Gleichgültigkeitversus Langeweile oder Widerwillen gegen die Wirklichkeit

Alberto Moravia, La Noia, Titel der Originalausgabe: La Noia, Aus dem Italienischen von Percy Eckstein und Wendla Lipsius, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (April 2009), 336 Seiten, Kartoniert, ISBN-10: 3803126126,ISBN-13: 978-3803126122, Preis: 12,90 EURO

„Am Anfang war die Langeweile.“ So fundamental sieht sie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855). „Die Götter langweilten sich, darum schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva geschaffen. Von diesem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt und wuchs an Größe in genauem Verhältnis zu dem Wachstum der Volksmenge. Adam langweilte sich allein, dann langweilten sich Adam und Eva und Kain und Abel en famille, dann nahm die Volksmenge in der Welt zu, und die Völker langweilten sich en masse. Schließlich bauten die Völker aus Langeweile den babylonischen Turm.“ Kierkegaard zufolge ist die Langeweile nicht irgendeine beliebige Befindlichkeit des Menschen, sondern sie ist für die Entwicklung der menschlichen Kultur insgesamt verantwortlich.
Dieser Gedankengang hat durchaus seine Berechtigung, denn in der Langeweile begehren wir etwas vom Leben, was wir in dem gegebenen Zeitpunkt nicht bekommen oder herstellen können. Und je quälender die Langeweile ist, desto mehr scheint es den Menschen nach etwas Autokratischem zu verlangen, nach etwas ganz Besonderem. Dabei kann der Mensch vielleicht sogar eine gewisse Sinnerfahrung entwickeln, die die Sinnkrise, die mit der Langeweile verbunden ist, zumindest immer wieder vorübergehend aufheben kann.
Schon viele Philosophen (z. Bsp. Jean-Paul Sartre mit „Der Ekel“), Künstler und Psychologen haben sich mit diesem menschlichen Phänomen auseinandergesetzt. So auch Alberto Moravia (1907-1990), einer der bekanntesten und erfolgreichsten italienischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, mit seinem Roman „La Noia“, der nach eigenen Angaben in einer persönlichen Krise entstand und für den er 1961 den angesehenen italienischen Viareggio-Preis erhielt. Der Titel wurde dankenswerterweise nicht ins Deutsche übertragen, denn „Die Langeweile“ – so die korrekte Übersetzung – gibt keinesfalls das wider, was von Moravia gemeint war. „La Noia“ charakterisiert vielmehr eben dieses Lebensgefühl, die allgemeine Grundstimmung in der „bestellten“ Wohlstandswelt der Moderne: Unbefriedigtheit, Lebenslähmung und -überdruss, Weltekel, einhergehend mit Entfremdung – eine „metaphysische Langeweile“, wie sie der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Theodor Jaspers (1883-1969) bezeichnete.

