Marko Martins freiheitstrunkene Prosa „Schlafende Hunde“
Kürzlich wurden wir ein weiteres Mal Zeugen einer medialen Erregung, die der Textmasse einer jungen Autorin galt. Die Verbal-Orgie gab sich aber nicht nur obszön, sie rahmte sich auch progressiv. Wie beim Tontaubenschießen flog ihr Buch allerdings in genau jenem Moment in zahlreiche Plagiats-Trümmer auseinander, als es auf dem Scheitelpunkt der Aufwärtsbewegung stand, wohin ihm fast alle Augenpaare des bundesdeutschen Literaturbetriebs wie in einem Pawlowschen Reflex gefolgt waren – und so mitten hinein in ein totales Glaubwürdigkeits-Desaster. Nun schadet über Bücher zu streiten an sich niemandem, wäre es denn so. Denn es schadet selbstverständlich der Aufmerksamkeit für Bücher, die es ungleich mehr verdient hätten, auf hohe feuilletonistische Umlaufbahnen geschossen zu werden: Wie zum Beispiel „Schlafende Hunde“, der neue Erzählband des heute vierzigjährigen Journalisten und Autors Marko Martin, der aus Sachsen stammt, seit langem aber in Berlin lebt. Martin ist ebenso Vollblutjournalist wie Vollbluterzähler: Seine Romane, Geschichten und Reportagen strotzen vor Vitalität. Es ist die Vitalität eines gelebten, nicht geborgten Lebens. Denn wie nur wenige Autoren seines Alters ist Martin tatsächlich in der Welt zu Hause, nicht bloß ideologisch. Reise- und Lebenshunger sind bei ihm deckungsgleich, das Tiefenmotiv dieses literarisch folgenreichen Weltbürgertums ist aber ein politisches: Marko Martin wuchs in einer Diktatur auf, der zweiten in der deutschen Geschichte, und wurde sie erst 1989, mit knapp Zwanzig, wieder los: 1989. Wenn es nicht zu pathetisch klänge, müßte man die Prosa dieses Autors als Prosa eines Freiheitstrunkenen charakterisieren, dessen Bewegungen durch die Welt nicht von Ekel-Fluchten vor dem normalen Leben angetrieben werden, wohl aber vom Wissen um die Einmaligkeit individuellen Daseins wie von der Erfahrung, daß es Ideologien gibt, deren politische Praxis darin besteht, beides zu bestreiten, notfalls mit Hilfe der Normativität des Totalitären und den dazugehörigen Maßnahmen.
Die acht Geschichten des neuen Buches von Martin illustrieren dies allerdings nie vordergründig. Was sie zudem auszeichnet, ist ihre Unmittelbarkeit: Der Leser stürzt aus dem Stand in einen reißenden Erzählstrom, der ihn schlagartig nach Tel Aviv führt, nach Mexico City, Prag, Teheran oder Somalia. Zugleich sind alle Orte im Moment des Erreichens nicht nur Raum für lediglich exotische Geschichten, sondern politischer Geschichtswirbel von ungeheurer Dramatik und Dynamik: Prag 1968 und nach 1989, Iran während der blutigen Etablierung eines islamischen Gottestaates, das Pulverfaß Palästina, Mexico als Haifischbecken sich bekämpfender kommunistischer Emigranten, die vor Stalin oder Hitler geflohen sind. Und es gibt, wie in einer Matrjoschkapuppe, Orte in allen diesen Orten, die Teil der weltweiten Community homosexuell lebender und liebender Menschen sind. Die Souveränität, mit der Marko Martin an diesem zentralen Punkt zu Werke geht, ist allerdings beeindruckend, stellt er doch die sexuelle Präferenz seiner Helden nie aufdringlich aus, vielmehr bricht er sie nicht zuletzt mit dem Mittel radikaler Selbstironie. Am radikalsten vielleicht in der Geschichte „Letzte Detektive“, die den Leser nach Mexico City entführt und dort in einen plüschigen Schwulenclub, in dem es, am Rande eines PEN-Kongresses, zu einer letztlich unheimlichen Begegnung zwischen dem auch erotischen Abenteuern nie abgeneigten Reisenden und einem auf die Sechzig zugehenden Intellektuellen kommt, in deren Verlauf allerdings nicht das Altersdrama des Mannes Hauptgegenstand des Gesprächs mit dem jungen Deutschen ist, sondern eine Art politische Beichte über Hoch- und Endzeiten des Kommunismus und seiner Sympathisanten sowie die Moral oder Unmoral darin verwickelter Intellektueller. Marko Martin nutzt für diese Geschichte das Erzählmodell eines der berühmtesten Bücher des 20. Jahrhunderts: des Romans „Der Fall“ von Albert Camus. Beichtet bei Camus ein Richter in einer Amsterdamer Bar einem Wildfremden sein moralisch verfehltes Leben, so monologisiert bei Martin ein alternder Dichter über seine Existenz, der sich zugleich verdammt gut auskennt in der Welt linker Künstler und Politiker und wie sie in Mexiko aufeinandertrafen. Das Erzählschiffchen jagt im Verlaufe des großen Monologs, der, wie bei Camus, den zufälligen Gesprächspartner nie zu Wort kommen, aber in den eigenen Reaktionen Gestalt annehmen läßt, in einem Meer von Namen, Anekdoten, Politdramen und zwischenmenschlichen Tragödien so geschickt und schnell hin und her, daß am Ende ein absurdes Geschichtsmuster das dicht geknüpfte Textgewebe durchzieht und sich in den Worten des Monologisierers zum Schlußbild verdichtet: „Was als Komödie beginnt, endet als Tragödie. Warum dämmert es den jungen Leuten nicht, daß wir ein Pack von Lügnern sind?“ Kein Zweifel: „Schlafende Hunde“ erzählt mit Leidenschaft und sprachlicher Opulenz Geschichten aus einer Welt der Leidenschaften. Daß in einer solchen Welt das Glück oft der Zwillingsbruder der Katastrophe ist und vice versa, das verschweigen diese Geschichten gerade nicht. Aber genau das macht sie doppelt glaubwürdig.
Marko Martin: „Schlafende Hunde“, Erzählungen, Die andere Bibliothek, Eichborn, Frankfurt am Main 2009, 382 S.
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