Gibt es zwischen den sozialen Medien Unterschiede oder wirken sie generell belebend? Hans-Martin Esser trifft Ijoma Mangold

Mikrofon, Foto: Stefan Groß

Sehr geehrter Herr Mangold, Sie veröffentlichten in der ZEIT einen Artikel, in dem Sie erwähnten, dass soziale Medien wie Facebook durchaus belebend wirken könnten auf monolithische Medien, wie Sie diese nannten, nämlich auf Zeitungen. Hier entstehen Diskussionen, da man sich nicht hinter anonymen Phantasienamen wie troll27 verstecken kann, weil man mit seinem Klarnamen im Freundeskreis unterwegs ist. Es kommt also zu Abwägungen und Entschuldigungen. Gibt es zwischen den sozialen Medien Unterschiede oder wirken Sie generell belebend?

Zum einen muss ich sagen, dass ich diesen Text 2015 geschrieben hatte. Die Welt ist sehr schnelllebig, weswegen sich nicht jede Diagnose aus dem Jahr 2015 auch 2019 noch bewähren muss. Außerdem haben in Texten zugespitzte Thesen ja auch immer ihre Geschichte. Sie reagieren auf etwas, womit man nicht einverstanden ist, wo man mal eine Kurskorrektur machen möchte. Bei Konservativen gibt es ja diese Vorstellung, die mir sehr behagt: dass man, wenn ein Schiff zu sehr nach links krängt, man nach rechts rennen sollte, um es in Balance zu bringen, und wenn es zu sehr nach rechts krängt, rennt man auf die linke Seite, damit es nicht kentert. Mir schien es damals sehr öde, dass wir nur einen kulturpessimistischen Diskurs führten über die sozialen Medien und alles, was da an Kommunikation stattfindet, als hohl und leer abstempelten. Es waren ja damals viele Bestsellerbücher unterwegs, die so Titel trugen wie: „Macht das Internet uns dumm?“ Das ist ein alter Topos der Kulturkritik, dass die Zunahme an Kommunikation als Aushöhlung ihrer Substanz betrachtet wird. Banal zu sagen, dass es schon bei Platon in einem seiner Dialoge genau so formuliert wird – und zwar gegen die Erfindung der Schrift, als das erste massenmediale Trägermedium, das uns von der Gedächtnisleistung entlastet. Und eigentlich gab es einen ähnlichen Blick auf alles, was das Netz entbunden hat. Ich fand es merkwürdig, weil die Menschen, die die Klage führten, es mit ihrer ach so geistreichen Salonkultur verglichen, die sie angeblich außerhalb des Netzes führten, und mein rein privater Eindruck war der, dass wer jenseits des Netzes ein geistreiches Salongespräch zu führen vermag, es in der Regel auch im Netz zustande bringt. Oder andersrum: Wer im Netz so etwas nicht hinbekommt, schafft es in der realen Welt auch nicht. Also ich glaube nicht, dass das Medium als solches einen Drift zur Verrohung und Verblödung trägt, ganz im Gegenteil. Jede Community ist immer nur so klug und anregend wie ihre Mitglieder, aber das regulieren wir im Netz ja genau so wie im Alltag. Wir suchen immer aus, in der Hoffnung, auf die Menschen zu stoßen, die uns eine neue Idee einblasen können, die uns zum Lachen bringen oder deren Weltbeobachtung wir begeisternd finden. Ich kann besser mit Facebook als mit Twitter umgehen, weil es stärker personalisiert ist. Diese Personalisierung brauche ich, um so einen schönen Effekt zu haben zwischen der steilen These und dem, der sie vorträgt. Das Spannendste ist ja, wenn eine Diskussion in eine Richtung geht, die man von der Person nicht erwartet hätte. Dazu muss man aber die Person kennen. Solche Prozesse habe ich bei Facebook oft erlebt, weil die Diskussionskultur so kontrollierbar ist, wie sie es früher nicht war. Früher konnte man abstreiten, was man vor fünf Minuten gesagt hat. Paare machen das ja permanent. Das ist bei Facebook so nicht möglich, man muss ja nur hochscrollen. Das hat in der Tat zu einer stärkeren Bewusstmachung von Kommunikationsregeln, von argumentativer Fairness oder Triftigkeit geführt, so dass heutzutage viele Facebook-Diskussionen schon Meta-Diskussionen sind, wo es nicht um die inhaltlich-politische Frage, an der sich der Streit entzündet hat, geht, sondern vielmehr darum, ob das Gegenüber diskursiv redlich argumentiert hat. Als Stichwort könnte man den jungen Philosophen, der „Mit Rechten reden“ bekannt wurde, zitieren, also Daniel Pascal Zorn, der ein Berserker der Facebook-Kommunikation ist. Was sind korrekte Schlussfolgerungen oder wo ist Denken auf einer fast schon technischen Art illegitim, welche Argumentationsmuster sind erschlichene? Kurzum, ich finde, wenn man sich die richtige Kommunikationsgemeinschaft auf Facebook schafft, dann kann man an der Evolution einer anregenden Diskussionskultur partizipieren. Jetzt kommt der Punkt, den ich in dem Artikel damals gemacht hatte. Früher waren wir eine Milieugesellschaft: es gab die Arbeiter, die freien Berufe, die die FDP wählten, es gab die Honoratioren, die die CDU wählten. Die Konfessionen hatten ja auch alle ihre Medien. Der katholische Rheinländer hatte den Rheinischen Merkur abonniert.

