Es war wohl nicht so gar nicht nach dem Geschmack des (Premieren-)Publikums, dass Jung-Regisseurin Barbara Wysocka, die von der Geige übers Schauspiel zur Oper fand, ihrMünchner Nationaltheater-Debüt stur in die korruptionsgeladenen, machtlüsternen US-amerikanischen 50-er/60-erjahre verlegte. Die Buhs, die den enorm hohen Schlussapplaus-Pegelstand für den gleichwohl brillanten musikalischen Anteil der Neuinszenierung von Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ durchsäuerten, sind ernstzunehmende und leider auch zutreffende Indizien des Missfallens. Dabei hatte Wysockasich so viele kluge Gedanken gemacht, noch bevor sie vor 6 Wochen ans Werk ging, um an der Bayerischen Staatsoper an frühere Erfolge (mit „Wozzeck“/‘Wozzeck“ an den Münchner Kammerspielen) anzuknüpfen. Wysocka verlegte die von Walter Scott erdachte mittelalterliche Szenerie einfach in die Zeit sechzig Jahre vor 2015: Skandale der Kennedy-Family, Onassis-Callas-Affäre, Sexkultfigur Marilyn Monroe. All das inspirierte die Polin zu ihrer harten, aber unfairen Umdeutung des spukhaften Schottland-Szenarios in eine schäbige Ruine, die wohl mal das Weiße Haus war:Symbol für die seelischen Abgründe der hier agierenden Rest-Seelen. Lucia ist, angedeutet von der Mädchen-mit-Revolver-Metapher im 1. Bild, der bedauernswerte Spielball im Netz von Machtgelüsten und Clan-Zwist zweier verfeindeter, männlich dominanter „Parteien“ und Opfer der eigenen, ihr von Wysocka aufgezwungenen Stärke. Das Zerbrechliche der mädchenhaft-unsicheren Titelfigur ging unter. Ihr, der Schwachen, wachsen Kräfte zu, den ungeliebten Ehemann zu morden.
Bösen Zungen zufolge geschieht dies, damit das arme Geschöpf am Ende des dreistündigen Dramas zu ihrer die Operngeschichte krönenden so genannten Wahnsinnsarie kommt. Alles wartet auf die glitzertönenden Minuten im letzten Akt, wenn Lucia, in „klassischen“ Aufführungen im blutbesudelten weißen Nachthemd, wie benommen von ihrer im Irrsinn begangenen Mordtat, erscheint und im spinösen Duett mit der Glasharmonika kostbare Koloraturen abperlt. So wie Diana Damrau, die überragende Münchner Lucia, diese Paraderolle noch vor ein paar Jahren an der New Yorker Met spielte. In München muss/darf sie sich da zurücknehmen, muss aber blödsinnigerweise mit dem Revolver herumfuchteln. Mit ihrer biegsamen, kristallinen, injeder Phrase ihres Gesangs bleibt sie warm und innig. Ihre Ensemble-gestützten Spitzentöne elektrisieren. Mühelos überstrahlt ihre Stimme den kompakt singenden Staatsopernchor und das meist wuchtig dreinschlagende Orchester. Der geisterhaft-fragile Klang der Glasharmonika begleitet sanft. Die von Kirill Petrenko herb und heftig aufgefassten, sich oft aufbäumenden Belcanto-Untermalungen entrückt das Glasröhrenspiel ins Unheimliche.
Den musikalischen Gipfel erklimmt Petrenko – bei allen gut ausgesuchten Solisten, zumal dem energisch zupackenden Rollendebütanten Pavlo Breslik als suizidalem Eduardo – diesmal nicht. Erstmals am Pult einer Belcanto-Oper, träufelt er den Schöngesang weniger fein dosiert und traumverloren als mit dem ihm eigenen perfektionistischen Kraftaufwand ins Ohr des Hörers. Wie der stets in Hochspannung stehende GMD den sich dramatisch zuspitzenden Schluss des 2. Akts (Sextett) betäubend gestaltet – das ist solitär im sonst so gefühlsgesättigten Genre des Italienbelcanto. Wie Petrenko dennoch stets den Sängern, zumal den herrlichen Piani der Damrau, den Vortritt lässt, dabei aber das Orchester quasi für einen donnernden Psychothriller einsetzt – das ist selten im Musiktheater.
Die weiteren Aufführungen der neuen Münchner „Lucia“ sind allesamt ausverkauft, als hätten die Kartenbesitzer geahnt, was sich da Bemerkenswertes – zumindest musikalisch und gesanglich – ereignet in einer „Lucia di Lammermoor“, die, ihrer seit 180 Jahren als unverzichtbar gegoltenen Romantik entkleidet, die Opernwelt verblüfft.
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