Gibt es sie eigentlich noch – die Menschenrechte?

Kolosseum in Rom, Foto: Stefan Groß

Dieser Titel mag angesichts der Infragestellung der am 10. Dezember 1948 von der UN-Generalversammlung im Pariser Palais Chaillot verabschiedeten (völkerrechtlich nicht verbindlichen) Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch den Islam beziehungsweise deren Unterordnung unter die Scharia abwegig, wenn nicht hochgefährlich erscheinen. Zudem war die der UN-Resolution von 1948 zugrundeliegende Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, verabschiedet am 26. August 1789 durch die französische Nationalversammlung, eindeutig ein Meilenstein im Kampf für die Anerkennung der Legitimität des Widerstands gegen despotische Unterdrückung. Es war der aus dem französischen Zentralmassiv stammende Marquis de Lafayette, ein im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu Ruhm gelangter militärischer Führer, der 1789 als Mitglied der französischen Generalstände der Nationalversammlung einen auf der Virgina Bill of Rights von 1776 und der politischen Philosophie von Montesquieu und Rousseau fußenden Entwurf der Allgemeinen Menschenrechterklärung vorlegte.

In Artikel 2 des schließlich angenommenen Textes heißt es: Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.“ Frankreich wurde damit zu einer der ersten Nationen, die sich zumindest vordergründig nicht durch eine lange Tradition, sondern durch einen historischen Bruch definierte. Denn von Rechten für Normalsterbliche war vorher kaum die Rede.

Doch inzwischen ist die Berufung auf Rechte, die die Menschen sich selbst geben beziehungsweise zu Naturrechten erklären, längst ins Absurde abgeglitten. Da werden wie das Selbstverständlichste der Welt Rechte wie das Recht auf „Ehe für alle“, das Recht auf Kinder, das Recht auf Abtreibung, das Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Recht auf grenzenlose Einwanderung, das Recht auf Sezession und als dickes Ende das Recht des Fiskus, freie Bürger in Steuersklaven zu verwandeln, proklamiert. Diese Reductio ad absurdum zeigt schon, dass allgemeine Menschenrechte logisch unmöglich sind. Simone Weil, jene hochintelligente, klassisch gebildete französische Philosophin jüdischer Herkunft, die zur republikanischen Widerstandskämpferin und christlichen Mystikerin wurde, ist deshalb in ihrem im britischen Exil geschriebenen und 1949 posthum veröffentlichten Werk „L’enracinement“ (Die Verwurzelung) kategorisch: Rechte gibt es nur, soweit ihnen Verpflichtungen, Obligationen gegenüberstehen. Das Primat kommt also nicht den Rechten, sondern den Pflichten zu. Es gibt deshalb keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur Pflichten gegenüber sich1 selbst und gegenüber den Mitmenschen. (Das Buch wurde übrigens von keinem Geringeren als Albert Camus im bekannten Pariser Verlag Gallimard herausgegeben.)

Als Angehörige der Bewegung um General de Gaulle ging es Simone Weil vor allem um die Wiederaufrichtung der französischen Nation nach dem selbst verschuldeten Debakel von 1940. Insofern beziehen sich viele ihrer Ausführungen nur auf Frankreich. Hinzu kommt, dass Weil sich als politisch links verstand, im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner kämpfte und ihr deshalb verschiedene Widersprüche und Inkonsequenzen der Linken wenig zu schaffen machten. (Ich war in jungen Jahren selbst von den spanischen Anarchosyndikalisten angetan und habe von daher durchaus Verständnis für Weils Engagement.) Dennoch bleibt dieses Buch eine Fundgrube für all jene, die nach Alternativen zur festgefahrenen Politik des Parteien-Kartells suchen. Weil setzt sich darin sogar schon mit dem Problem der Zähigkeit des „deep state“ auseinander, lange bevor dieser Begriff aufkam.

