Das Buch, das die 1965 in Ostberlin geborene Susanne Schädlich in diesen Tagen unter dem lyrisch anmutenden Titel „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ veröffentlicht hat, ist alles andere als ein Text, den man gemütlich unter der Leselampe aufnimmt. Das, was er bietet, fordert den Leser heraus, macht ihn wütend und traurig, denn berichtet wird aus einer Zeit, die längst vergangen ist, aber dennoch die DDR-Deutschen bis heute prägt: Es geht um das unerhört grausame Wüten des Stalinismus 1945/49 in der Sowjetischen Besatzungszone und danach im 1949 gegründeten SED-Staat. Insofern ist Susanne Schädlichs Roman auch ein Buch zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, in deren Tiefen bisher kaum ein Forscher vorgedrungen ist!
Dieses eindringlich geschriebene, den Leser bis zur letzten Zeile zutiefst berührende Buch ist aber weit mehr. Es zeigt auch, was den Westdeutschen, die seit 1949 in einer intakten Demokratie mit wachsendem Wohlstand lebten, erspart geblieben ist an politischer Verfolgung. Es geht hier um die Schicksale zweier Dresdner, deren Wege sich nur einmal kreuzten: Um das des 1927 geborenen Studenten Dietrich Hübner, der nach 1945 in der sächsischen Landeshauptstadt die „Liberaldemokratische Partei“ mitbegründet hat, der damals mit dem späteren FDP-Politiker Wolfgang Mischnick (1921-2002) befreundet war, der von den Russen am 13. Juli 1948 in Dresden verhaftet und am 9. März 1950 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Und es geht um die nach dem Krieg mit ihrem achtjährigen Sohn Götz in Dresden lebende Sängerin und Schauspielerin Mara Jakisch (1905-2005), die am 14. Januar 1947 verhaftet, auch zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde und sieben Jahre lang im Lager Taischet in Sibirien Bäume fällen musste, bis sie 1955, erschöpft und ausgemergelt, in die Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde. Beide Gefangene, verzweifelt über ihr Schicksal, unterhielten sich 1948 mit Klopfzeichen durch die Wand im NKWD-Untersuchungsgefängnis, dem ehemaligen Landgericht am Münchner Platz, in Dresden, begegneten sich aber im wirklichen Leben nie.
Susanne Schädlich, deren lakonischer Stil an Walter Kempowskis erstes Buch „Im Block“ (1969) erinnert, worin er seine acht Zuchthausjahre im „Gelben Elend“ von Bautzen beschrieb, verknüpft zwei Schicksale miteinander, indem sie zwei authentische Figuren wechselweise auftreten lässt. Die Bezugspunkte zueinander waren lediglich die Klopfzeichen durch die Wand, die ihnen aber im Gedächtnis haften blieben. In Thornton Wilders Roman „Die Brücke von San Luis Rey“ (1927) ist der Bezugspunkt der Leute, die 1714 mit einer Hängebrücke in Lima/Peru in die Tiefe stürzen, nur der gemeinsame Tod.
Mara Jakisch und Dietrich Hübner blieben am Leben, wenn auch unter stark eingeschränkten Bedingungen. Sie, der gefeierte Bühnenstar, einem rauschhaften, politikfernen Leben verfallen, ist von Dresden nach Westberlin gefahren, um mit einer Freundin ein Fest zu besuchen, wo auch amerikanische Offiziere zugegen waren, was ihr zum Verhängnis wurde. Nach einem Selbstmordversuch kam sie ins Speziallager Sachsenhausen bei Berlin und von dort in achtwöchiger Eisenbahnfahrt nach Sibirien. Er, dessen Eltern verzweifelt um seine Freilassung kämpften, wobei der Vater am 3. Dezember 1949 verstarb, wurde am 28. März 1950 der „Volkspolizei“ übergeben, kam ins „Gelbe Elend“ nach Bautzen und später ins Zuchthaus Brandenburg-Görden.
Wer niemals in ähnlicher Lage war, wird kaum ermessen können, was es bedeutet, jahrelang unschuldig eingesperrt zu sein. Dietrich Hübners Verlobte Ruth, der er 1953 freigestellt hatte, sich von ihm zu lösen, besuchte ihn 1962 und ist ein ganz anderer Mensch geworden. Nur seine Mutter Christa, die dann 1976 starb, harrte aus und konnte ihn 1964 in die Arme schließen. Sein 1920 geborener Bruder Roland, der sich jahrelang bei den FDP-Politikern Thomas Dehler, Wolfgang Mischnick, Hans-Dietrich Genscher für ihn eingesetzt hatte, umarmte ihn wortlos nach 16 Jahren. Dietrich Hübner hat dann noch in Bonn fünf Jahre Volkswirtschaft studiert und im Bundesinnenministerium gearbeitet. Er heiratete, wurde Vater einer Tochter und lebt heute mit 87 Jahren irgendwo im Rheinland.
Mara Jakisch wurde von niemandem erwartet, als sie mit Margarete Mehlhemmer (1894-1971), die sich später umbringen sollte, aus Sibirien entlassen wurde. Ihr 1939 geborener Sohn Götz Hartung wohnte in Finow/Mark und floh 1957 nach Westberlin, wollte aber nichts davon wissen, was seiner Mutter zugestoßen war. Er starb schon 2002, sie 2005 im Alter von 100 Jahren in Frankfurt/Main.