…Also eine Art Subkultur in früher Variante.

…Oder Parallelkultur oder Blase. Die Blasen waren früher nicht so zahlreich, aber sie waren viel hermetischer, als sie es heute sind. Die Diskussion, die man früher führte, war, wenn man die SZ abonnierte, eine interne, eine innerhalb der Leserschaft der SZ zum Beispiel. Dieses Medienverhalten, dass man die ganze Welt durch ein Medium präsentiert bekommt, dem man dann auch restlos vertraut, ist durch das Internet aufgebrochen worden, und ich vermag nicht zu sehen, warum das ein Nachteil sein soll. Meine Mediennutzung hat sich extrem diversifiziert dadurch. Vorher hatte ich viel weniger mitbekommen, was in nicht-deutschen Medien passiert. Es hat sich total durch Twitter geändert, wo verlinkt wird.

… Der New Yorker zum Beispiel…

Das gehört ja heute völlig normal zum Anregungshorizont. Das merken wir ja heute auch bei vielen identitätspolitischen Diskursen, wie schnell Begriffe, die in Amerika geschaffen werden, zwei Jahre später bei uns wie Neuerfindungen durchdiskutiert werden. Being privileged zum Beispiel. Vor fünf Jahren war es in Amerika groß, und seit zwei Jahren reden alle Leute hier darüber. Außerdem ist der Link zu einem interessanten Artikel bei Facebook oder Twitter in besonderer Weise qualifiziert, denn er kommt ja von jemandem, dem ich vertraue, dem ich eine bestimmte ideen- oder ideologiegeschichtliche Position zuordnen kann, so dass ich seinen Hinweis besonders gut validieren kann. So nach dem Motto: „Wenn er oder sie auf diesen Text verweist, dann lese ich ihn“.

Also geht es um die Zuordnung von Standards….

Ja.

Eine Person entspricht diesem Standard, das empfohlene Medium wiederum einem anderen. Wenn zum Beispiel jemand, der linksliberal ist, einen Artikel aus der WELT oder dem CICERO, der NZZ oder FAZ verlinkt, dann wird man aufmerksam, weil die Standards auseinandergehen….

Genau.

Insofern sind Standards geronnene Erfahrungen, die man einer Person oder Institution zuordnet. Wenn diese Standards auseinandergehen, wird man aufmerksam. Jetzt ein Bruch, eine vollkommen andere Frage. 1990 war die Zeit, in der man vom Ende der Geschichte sprach. Kürzlich unterhielt ich mich mit dem Historiker Paul Nolte (Anm. für ein Interview), dass man in den 1990er Jahren aufgrund dieser Disposition viele Entwicklungen verschlafen hatte, die wiederum jetzt einem auf die Füße fallen. Globalisierung, Klimawandel, die EURO-Diskussion, eine Migrationsdebatte. Diese Wogen überlappen sich und können Hysterien auslösen. Sehen Sie ein Ende der Hysterien?

Ich glaube, dass Hysterie das neue „normal“ ist, und ich sehe keinen gesellschaftsstrukturellen oder mediengeschichtlichen Grund, warum sich das ändern sollte. Vielleicht ist es ja wie bei Drogen, wo man sich an das Niveau gewöhnt. Es ist bestimmt eine der unangenehmsten Seiten unserer Gegenwart, aber ich habe gar keine Hoffnung, dass sich das ändert. Wir Medien, wie ich das selbstkritisch sagen muss, verstärken den Tonfall der Hysterisierung von Tag zu Tag. Wir können kaum mehr eine abweichende Meinung im gelassenen Tonfall zurückweisen. Wir können sie fast nur noch in der Luft zerreißen und als etwas ganz Schlimmes darstellen. Ich liebe Meinungsverschiedenheit und bin auch kein bedächtiger Mensch, der lange abwägt, bis er zu einer Einschätzung kommt, sondern ich habe meine Vorurteile und spreche die schnell aus. Aber ich würde davon ausgehen, dass die Gegenposition zu meiner Auffassung nie des Teufels ist, sondern mich nur nicht so überzeugt. Vielleicht habe ich mich selbst da geirrt.