Simone Weil hatte bereits an anderer Stelle gezeigt, dass die Bibel eigentlich kein theologisches, sondern ein anthropologisches Werk ist. Denn wir erfahren darin so gut wie nichts über Gottvater, dafür im Neuen Testament umso mehr über das vorbildliche Leben und Sterben des Gottmenschen Jesus Christus und über die Schwächen der irdischen Menschen. Im Alten Testament spricht Gottvater zu den Juden (und zu uns) durch die Verkündigung der Zehn Gebote am Berg Horeb im Sinai. Von Rechten ist darin nicht die Rede, sondern nur von Verboten und Pflichten. Bis vor etwa einem Jahrzehnt glaubte ich noch, die Menschen hätten, dem liberalen Credo entsprechend, durch Versuch und Irrtum allmählich auch selbst darauf kommen können. Das glaube ich heute nicht mehr. Gesellschaftliche Selbstorganisation, Marktwirtschaft als Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinn führt meines Erachtens nur dann zu vernünftigen Ergebnissen, wenn dieser Prozess auf vernünftigen Regeln (Geboten und Verboten) fußt. Das siebte Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ schließt zum Beispiel alle Formen des Wirtschaftens aus, die auf Raub oder Diebstahl fremden Eigentums beruhen. Wer den Dekalog ernstnimmt, landet folgerichtig bei der auf freiwilligem Tausch beruhenden kapitalistischen Marktwirtschaft und nicht beim Sozialismus in welcher Form auch immer. Eine auf Dauer angelegte Ordnung – sei es in der außermenschlichen Natur oder im Zusammenleben der Menschen – kann nicht durch Zufall entstehen. Es bedarf hierzu des Anstoßes durch die richtige Information, den λόγος im Sinne des Johannes-Evangeliums, wobei lógos kein leeres Wort, sondern eine Relation bezeichnet. Erst durch die Anerkennung des Tötungs-, Diebstahls- und Neid-Verbots verlassen die Menschen das barbarische beziehungsweise kannibalische Stadium der Kulturentwicklung.

So sieht das auch Simone Weil und beginnt ihren Katalog der Menschenpflichten mit dem Bedürfnis nach Ordnung. Erst an zweiter Stelle kommt die Freiheit, die sie als Grundnahrung der menschlichen Seele bezeichnet. An dritter Stelle folgt der Gehorsam, was viele Libertäre wohl als Provokation empfinden würden. Erst danach folgt die Gleichheit vor dem Gesetz, wobei Weil gleich darauf hinweist, dass es im Sinne einer freien Entwicklung eines gewissen Gleichgewichts zwischen Gleichheit und Ungleichheit bedarf. Weiter hinten im Katalog spricht Simone Weil die Bedürfnisse nach Sicherheit und Risiko an. Auch das Privateigentum ist für sie ein Lebensbedürfnis der menschlichen Seele. Überproportional großen Raum nimmt wohl nicht zufällig die Meinungsfreiheit in Weils Liste der Menschenpflichten ein. Als ernste Bedrohung der Meinungsfreiheit empfindet Weil nicht nur despotische Regimes, sondern auch die Zulassung politischer Parteien. Da es nur individuelle Intelligenz gebe, sollte es Gruppen per Gesetz generell untersagt werden, Meinungen zu vertreten, sagt sie. Politische Parteien sollten deshalb sofort verboten werden, denn schon Rousseau habe gezeigt, dass der Kampf der Parteien mit ihrem Hang zum Totalitarismus die Republik tötet. Die heiligste Menschenpflicht sei schließlich die Wahrheit. Am meisten verkannt werde jedoch das menschliche Grundbedürfnis nach natürlicher und sozialer Verwurzelung, sagt Simone Weil.

Der Kampf gegen die Entwurzelung der Arbeiter und Bauern ist das Thema ihres politischen Testaments. Dabei sollte man meines Erachtens darüber hinwegsehen, dass sie an manchen Stellen Anleihen bei frühen Sozialisten nimmt. Der „wissenschaftliche“ Sozialismus der Marxisten ist ihr aber zutiefst suspekt. Zumindest in einigen ihrer Ausführungen klingt meines Erachtens leider auch Sympathie mit den manichäischen Ideen der Katharer an. Aber das tut der Fruchtbarkeit ihrer Überlegungen keinen Abbruch.

Simone Weil wirft den Revolutionären von 1789 vor, einen desaströsen Fehler begangen zu haben, indem sie allgemeine Menschenrechte verkündeten, die zu Missverständnissen und Missbrauch geradezu einladen, statt an eindeutige individuelle Pflichten zu erinnern. Damit hätten sie sich der juristisch-imperialistischen Tradition der Römer (und der römischen Kirche) angeschlossen und sich gegen die stoische Tradition universellen Gehorsams gegenüber der Schöpfungsordnung (amor fati) wie gegen die spirituelle Tradition der Pythagoräer und der christlichen Mystiker gestellt. Hier ging die grecophile Simone Weil meines Erachtens etwas leichtfertig mit den Vorzügen des römischen Rechts gegenüber dem Tribalismus um. Vielleicht wäre es besser, auf den Spuren des heiligen Augustinus eine vernünftige Koexistenz beider Traditionsstränge anzustreben.

Könnte der Fehler von 1789 heute noch korrigiert werden? Das ist im Moment schwer vorstellbar. Zumindest könnte aber die unsägliche Debatte über „europäische“ oder „westliche“ Werte mit den Anregungen, die die Lektüre der Werke Simone Weils bietet, auf eine andere Schiene gebracht werden.

 

 

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