Sexuelle Obsessionen

Moravias Protagonist, der 35-jährige Maler Dino, Sohn einer reichen Mutter, lebt in Rom und ist von eben dieser Langeweile, dieser „Art Unvergnügen oder Unangemessenheit oder Spärlichkeit der Realität“ befallen, die zuerst seine Beziehung zu den Dingen und dann die Dinge selbst zerstört, sie für ihn sinnlos und unverständlich macht. „La Noia“ entsteht bei ihm „aus dem Gefühl der Absurdität einer Wirklichkeit“, die unzureichend ist und ihn „nicht von ihrem wirklichen Dasein zu überzeugen vermag.“ Durch die finanziellen Zuwendungen seiner Mutter muss er zwar nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen, trotzdem distanziert er sich von ihr und deren gesellschaftlichem Leben, das er aufs Verächtlichste hasst. In seinem Atelier, weitab der großen Villa seiner Mutter an der Via Appia, lebt er ein zurückgezogenes Leben in einem Zustand von Fremdheit und Ablösung. Letztendlich gibt er sogar seine Malerei aus diesem Gefühl der Sinnlosigkeit, dem „Fehler der Beziehung zu den Dingen“ auf. Er selbst bezeichnet sich als eine Art Ruine oder Trümmerrest, an dessen Zustand seine Mutter einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet hat. Dino empfindet nur noch Widerwillen, Ekel und Abscheu mit seinem Leben.
Als er die 17-jährige Cecilia kennenlernt, die bis zu dessen Tod Geliebte und Modell eines älteren Malers war, wird sein Leben in den Grundfesten erschüttert. Seine Langeweile trifft auf ihre zwiegespaltene schlichte Belanglosigkeit, ja Gleichgültigkeit sowie ihre Unfähigkeit, die Welt um sich herum wahrzunehmen und Gefühle zu entwickeln („Sie hatte nur Appetit auf das Geschlechtliche, ohne sich dessen aber voll bewusst zu sein. Infolgedessen ließ sie sich gänzlich passiv treiben.“). Eine sexuelle Obsession beginnt, die in ihren Grundzügen der vorangegangenen manischen Beziehung Cecilias ähnelt („Wenn ich sie über die Vergangenheit und über Balestrieri ausfragte, fragte ich sie über die Zukunft und über mich selbst aus“). Dino verfällt Cecilia zunehmend, vor allem als das triebhaft gesteuerte Mädchen beginnt, ihn mit einem Schauspieler zu betrügen. Vergeblich versucht er sie „zu besitzen“, in ihr Seelenleben einzudringen, um vielleicht dadurch aus dem Käfig der Langeweile zu entfliehen. Doch weder durch Geld noch durch einen Heiratsantrag kann er die Liebe oder zumindest das Interesse Cecilias gewinnen. Erst ein schmerzhafter Ausbruchsversuch lässt ihn Rechenschaft über seine Situation ablegen und ein neues Leben als Möglichkeit ins Auge fassen.

Handlungsunfähigkeit der Charaktere

Mit seinem ureigenen Duktus, der großartig von den beiden Übersetzern Percy Eckstein und Wendla Lipsius ins Deutsche übertragen wurde, zieht Alberto Moravia den Leser in seinen Bann. Obwohl es im Buch kaum eine Handlung gibt, vermag der italienische Altmeister auf magische Art zu faszinieren. Viele Seiten beinahe besessen genauester Beobachtungen seelischer Schlachtfelder und eigener Reflexionen des Ich-Erzählers Dino wechseln sich mit einem eigenartigen Frage-Antwort-Spiel des obsessiv veranlagten Pärchens ab. Moravia baut seine Protagonisten auseinander und zerlegt sie in ihre Einzelteile. Ihr Geheimnis jedoch, das verrät er nicht.
So wie in „La Noia“ steht im Mittelpunkt Alberto Moravias Gesamtwerkes immer der Mangel an Kontakt mit der Realität, aus dem die Langeweile, die existentielle Krise des Individuums, die passiv-gleichgültige Handlungsunfähigkeit der Charaktere entsteht. Moravias Welt scheint eine stillstehende und pessimistische zu sein, in der es keine anderen Werte außer Sex und Geld zu geben scheint und in der Hoffnung und wahre Liebe Fremdworte sind. In einem Interview bekannte der Autor: „Es ist nicht wichtig zu leben. Es ist aber auch nicht wichtig zu sterben. In gewissem Sinne ist für mich überhaupt nichts wichtig. Ich meine, es ist natürlich wichtig, dass man die Zeit irgendwie ausfüllt. Man muss sich beschäftigen. Manchmal denke ich, ich lebe, um zu erfahren, warum ich lebe, und ich schreibe, um zu erfahren, warum ich schreibe. Aber ich bin noch nicht dahintergekommen. […] Jeder soll tun, was ihm Spaß macht. In gewissem Sinne bin ich gegen nichts und für alles. Es gibt viele Wege, ein Mensch zu werden… oder ein Wurm.“

Fazit:

Realitätsmangel und daraus entstehende Langeweile stehen im Mittelpunkt dieses bereits 1960 geschriebenen Romans Alberto Moravias. Der italienische Autor versetzt den Leser in eine Welt, in der ein schwacher, unfähiger, hilfloser und gehemmter Ich-Erzähler zur Gleichgültigkeit und Langeweile verdammt ist, eingeschlossen in Einsamkeit und Traurigkeit. Dabei versteht es Moravia gekonnt und großartig, die Physiognomie seiner Protagonisten auf beeindruckende Art und Weise als Spiegel derer seelischen Verfassung einzusetzen. Gleichzeitig reflektiert er kritisch die hohle Welt des begüterten Bürgertums.

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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