Vielleicht ist es auch eine Erscheinungsform des Beschleunigens. Es gab im Rahmen meines Philosophieunterrichtes einen Lehrer, der sagte, dass wir im Beschleunigungzeitalter lebten, er sprach vom Menschen als homo accelerandus. Dabei ist das mehr als zwanzig Jahre her. Lola rennt, der Kinofilm von Tom Tykwer, erschien ja auch schon 1998. Daneben wurde seinerzeit Tykwer im Rahmen eines TV-Formats damals eine lange Aufnahme von fast 9 Minuten präsentiert aus den 1970ern, die Wim Wenders machte, es war für den Zuschauer schon fast unerträglich bedächtig.

Mit so etwas bin ich ja damals sozialisiert worden. Es war in den 80ern völlig normal. Die Geduld hätte ich heute auch nicht mehr.

Möglicherweise werden die Menschen hibbelig und unzufrieden, wenn man sie auf Entzug setzt. Wenn sie dann nicht mehr mit Schnelligkeit bedient werden.

Unzufrieden sind sie ja auch jetzt schon.

Mit ihren Positionen, die keinen Anlass zur Unzufriedenheit geben?

Mir macht Deutschland einen im höchsten Maße unzufriedenen Eindruck, wobei dies mit der gesamtwirtschaftlichen Lage nicht zu korrelieren ist, da es uns so gut geht wie noch nie. Aber die Überzeugung, dass die politischen Eliten versagen, dass es keine Bildungsaufstiegsbiographien mehr gibt, dass wir den eigentlichen und ernsten Problemen keine entschiedenen Schritte folgen lassen, und dass man sich sowieso voller Verdrossenheit von allem abwendet, scheint mir doch ein sehr verbreitetes Gefühl, eine verbreitete Stimmung zu sein.

Gehörte das nicht immer schon zum Nationalcharakter, wenn man es so sehen will, dieses Gefühl der Unzufriedenheit? Es ist dann doch gar als Fortschritt zu sehen: vorher German Angst, jetzt nur noch Unzufriedenheit.

Etwas Luxurierendes auf jeden Fall.

Meinen Sie vielleicht Wohlstandsverwahrlosung?

Wenn ich Begriffe zu oft gehört habe, misstraue ich Ihnen. Bei Wohlstandsverwahrlosung sind wir seit zehn Jahren sehr freigiebig. Irgendwas scheint er ja zu treffen, sonst wäre er nicht erfunden und als geistreich angenommen worden. Jetzt scheint er mir zu verbraucht, zumal er einen klassenkämpferischen Soupcon hat. Wohlstandsverwahrlosung ist ja immer ein Phänomen, das wir nach oben adressieren, denen, die ungerechterweise mehr haben als wir.

Wenn sich Diskurspartner respektvoll normalisieren, ich komme jetzt wieder auf Ihren Artikel aus dem Jahre 2015 zurück. Auf der einen Seite war da Ulf Poschardt, auf der anderen Meinecke.

Stimmt. Thomas Meinecke war es.

Es hat doch etwas Tröstliches, wenn man ins Gespräch kommt, bei aller Hysterie und Unzufriedenheit, könnten wir es als Anlass für Positives sehen, wenn man sich mehr zuhört infolge der diskursiven Kriegsmüdigkeit.

2015 hätte ich es so gesehen. Aber seither denke ich, dass die Nerven deutlich blanker liegen, als es noch vor Jahren der Fall war. Ein Riesenthema scheint mir auf Facebook das Ent-followen und das Blocken zu sein: die Geste in einem öffentlichen Akt anzudrohen. Das ist ein eigenes Facebook-Genre geworden. Die symbolische Überhöhung des Aktes, jemanden zu ent-followen. Dies spielt eine große Rolle, die mit einer allgemein zunehmenden Unduldsamkeit zu tun hat.

