren gegangen ist bzw. durch die Abgeschiedenheit der alevitischen Dörfer sich regionale Unterschiede entwickelten, die leicht verschiedene Ansichten über die alevitische Lehre entwickelten. Schließlich hatte auch die Stadtflucht bzw. die Abkehr vom Dorfleben dazu beigetragen, dass unter den Aleviten einiges an Kultur und Tradition ihres Glaubens verloren ging. Daher ist die Wiederfindungsphase der Aleviten noch nicht abgeschlossen.
1.3. Konfrontation mit der Moderne
Die alevitische Philosophie, mit ihrem humanistischen Schwerpunkt, konnte sich erst mit jahrhundertlanger Verspätung im Zuge der Globalisierung entfalten. Unter Globalisierung wollen wir die Urbanisierung, das Annehmen linker Ideologie, die Emanzipation der Frau, die Nationalitätsfrage, die Konfrontation mit der Moderne bzw. mit der Außenwelt und der Verfall der Traditionszwang verstehen. In den Großstädten konnten somit die Fesseln der Traditionen aufgelockert werden. Die einschränkenden Normen und Werte verloren an Bedeutung und eine Orientierung an allgemeinen demokratischen Werten fand statt. Aber auch in den alevitischen Dörfern hatte die Globalisierung nicht halt gemacht.
Aber mithilfe der Globalisierung konnte das Alevitentum sich in seinem philosophischen Element trotzdem nicht vollständig entfalten. Die Emanzipation der Frau ist schon auf seine Grenzen gestoßen. Die Moral einer Familie wird immer noch über die weiblichen Familienmitglieder bestimmt, z.B. Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren. Ehre und Würde haben auch in der Diaspora noch einen hohen Stellenwert. Es ist eben ein langwieriger Prozess, die veralteten, traditionalistischen Ansichten aus der patriarchalischen Welt auszumerzen.
Aber die Globalisierung bereitete der alevitischen Gemeinschaft neue Probleme. Sie musste immer noch ihre Identität gegenüber der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft geheim halten, um ungestört am sozialen Leben teilnehmen zu können, denn die Vorurteile gegenüber der alevitischen Minderheit waren (und sind) immer noch unter den stark religiösen Sunniten vorherrschend. Andererseits herrschen auch unter den Aleviten Vorurteile sowie Stigmatisierungen gegenüber den Sunniten, allein über einen Menschen negativ zu reden, verstößt schon gegen die alevitische Philosophie, nämlich jeden Menschen als etwas göttliches und somit vorurteilsfrei anzusehen.
Burak Gümüs stellte in seinem Buch „Türkische Aleviten“ fest: „Alevitische Autoren bzw. Personen versäumen bei dem Vergleich zwischen dem Aleviten- und Sunnitentum, eine Unterscheidung zwischen Norm- und der tatsächlichen Verhaltensebene, zwischen Anspruch und Wirklichkeit vorzunehmen…“. Dieses Selbstbewusstsein, die sich zur Überheblichkeit steigern kann, ist unter den Aleviten ein Phänomen der 90’er Jahre. Davor galt es, die alevitische Herkunft der Außenwelt nicht anmerken zu lassen.“
Die Philosophie des Alevitentums, so humanistisch und bescheiden sie auch sein mag, kann in der Praxis nicht perfekt umgesetzt werden. Entweder überfordern die alevitischen Normen und Werte die Menschen oder die Gesellschaft bietet nicht den gewünschten Rahmen für die Umsetzung. Entsprechend der alevitischen Philosophie kann die Welt nur dann zum guten gelangen, wenn die Menschen zuallererst mit Selbstkritik beginnen und dann kann nach den Irrtümern in der Welt gesucht werden. Selbstkritik bedarf jedoch einer großen Willensakt.