Das alles sind freilich nur die biografischen Daten, die nichts aussagen über das zermürbende Leben in kommunistischen Zuchthäusern und Straflagern. Susanne Schädlich hat in bewundernswerter Weise die beiden Schicksale miteinander verschränkt, Dietrich Hübner mehrmals befragt und Zeugnisse aus dem Leben Mara Jaschiks ausfindig gemacht. Allein das ist schon eine Leistung! Zudem hat sie, wie die Literaturliste ausweist, 18 zeitgeschichtliche Bücher ausgewertet, darunter Wolfgang Mischnicks Autobiografie „Von Dresden nach Bonn“ (1991) und Margarete Mehlhemmers Bericht „Überleben in zwei Diktaturen“ (2000). Auswerten hieß hier, historische Fakten in einen fiktionalen Text einzufügen. Dass sie schreiben kann, hat sie schon mit ihrem Buch „Immer wieder Dezember“ (2009) bewiesen, wo sie vom Schicksal ihres Ostberliner Onkels, des Historikers Dr. Karlheinz Schädlich, berichtete, der als „inoffizieller Mitarbeiter“ der „Staatssicherheit“ seinen Bruder Joachim Schädlich observierte und der sich, nach Aufdeckung seiner Verstrickungen, am 17. Dezember 2007 in einem Park erschoss.
Wer die russische Romanliteratur des 19. Jahrhunderts kennt oder die Berichte russischer Oppositioneller im 20. Jahrhundert, wird immer erneut mit der Erfahrung „Sibirien“ konfrontiert. Das Schicksal Mara Jakischs betraf Hunderttausende deutscher Frauen, die 1945 aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, später auch aus der Sowjetischen Besatzungszone, verschleppt wurden und von denen ein Drittel nicht wiederkehrte. Den Banater Schwaben und Siebenbürger Sachs en in Rumänien ging es bei Kriegsende nicht anders. Herta Müller hat darüber den erschütternden Roman „Atemschaukel“ (2009) geschrieben. Wer in Westeuropa die dreibändige Dokumentation Alexander Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ (1973) gelesen hat, war entsetzt über die blutigen Exzesse des Stalinismus.
Mara Jakisch war in diesem Kontext „nur“ ein Rädchen in der Verhaftungswelle 1945/49, die nicht wusste, wie ihr geschah und was man ihr vorwarf. Sie musste sieben Tage die Woche bei eisiger Kälte Bäume fällen, wurde bei Nichterfüllung des Solls mit Nahrungsentzug bestraft und erhielt ihren ersten Brief am 20. Juni 1954 von ihrer Schwägerin Margarete Hartung: „Sie weinte und weinte. Und hörte nicht auf.“ Als Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 8. bis 14. September 1955 in Moskau mit den Russen verhandelte, wurden sie und alle deutschen Frauen, die verschleppt worden waren, in die Freilassungsaktion einbezogen. Abfahrtstermin war der 4. Oktober, nach 16 Tagen überquerte der Zug die Oder, am 20. Oktober erreichten die Frauen das Lager Friedland in Niedersachsen, wo Mara in Ohnmacht fiel und ins Müttergenesungswerk nach Einbeck gebracht wurde. Erst zwei Jahre später traf sie ihren Sohn Götz Hartung, der in Finow/Mark 1957 zum Kraftfahrzeugschlosser ausgebildet worden war.
Dietrich Hübner, für den mehrere Begnadigungsgesuche gestellt worden waren, blieb weiter in Haft. Fritz Ackermann, der Leiter des Zuchthauses Brandenburg, lehnte das letzte 1962 ab und schrieb der Mutter Christa von der „feindlichen Einstellung“ ihres Sohnes zum Kommunismus. Am 2. April 1963 wurde ein „operativer Vorgang“ gegen ihn eingeleitet, dreimal wurde er wegen „Arbeitsverweigerung“ und „Staatsverleumdung“ von zwei hochnäsigen MfS-Offizieren verhört, am 17. Juni wurde er ins Untersuchungsgefängnis Potsdam überführt und am 15. Oktober vom Bezirksgericht noch einmal zu vier Jahren verurteilt. Er wäre vermutlich, wenn er nach Sibirien gebracht worden wäre, schon 1955 entlassen worden, so aber war er schlicht vergessen worden. Da er aber am 13. Juli 1963 nicht, wie vorgesehen, freikam und auch nicht mehr, wie entlassene Mithäftlinge berichteten, in Brandenburg war, wurde die Westpresse darauf aufmerksam. So stand im Berliner „Tagesspiegel“ vom 25. Juli ein Artikel „Politischer Häftling in der Zone verschwunden“. Am 14. August 1964 wurde er schließlich freigekauft, kam am 31. August nach Bonn-Duisdorf, wo keiner seiner Parteifreunde sich um ihn kümmerte, wurde zur Kur ins Allgäu geschickt und nahm im Wintersemester 1965/66 in Bonn das Studium der Volkswirtschaft auf.
Das Buch ist sehr gekonnt und überzeugend geschrieben! Warum nur macht es den Leser so unendlich traurig?
Jörg Bernhard Bilke
Susanne Schädlich „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“, Roman, Droemer-Verlag, München 2014, 227 Seiten, Euro 19.99