Der Normalismus-Forscher Jürgen Link würde dergleichen Denormalisierungs-Angst nennen.  Man übt Macht aus, indem man jemandem klar macht, dass der Standard desjenigen, den man entfollowen wird, nicht mehr dem eigenen Standard entspricht. Ich habe ja einen Standard, dem der Freundeskreis oder Follower auch entsprechen sollte. Man gibt ja dadurch, dass man ihn oder sie als Freund/Follower anerkennt carte blanche. Diese Rückendeckung zu entziehen, ist insofern ja ein schlimmer Akt. Jetzt ein thematischer Bruch: eine These, die ich an Sie jetzt herantragen möchte. Empathie ist zum Qualitätsmerkmal bei Buchhändlern geworden, inwieweit der Autor diese eben zeigt oder zur Schau stellt. Wenn Sie anmerken, dass man inflationär gebrauchten Begriffen misstrauen solle, gerade weil sie so allgegenwärtig sind, möchte ich Empathie in die Debatte einwerfen. Es ist mein Horrorwort der Gegenwart. Er geht mir auf die Nerven.

Mir auch, ich will nächstens darüber schreiben.

Bei Preisverleihungen, ob nun im Bereich Literatur oder Film, steht der Empathiebegriff sehr im Vordergrund. Ist es vielleicht eine Masche, um Preise einzuheimsen. Die Steigerung von Empathie ist möglicherweise Weltschmerz, der dann wiederum irgendwann zu Kitsch verkommt.

Das finde ich jetzt unverhältnismäßig, wie Sie das jetzt verallgemeinern. Sie können alles übersteigern und am Ende ist es dann Kitsch. Bei Empathie mag der Weg besonders kurz sein, würde ich auch zustimmen. Ich würde das Phänomen, dass Empathie als Kampfbegriff benutzt wird, eher woanders verorten. Natürlich leben Romane und Filme davon, sich in andere Welten, Denk- und Gefühlswelten hineinzuversetzen. Auch reine Formkunstwerke, wo Affekte nicht so eine Rolle spielen. Aber 90% dessen, was wir als Roman lesen, sind ja schon Anverwandlungen fremder Welten, irgendwie der Versuch, in einen anderen Kopf zu kommen. Wenn wir so fasziniert sind von Massenmördern, wollen wir ja auch wissen, wie die so ticken. Vielleicht wäre es nicht so gut, den Begriff Empathie zu gebrauchen, weil er so eine moralische Überhöhung hat, mit der man sich dann selbst auch einen Orden um den Hals hängt.

Virtue Signaling. Man zeigt: „Ich bin ein toller Typ.“.

Ja. Und das ist immer unschön. Aber als rein technischer Vorgang würde ich nichts gegen die Empathie sagen. Ich finde es eher in den identitätspolitischen Auseinandersetzungen problematisch, die wir haben – und man kann bei allen Debatten heutzutage sagen, sie seien identitätspolitische – über etwas anderes streiten wir ja nicht mehr. Wir streiten uns ja nicht über Rentenerhöhungsfragen oder über Krankenversicherungen, Kopfpauschale und Bürgerversicherung, wir streiten uns ausschließlich über Fragen von sexueller und ethnischer sowie kultureller Identität. Zum Beispiel bei der Genderisierung der Sprache. Man bringt Einwände vor, warum man das Sternchen nicht richtig findet. Dann sagt die Gegenseite: „Du musst es nicht machen, aber wenn Du es nicht machst, hast Du eben keine Empathie“. (Mangold lacht). Oh, eben waren wir noch in der Sache, und schon verdreht sich das Ganze in eine totale moralische Asymmetrie, wo vollkommen klar wird, dass, wer diesen Regeln folgt, noch der Einzige ist, der auf Menschlichkeit ein Anrecht hat, weil er sich in den anderen hineinversetzt. Und da scheint mir der Begriff in einer gefährlichen Weise eingesetzt zu sein.

Empathie sozusagen als Breitbandantibiotikum gegen alle diskursiven Problematiken. So kann ich mich immer wunderbar immunisieren, indem ich mir Empathie attestiere und dem Gegenüber abspreche. Zu einem anderen Thema: wie wirken sich Internetphänomene wie Streamingserien und soziale Netzwerke auf die Bücherbranche aus – den E-Reader gibt es ja auch schon seit Jahren. Ist da Entspannung eingekehrt?