1.4. Linke Ideologie als Ersatzkonfession
Die Säkularisierung der Aleviten in den Städten der Türkei führte zur Orientierungslosigkeit sowie Neuorientierung. Während der 60’er sowie 70’er Jahren in der Türkei entdeckten viele Aleviten die linke Bewegung für sich, um im Lande auf politischer Ebene mehr Gerechtigkeit walten zu lassen. Ein weiterer Grund, warum die linke Ideologie die junge alevitische Generation anzog, war der, dass es mit der alevitischen Philosophie viele Gemeinsamkeiten hatte, wie z.B. Kampf gegen Unterdrückung, Gleichberechtigung etc.
Aber der Militärputsch im Jahre 1980 zerschlug die Träume der Linken sowie die der alevitischen Anhänger. Viele Aleviten distanzierten sich in den kommenden Jahren vom linksradikalem Spektrum und orientierten sich erneut wieder verstärkt an ihrer Konfession.
Mit der Reislamisierung, die der linken Ideologie den Wind aus den Segeln nehmen sollte, sahen sich die Aleviten erneut durch eine sunnitische Politik bedroht. In dem Artikel „Aleviten im Wandel der modernen Geschichte“ von Hans-Lukas Kieser wird daher folgendes festgestellt:
„Das türkeigeschichtlich herausragende Phänomen der alevitischen Renaissance fiel nicht von ungefähr zeitlich zusammen mit der öffentlichen kurdischen Artikulation in der Türkei seit Ende der 1980er Jahre. Zweifellos ermutigte der Kampf der Kurden um kollektive Anerkennung die Aleviten zu einem identitären coming out. Im Zeichen medialer Liberalisierung behinderte der Staat diesen Prozess wenig, ja unterstützte ihn bisweilen gezielt, um die Aleviten vom Lager der militanten Kurden fernzuhalten. Zum historischen Kontext der alevitischen Renaissance gehören aber noch weitere Faktoren. Zu nennen sind die Erfahrung einer verlorenen Generation von Aleviten, nämlich jener 68er Protestjugend, deren sozialrevolutionärer Kampf gescheitert war. In einem Kontext, den global das Ende des Kalten Krieges und regional der blutige Guerillakampf prägten, trug dies zu einer Suche nach Identität jenseits politischer Ideologien bei und zum Rückgriff auf ein (…) [Alevitentum], das die Protestgeneration zu pauschal abgewertet hatte. Als Katalysator für diesen Prozess wirkte sich der am 2. Juli 1993 in Sivas von einem islamistischen Pöbel verübte Massenmord an alevitischen Künstlern aus.“
Über Jahrhunderte bilden die Aleviten eine sozialpolitische, heterodoxe Gemeinschaft, so dass die Konfession ihre Identität ausmachte. Die Konfrontation mit der Nationalitätsfrage wurde eine Zerreißprobe für die Aleviten während des Konflikts zwischen der PKK und der Türkei in den 80’ern des letzten Jahrhunderts, in der Kurden und Türken die Aleviten, vor allem in den 90’er Jahren, für sich umwarben. Ein Teil der kurdischen Aleviten, vor allem aus der Region Dersim, unterstützten die PKK in ihrem Unabhängigkeits-Kampf gegen die Türkei. Die Suche nach der nationalen Identität zerspaltete die Aleviten in Regimetreuen und Regimegegnern und zwischen den Aleviten eine Kluft geschaffen.
1.5. Die Organisation der Aleviten
Ende der 80’er Jahre begann die Organisation der Aleviten und die Suche nach ihrem fast verloren gegangenem Glauben. Aleviten lebten in den Städten zwar vielleicht der Philosophie entsprechend, aber durch ihre Geheimhaltung, sei es ob aus Scham, Furcht oder Desinteresse. So bemerkt Dr. Krisztina Kehl-Bodrogi in ihrem Artikel „Glaubenslehren der Aleviten“:
„Angesichts der vorangehenden Säkularisierung wurde die Rekonstruktion der religiösen Traditionen zur zentralen Aufgabe der Bewegung. Dabei ist – bedingt durch die mündliche Wissensvermittlung in der Vergangenheit – ein breiter Raum für Interpretationen gegeben. Die fehlende Kodifizierung der Lehre bedeutet aber auch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil für das (…) [Alevitentum]. Ohne den Hemmschuh einer in Schrift gegossene Lehre kann es sich leichter an veränderte Bedingungen anpassen; ein Umstand, der Religionen mit Schrifttradition ungleich schwerer fällt.“
Vor allem in der Diaspora organisierten sich die Aleviten recht erfolgreich, um sich Gehör verschaffen zu können. Die größte Organisation ist zurzeit die Föderation der alevitischen Gemeinden in Deutschland (AABF). Die alevitischen Organisationen in Europa engagieren sich für den interreligiösen Dialog und für die Wiederbelebung ihrer Konfession. Sie ist bereit, sich mit der Moderne auf allen Ebenen auseinander zu setzen. Von Vorteil ist es, dass das Alevitentum keine Buchreligion ist sowie keine geistliche Institution besitzt, die Dogmen aufstellen kann.
