„Frage: Ich schreibe, damit etwas von Ihnen bleibt.
Antwort: Sie meinen, was Sie da aufschreiben ist das, was von mir bleibt, wenn ich weg bin?
Frage: Jawohl.
Antwort: Wogegen das, was Sie nicht aufschreiben, mit mir verschwindet? Nichts davon bleibt?
Frage: So ist es. Nichts bleibt.“
Derartige Frage-Antwort-Dialoge gibt es in Michail Schischkins Roman viele. Und aufgeschrieben hat der 1961 in Moskau geborene Autor, der 1995 in die Schweiz emigrierte und dort als Dolmetscher für die Einwanderungsbehörde arbeitete, gleichfalls viel. 555 Seiten umfasst sein sprachgewaltiger Roman. In Russland räumte er bereits mehrere Preise ab. Hierzulande bekam er jüngst den Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.
Seinem monumentalen Buch hat der russische Autor, der gern als Tolstois und Nabokovs Enkel bezeichnet wird, einen Auszug aus dem Alten Testament, dem „Buch der Offenbarung Baruchs“ vorangesetzt: „Und angerufen wird der Staub und zu ihm gesagt: 'Gib zurück, was dir nicht gehört; offenbare, was du bewahrt für seine Zeit.' Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.“ Und genau diesen Epigraph versucht Schischkin auf den folgenden, höchst anspruchsvollen Seiten mit atemberaubender Eloquenz, Fantasie, Fabulierlust und erzählerischer Kunstfertigkeit zu belegen.
Über große Teile siedelt Michail Schischkin seine verschlungene Handlung auf dem Amt für Asylsuchende in Zürich an. Dort übersetzt sein Alter Ego – im Roman Dolmetsch genannt – seinem Vorgesetzten Paulus all die wundersamen, verworrenen, tragischen und grausamen Geschichten der Flüchtlinge aus seiner russischen Heimat, die um Einlass ins schweizerische Paradies bitten. Sie kommen aus Ossetien, waren im Afghanistan-Krieg, im Gulag, sind gerade aus dem Gefängnis entlassen oder vergewaltigt worden, viele von ihnen hochgradig traumatisiert. Schischkin offenbart die ganze Bandbreite menschlicher Gräueltaten. Ob die Berichte dieser Menschen wirklich wahr sind, darum geht es dem Autor jedoch nicht. „Mögen die Sprecher fiktiv sein, das Gesagte ist wahrhaftig. Wahrheit gibt es nur dort, wo es etwas zu verbergen gibt. Gut, die Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es! Wenn sie im Kinderheim nicht den mit den aufgeworfenen Lippen vergewaltigt haben, dann einen anderen! Und die Story von dem verbrannten Bruder und der getöteten Mutter hat der Litauer irgendwo aufgeschnappt. Ist es wichtig, wem genau sie passiert ist? Sie bleibt authentisch, so oder so. Leute sind hier nebensächlich, es geht um die Geschichten, die entweder echt oder unecht sind. Man muss eine Geschichte erzählen, das ist es. So wie sie sich abgespielt hat. Nichts dazuerfinden. Wir sind was wir sagen.“ Die Gefahr dabei: „Man weiß nie, in welchem Reich man aufwacht und als wer. (…) Die Geschichten suchen sich einen Menschen aus und gehen um mit ihm.“
„Diese Menschen, diese Reden – man wird sie nicht los.“, stellt der Dolmetsch fest. Zu Hause versucht er sich mit den „Xenophon's Anabasis“, einen der ersten, aus der griechischen Antike überlieferten Schriften, abzulenken. Er schreibt Briefe an seinen in Russland lebenden Sohn oder liest in den Tagebüchern seiner Geliebten Isolde. Wahrheit und Fiktion verschwimmen, alles verschmilzt zu einem einzigen „Welt-Text“, einem Lebensgarn, dass Schischkin virtuos vor dem Leser ausrollt. Immer wieder eingeflochten werden die vom Autor meisterhaft gefälschten Tagebücher der 100 Jahre alt gewordenen russischen Estraden-Sängerin und Volkskünstlerin Isabella Danilowna Jurjewa. Deren milder Plauderton steht in krassem Gegensatz zu den apokalyptischen Horrorberichten der Asylbewerber. Alles zusammen ergibt ein riesiges literarisches Gemälde Russlands vom Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Ende des Zarenreichs, der Revolution bis in die Gegenwart. Schischkin umspannt mit Worten gewaltige Dimensionen.
Der russische Autor lässt Geschichten zurück und „entlüftet“ Menschen. Der Leser pickt sich seinen Teil heraus. Alles in seiner immensen Breite zu erfassen, ist unmöglich und erhöhte Lesekonzentration von Nöten, einhergehend mit einem zwangloses Sichfallenlassen in den Text. Was umso leichter fällt, denn Schischkin bildet Worte, die „aus dem Sprachnebel ausfällen. Wortstaub verwandelt sich auf irgendeine Weise (…) zu Kernlein, die einem auf der Zunge liegen.“Die virtuose und zuweilen blumige Sprache lässt die mehrfach verschachtelten Handlungsstränge leichter entwirren und die Vergangenheit, obwohl man sie zu kennen meint, durch die Seiten verändern.
Der Romantitel klärt sich am Ende recht deutlich auf. Denn das unscheinbare grazile Farn mit Namen „Venushaar“ bildet in ganz Europa oft große Bestände an steilen Böschungen entlang von Flüssen und Bächen oder überrieselten, gemörtelten Mauern. „Da könnt ihr noch so viel alte Bart- und Chlamysträger auswerfen, die sich die unbefleckte Empfängnis ausdenken, malt und meißelt, was ihr wollt, ich stoße durch alle Leinwände, all euren Marmor breche ich auf. Jede Ruine im Forum besiedele ich, und unter jedem Ziegelstein im Phlox bin ich auch. Wo ich nicht zu sehen bin, dort sind meine Sporen. Wo ich nicht bin, da war ich, da werde ich sein. Ich bin, wo ihr seid.“
Fazit:
„Das Vergangene ist nicht mehr da, aber wenn man es erzählt, kann man die Wörter über Tage dehnen oder umgekehrt ganze Jahre in eine Handvoll Buchstaben stopfen.“
Michail Schischkin vernäht in seinem Roman virtuos die Zeit wie eine Nähmaschine im Zickzackstich. Der Übersetzer Andreas Tretner hat dem deutschsprachigen Leser diesen „Nähkurs“ hervorragend zugänglich gemacht.
Michail Schischkin
Venushaar
Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Originaltitel: Venerin Volos, DVA, Berlin (März 2011), 560 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3421044414, ISBN-13: 978-3421044419, Preis: 24,99 EUR
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