Ja, total. Das E-Book wächst nicht mehr. Es hatte gewaltige Wachstumsraten, wie alle Sachen, die bei 0 anfangen. Aber dann war das Potential relativ bald ausgeschöpft. Ich wusste mal eine Zahl. Es ist aber keine gewaltige. Dort, wo es um Publikumsverlage, ums Genusslesen geht, da ist es immer noch sehr stark ans Papier gekoppelt. Also den Verlagen droht von dieser Seite der Digitalisierung jedenfalls keine Gefahr, was man lange dachte. Es ist den Musikverlagen nicht so ergangen wie der Musikindustrie, der ja tatsächlich vor 20 Jahren das Geschäftsmodell weggebrochen ist. Daraus haben die Buchverlage vielleicht auch gelernt.

Was sind dann die Herausforderungen der Jetztzeit für die Verlags- und Buchwelt?

Naja, es gibt ja den Leserschwund, von dem im vergangenen Jahr vielfach die Rede war. Dass die Zahl der Menschen, die gar kein Buch lesen, gewachsen sei. Da weiß ich aber nicht, was ich von den Zahlen halten soll, weil ich glaube, dass das Buch einen Verlust als Statussymbol hingenommen hat. Man hat heute ja auch nicht mehr den Brockhaus als Wandtapete im Regal stehen.

…Oder drei Meter Goethe…

Oder drei Meter Goethe, einfach nur, um zu sagen, dass man es geschafft hat und zum Bürgertum gehört.

Dafür hat man ja die Empathie. Für Virtue Signaling benötigt man keinen Goethe mehr.

Genau. Das heißt, der Statusbuchkauf wird zurückgehen und damit auch das verschenkte Buch. Das verschenkte Buch war ja nie ein gelesenes Buch, es war zum Glück aber immer ein gekauftes. Darüber gab es keinen Grund zu klagen. Es war ein schönes Geschäftsmodell, das nicht gelesene, aber gekaufte Buch. Ich könnte mir vorstellen, dass sich jetzt die Zahl der gekauften der der gelesenen mehr annähert. Generell wird gesagt, die Zeit der Mediennutzung ist endlich, und das Smartphone raubt davon sehr viel. Das stimmt schon, das kann ich durch Selbstbeobachtung nicht ganz bestreiten, wobei ich glaube, dass ich unterschiedliche Kraftreserven für die Lektüreformen habe. Ich kann nicht den ganzen Tag Proust lesen. Wenn ich gerade erschöpft bin, aber dennoch alphabetisierte Anregung haben will, schaffe ich es schon noch, mich durch Twitter zu scrollen. Man sagt ja immer, kein neues Medium verdrängt ein altes. Daran will ich ja auch glauben. Dass allerdings eine neue Form der analytischen Auseinandersetzung mit Wirklichkeit durch die digitale Welt gekommen ist, da wären wir dann doch eher bei der Konversationsform soziale Medien. Die meisten Anregungen zu Diskussionen, die wir auch in Zeitungen führen müssen, nehmen mehr denn je Ausgang von einem Buch. Also, das Buch ist schon Ausgang für neue Weltbeobachtung.

Seit 2015 sehe ich, dass man sehr stark in Diskursen über den jeweiligen Preisträger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels spricht: Kermani, Emcke, das Forscherehepaar…

…die Assmanns…

…Genau. Im Vorfeld war es nicht ganz so klar, wer ihn jeweils bekommen hat.

Naja. Martin Walser.

Das will ich gar nicht bestreiten, dass es im Vorfeld vielbeachtete Preisträger gab. Aber als interessierter Laie bekommt man gerade bei diesem Preis mit, dass seit ein paar Jahren hier Bücher prämiert wurden, die monatelange Diskussionen auslösten.

Aber auch auf einer niederschwelligeren Ebene. Die meisten gesellschaftspolitischen Themen, die Zeitungen bearbeiten, sind zuerst aufgeworfen durch eine Buchveröffentlichung, weil das Buch tiefer zu graben vermag und Denkweisen besser neu einzustellen geeignet ist. „Ah, so kann man die Welt auch sehen.“ Dafür scheint mir das Buch ein ideales Medium zu sein. Die Welt selber wird ja immer komplexer, da wäre es schade, wenn unsere Analysewerkzeuge mit der Komplexität nicht mithalten könnten. Bücher sind die leistungsstärksten Maschinen zur Komplexitätsbewältigung.

Im Vorfeld unseres Interviews sprachen wir über meinen Satz „Jedes Wort ein Vorurteil“. Das hängt ja an dem, was Sie eingangs über Platon sagten. Es gibt beim Wort Baum keine Varianz, man kann es nur B-A-U-M korrekt schreiben, das heißt keine Varianz. Dabei gibt es drei Billionen Bäume (400fach so viele wie Menschen auf der Welt), von denen jeder unterschiedlich ist. Man reduziert durch das Wort Baum, das ein Vorurteil der variantenreichen Sachverhalte Bäume sein muss, die Komplexität aus Überforderungsgründen. Ebenso beim Wort M-E-N-S-C-H, das acht Milliarden Menschen in einer varianzlosen und simplen Buchstabenfolge abbildet: sechs Buchstaben – eine schiere Kränkung für jeden, der sich Individuum nennt.