Beatrice Hendrich bemerkte in „Die Feierlichkeiten von Hadschi Bektasch“, dass:
“Viele der Diskussionen zeigten, dass die Arbeitsmigration aus der Türkei nach Europa jetzt ganz ungeahnte Früchte zu tragen scheint: Die in Europa sozialisierten Kinder der Auswanderer, die in die Türkei zurückkehren oder geradezu zwischen beiden Welten hin und herpendeln, geben der Diskussion eine neue Richtung und eine veränderte Qualität. Anders als es die einseitigen Beschwörungen von in den Einwandererländern entstehenden „Parallelwelten“ suggerieren wollen, ist das (…) [Alevitentum] somit zu einem die verschiedenen Lebenswelten verbindenden Phänomen geworden.“
1.6. Uneinheitliches Alevitentum
Es gibt innerhalb des Alevitentums in der Diaspora zwei Bewegungen. Die eine möchte das Alevitentum mehr aus der philosophischen Sichtweise betrachten und die religiösen Elemente nicht zu sehr hervorheben, damit die freiheitlichen Gedanken dieser Konfession erhalten bleiben sowie verstärkt werden können. Die andere Bewegung aber strebt mehr in die dogmatische Richtung, andere sprechen auch von der Dogmatisierung des Alevitentums, die der Konfession mehr Institutionalität sowie Religiosität verleihen wollen, um so mehr religiöse Annerkennung zu erlangen.
Die Philosophie des Alevitentums wurde während der 60’er und 70’er Jahre durch die linke Ideologie bereichert, so dass viele Jugendliche bei der Frage, was ihnen am Alevitentum wichtig sei, unter anderem den Widerstand gegen die Ungerechtigkeit erwähnen. Weiterhin hatte der Kampf der Kurden dem Alevitentum Mut zur Artikulation gegeben.
So heterodox die Gemeinschaft der Aleviten, so vielfältig das Reservoir ihrer Kultur, ihres Glaubens sowie ihrer Philosophie auch ist, dies trifft ebenfalls auf ihre Weltansicht zu. An Streitkultur untereinander mangelt es nicht. Zum Schluss kann gesagt werden, dass die Globalisierung der alevitischen Philosophie die Möglichkeit zur Entfaltung gegeben hat, jedoch mit gewissen Einschränkungen.
Selbst die Zuhilfenahme von Religionen und Ideologien um die Welt menschlicher, gerechter und freiheitlicher zu gestalten, scheitert an den Bedingungen der Gesellschaft, die primär allein von Bedürfnisbefriedigungen geprägt zu sein scheint.
Literaturquellen
Gümüs, Burak: Türkische Aleviten. Vom Osmanischen Reich bis zur heutigen Türkei. Konstanzer Schriften zur Sozialwissenschaft. Konstanz 2001.
Kieser, Hans-Lukas: Aleviten im Wandel der modernen Geschichte. http://www.hist.net/kieser/pu/AleviModerne.html
Kehl-Bodrogi, Dr. Krisztina: Glaubenslehren der Aleviten. www.meome .de (nicht mehr im Internet!)
Hendrich, Beatrice: Die Feierlichkeiten von Hadschi Bektasch. http://www.alewiten.com/diefeierlickeiten.htm
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