Acht Milliarden?

Fast. Sagen wir 7,8 Milliarden.

Ach, ich dachte, vier.

Das war, als ich zur Schule ging. Jetzt sind es knapp 8 Milliarden.

Oioioi. Es wird eng.

…Komplex…

Mangold lacht

Jetzt stellen wir uns mal für einen Moment vor, Ijoma Mangold wäre nicht Literaturkritiker, sondern Leiter eines Verlages, der sich darauf spezialisiert hat, von Streaming-Serien Drehbuchautoren abzuwerben, ihnen die Möglichkeit zu geben, Romane zu schreiben und sich damit einen Namen zu machen. Könnte Ihnen diese Idee gefallen? Welche Autoren oder welche Serien kämen Ihnen da in den Sinn?

Die Frage ist sehr gut, aber ich werde auf dem Niveau leider nicht antworten können, weil ich erstmal keine Drehbuchautoren kenne. Auch wenn ich eine Serie schaue, weiß ich nicht, wer der Autor ist. Aber ich habe natürlich auch davon gehört, dass die Produktionsfirmen wie verrückt Content suchen, auch in Deutschland. Da ist wohl auch enorm viel Geld zu verdienen, so dass die Macht der Drehbuchschreiber zugenommen hat gegenüber früheren Filmzeiten. Der Regisseur tritt total zurück gegenüber dem Showrunner und dem Drehbuchautor, die den Charakter der Serie wohl sehr viel stärker prägen. Der Regisseur ist dann nur ein Ausführender, den man problemlos ersetzen kann, weil seine Handschrift nicht allzu sehr zählt. Gleichwohl kann ich da keine kluge Antwort geben, würde für mich selber der Frage aber weiterhin nachgehen. Interessant ist aber auch, ob sich die Kompetenz, ein sehr gutes Drehbuch für eine sehr gute Serie zu schreiben, tatsächlich auch so anwenden lässt auf das Schreiben eines Romans. Das frage ich ergebnisoffen. Ich weiß es nicht. Zwingend ist es nicht. Auch umgekehrt ist es ja ganz selten der Fall. Ich kenne keinen Romanautor, der nebenher noch Seriendrehbuchautor wäre.

Aus Spaß hatte ich mal Harald Martenstein gefragt, wie er eine Berliner Lindenstraße konzipieren würde. Aber das bleibt dann hypothetisch. Es wäre ja aber dennoch eine Geschäftsidee, namenlose Drehbuchautoren aus der Anonymität zu holen.

Aber in beide Richtungen. Der Verleger könnte seine Hausautoren an Netflix vermitteln und umgekehrt. Das wäre interessant. Aber: warum hat es noch keiner getan? Es klingt ja sehr naheliegend.

Wir können ja zusammen eine GbR oder GmbH hierfür eröffnen…

…Vielleicht, weil es ja doch zu unterschiedliche Handwerke sind. Ich kenne viele Schriftsteller, aber keinen, der mal ein Drehbuch geschrieben hat, außer vielleicht Kehlmann. Hat Kehlmann am Drehbuch seiner Verfilmung mitgeschrieben?

Vielleicht hat aber einfach noch keiner drüber nachgedacht, dass da eine Lücke ist. Nächste Frage. Hatten Sie ein literarisches Erweckungserlebnis? Wenn man Vielleser und Kritiker ist, muss man ja eine Initialzündung gehabt haben. Sind Sie durch ein Buch angefixt worden? Wahrscheinlich ist Ihnen die Frage hundertfach gestellt worden – gibt es das eine Buch?

Nein. Ich weiß ungefähr, wann mein erwachsenes Lesen begann. Es begann mit einem Buch von Wolfgang Leonhard, aber nicht, wie man denken würde „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Das habe ich erst danach gelesen. Es war ein spätes Buch, ich war 13 oder 14, „Dämmerung im Kreml“. Leonhard ist als Emigrant ja in Moskau aufgewachsen, hatte deutsche Eltern. Nachdem er vorher glühender Kommunist war, ist er in den Westen gegangen, war einer der großen Kremologen. Kremldämmerung war eines dieser Bücher, sie galten im Nachhinein als prophetisch, weil sie das Sklerotische des Sowjetsystems darstellten. Das Komische war: Als ich das Buch las, war ich so ein Salon-Sozialist. Wie das halt so in diesem Präpubertären Alter ist. Ich fand alles, was mit Sozialismus und Marxismus zu tun hatte, toll. Und dieses Buch sprudelte über vor marxistischer Terminologie, zwar ex negativo, das schien mich aber nicht gestört zu haben. Mir reichte es schon, ein Wort wie Nomenklatura zu lesen. Meine Lesebegierde begann nämlich mit einer großen Begeisterung für Fremdwörter. Ich weiß noch, wie ich ein Vokabelheft kaufte, statt Lateinvokabeln habe ich da jedes Fremdwort eingetragen, das mir irgendwie begegnete. Bei Wolfgang Leonhard war das sehr ergiebig. Es waren alles Begriffe, die mit dem Kommunismus zu tun hatten.

Wegen des Fremdwortes an sich oder wegen dessen Wohlklang? In letzter Zeit, da habe ich etwas Ähnliches bei mir beobachtet; es kommt mir immer wieder das Wort Sprezzatura in den Sinn – das Idealbild des selbstbewussten Renaissance-Davids. Ist es vielleicht die primäre Begeisterung für Worte und deren Wohlklang, die sie danach dann erst zum Buch brachte?

Die Begeisterung für Worte und in diesem einen Fall das konkrete Buch, weil ich den Sozialismus gut fand. Also wollte ich was über den Sozialismus lesen, und mir war klar, dass es das nur noch in kritischer Form gibt. Das musste man dann so in Kauf nehmen, aber immerhin war man dann nah dran. Ich kann es mir auch nicht so ganz erklären, aber es war das erste Buch, das auch noch so ganz lange in meinem Kinderzimmer auf dem kleinen Schreibtisch stand mit dem Cover nach vorn. Ich fand es faszinierend. Er (Anm.: Leonhard) saß da so in seinem Sessel mit übergeschlagenem Bein, eine Pose, mit der man heute kein Sachbuch mehr verkaufen würde, er war der Experte: Wolfgang Leonhard. Dann las ich „die Revolution entlässt ihre Kinder“. Das fand ich gut. Es war eine richtige Erzählung seiner Jugend, dass einen das packt, kann man viel eher erklären. Das war der Beginn meiner erwachsenen Lektüre. All die Autoren, die ich dann in mich reinfraß, waren solche, die man um der Sprache willen liest, tendenziell lange Sätze. Als Jugendlicher war das das K.O.-Kriterium für mich. Wenn ein Roman keine langen Sätze hatte, habe ich ihn nicht gelesen.

Zum Lektorat von Verlagen. Vor ein paar Wochen unterhielt ich mich mit Frank Witzel (Anm. Buchpreisträger 2015). Er war ja schon vorher immer ordentlich im Geschäft, aber 2015 erschien dann sein Erfolgsroman. Zuvor jedoch wurde dieser Roman jedoch von vielen Verlagen abgelehnt, oft mit dem Zusatz, es sei ja ein schöner Titel (Anm. die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969). Ähnliches wird Sibylle Berg nachgesagt, dass sie nämlich 1997 lange Zeit nach einem Verlag für ihr Erstlingswerk suchen musste, dabei auch eine Reihe Absagen kassierte. Woran liegt es, dass selbst Spitzenautoren beim Lektorat abgelehnt werden?

Es kommt ganz selten vor. Sie werden nicht viele Fälle finden. Es wird ja sowieso alles verlegt. Sie werden nicht viele Fälle finden, die nicht verlegt werden. Das ist das eigentliche Wunder, die eigentliche Ausnahme. Und dann ist es ja so, dass ästhetische Werke keine objektive Entitäten sind, die man so einem Lackmustest unterziehen kann, und man dann sagen kann: „Oh, es handelt sich um Literatur – bitte sofort verlegen“. Das ästhetische Urteil ist immer ein subjektives. Deshalb kann man auch darüber streiten. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Der Satz gilt andersherum: man kann eigentlich über nichts anderes streiten, man kann nur über Geschmack streiten, weil eh klar ist, dass es dazu verschiedene Meinungen gibt.

Es gibt ja Sätze, zu denen es verschiedene Lesarten gibt…

…Sie können ja über mathematische Sätze nicht streiten. Wenn eine Gleichung gelöst ist, ist sie gelöst.

Ich komme auf ein Beispiel: „There is nothing like democracy“ sagte Thatcher. Wer sie nicht leiden kann, versteht diesen Satz in dem Sinn, dass sie meinte, dass es keine Demokratie gebe. Dann gibt es von Sting das Album „Nothing like the sun“ – nichts ist so schön wie die Sonne, könnte man übersetzen, aber auch nur, wenn man Sting mag. „Es gibt nichts wie…“ kann also heißen, dass es nicht existiere oder aber, dass nichts so schön sei wie Demokratie/Sonne, also das komplette Gegenteil, abhängig davon, wie man betont oder in welcher Disposition man ist. Das war ein Exkurs. Nächste Frage. Hat man als Kritiker Verantwortung, in seiner Kritik nicht über das Ziel hinauszuschießen? Man denke an den von Ihnen erwähnten Martin Walser, der unter Reich-Ranicki sehr litt.

Über das Ziel hinauszuschießen, gehört zur Jobbeschreibung eines Kritikers, würde ich sagen. Mangold lacht

Steile These. Muss der Kritiker dann etwas überzeichnen?

Ja, das tun wir als Journalisten ja immerzu. Das ist nicht nur unser Geschäft, sondern unser Vergnügen. Trotzdem müssen wir uns klar sein, dass die Verletzungskraft groß ist. Selbst habe ich ein Buch geschrieben, ich weiß, was es bedeutet, wenn man drei bis vier Jahre an einem Buch sitzt, und dann kommt so ein schnelles vernichtendes Urteil, in das der Kritiker nicht so viel Lebenszeit investiert hat. Zum Glück gab es mir gegenüber kein so vernichtendes Urteil. Da ist eine Asymmetrie, die ich nicht ungerecht finden will, das wäre absurd. Da könnte man sich auch darüber aufregen, dass in Afrika die Sonne heißer scheint als hier. Es ist der Sache geschuldet. Wir sind ja auch alle extrem kränkbare Wesen. Zur Jobbeschreibung des Journalisten gehört natürlich auch immer wieder, gezielt Leute zu kränken, weil es Spaß macht für den Leser, zuzuschauen, wie andere gekränkt werden.

Es hat dann etwas Comic-haftes, so etwas Überzeichnendes.

Ja. Die Karikatur ist ja eine wesentliche Erfindung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Und wenn wir sagen: „Was ist die Wiege der Demokratie, des Parlamentarismus?“. Dann ist es Westminster. Und die Form der parlamentarischen Zuspitzung in der Auseinandersetzung zwischen der einen Seite und der anderen Seite ist ja auch immer eine karikaturhafte, die dadurch profiliert wird.

Wenn man weiß, dass jedes Wort ein Vorurteil ist, kann man schließlich auch zulangen. Jetzt sind Sie ein öffentlicher Intellektueller. Ist es nicht manchmal auch schwer wie beim Leben des Brian, eben nicht Vorbild und kultiviert zu sein. Wenn Ijoma Mangold zum Fußball geht, denken sich diejenigen dann „Fußball ist wohl doch eine intellektuelle Sache“. Kann man auch mal abschalten, ohne 24 Stunden der Intellektuelle zu sein?

Ich bin ja keine Berühmtheit, die beobachtet wird.

Sie haben doch eine gewisse Bekanntheit…

…eine sehr gewisse. Das kann ich wirklich nicht beantworten. Weder kann man dauerhaft intellektuell noch kann man dauerhaft unintellektuell sein. Alles, was man macht, ist Weltwahrnehmung. Die schalte ich ja nicht ab, nur weil ich gerade auf dem Tennisplatz stehe. Es ist insofern beides genussreicher Lebensvollzug. Ballistik ist sowieso das Geilste fürs Hirn. Die Flugbahn eines Balles zu antizipieren, um sich mit dem Tennisschläger richtig dazu zu positionieren, da feuern die Neuronen in so einer beglückenden euphorischen Weise. Zu solchen Glückszuständen komme ich ja sonst nur, wenn es beim Schreiben mal richtig gut läuft. Doch das tut es ja leider viel zu selten.

Da fühlt man sich – übertragen auf den Fußball – wie Messi, der Umfeld und eigene Aktion so in Einklang bringt, dass er aus 30 Metern den Ball über den Torhüter spitzelt, ihn zugleich an die Unterkante der Latte setzt. Das hat doch etwas. Oder wie Zidane im WM-Finale 2006 einen Elfmeter in der ersten Minute verwandelt hatte, auch ganz streichzart. Eigentlich wäre ich mit den Fragen durch.

Hat Spaß gemacht, war anregend.

Ich danke Ihnen für das Interview, Herr Mangold.

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