Germanistenleben in Sachsen und Thüringen – Bernd Leistners Buch „Im Lauf der Zeiten“

Flaggen in Erfurt an der Staatskanzlei, Foto: Stefan Groß

Die aufregende Geschichte der DDR-Germanistik mit allen Höhen und Tiefen ist bis heute nicht geschrieben worden. Vorerst wird man sich mit den Fragmenten begnügen müssen, die man beispielsweise in den beiden Bänden „Deutsches Tagebuch“ (1959/61) des bis zur Flucht im Sommer 1957 in Ostberlin wirkenden Alfred Kantorowicz (1899-1979) oder in Hans Mayers (1907-1991) zweiteiliger Autobiografie „Ein Deutscher auf Widerruf“ (1982/84) findet. Zu nennen wären auch Klaus Hermsdorfs (1929-2006) Buch „Kafka in der DDR. Erinnerungen eines Beteiligten“ und, ins Fiktionale umgesetzt, der Roman Sigrids Damm (1940) „Ich bin nicht Ottilie“ (1992) über ihr Liebesverhältnis zu dem Jenenser Germanistikprofessor Hans Kaufmann (1926-2000). Nicht zu vergessen sind auch zwei wissenschaftliche Aufarbeitungen: Die eine des Münchner Emeritus Jürgen Scharfschwerdt „Literatur und Literaturwissenschaft in der DDR“ (1982) und die Siegener Dissertation Jens Saalhoffs „Germanistik in der DDR“ (2007).
Was Bernd Leistner in seinem wirklich spannenden Buch bietet, ist ein bunter Bilderbogen seiner germanistischen Aktivitäten vom Studienbeginn 1957 bis zur Emeritierung in Chemnitz 2004. Hier wird ein rundes Germanistenleben im SED-Staat geschildert, wobei es gelang, alle politisch gefährlichen Klippen, die die staatstragende Ideologie des Marxismus-Leninismus in sich trug, glücklich zu umschiffen. Fast alle!
Der Autor, geboren am 3. Mai 1939 in Eibenstock bei Schwarzenberg/Erzgebirge und gestorben am 27. Februar 2019 in Leipzig, blättert zunächst breit seine erzgebirgische Vorfahrenreihe auf und erwähnt auch, dass er schon 1957 als Reiseleiter in Zwickau neben dem Studium gutes Geld verdiente, wenn er die reisende „Arbeiterklasse“ auf FDGB-Fahrten bis Dresden und Weimar begleitete. Während des Studiums saß er im berühmten Hörsaal 40 der Leipziger Karl-Marx-Universität, wo Ernst Bloch und Hans Mayer auftraten, hörte von Prozessen gegen studentische „Konterrevolutionäre“, die aber angeblich staatlicher Milde teilhaftig wurden, da sie nur „Selbstkritik“ üben mussten oder „zur Bewährung in die Produktion“ geschickt wurden. Er verschweigt aber, dass Bloch-Schüler Gerhard Zwerenz (1925-2015) im Sommer 1957 vor drohender Verhaftung nach Westberlin floh, dass Bloch-Schüler Günter Zehm (1933) zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und dass dem Bloch-Assistenten Jürgen Teller (1926-1999) in der Produktion der linke Arm abgerissen wurde.
Bernd Leistner war ein fleißiger Student, er saß in den Vorlesungen des Altgermanisten Theodor Frings (1886-1968) und des Neugermanisten Hermann August Korff (1882-1963), des Verfassers des vierbändigen Standardwerks „Geist der Goethe-zeit“ (1923/53). Beide „bürgerliche“ Professoren waren noch vor 1933 nach Leipzig berufen worden und nach 1945 dort geblieben, wo sie lediglich geduldet waren. Und er hörte auch bei dem berühmten Hans Mayer (1907-2001), der 1948 nach Leipzig gekommen und im Sommer 1963 von einer Westreise nicht zurückgekehrt war; über ihn kann man hier fünf Seiten lesen.
Nach dem Staatsexamen 1962 war er Deutschlehrer an zwei Oberschulen in Mittweida und Leipzig. Inzwischen war die Bezirksschulrätin, die er immer nur die „Hohe Frau“ nennt, auf ihn aufmerksam geworden. So durfte er 1970 auf einem Pädagogischen Kongress in der Ostberliner „Werner-Seelenbinder-Halle“, wo bis 1971 die SED-Parteitage stattfanden, über Hermann Kants umjubelten Roman „Die Aula“ (1965) sprechen und wurde „umbrandet von rauschendem Beifall“. Die Halle soll mit 3000 Lehrern und Schulfunktionären gefüllt gewesen sein. Nach dem Vortrag erfuhr er von einem Eingeweihten, dass die Regierungsdelegation unter Walter Ulbricht und Erich Honecker nur mäßig und lustlos geklatscht hätte. Der Grund wurde gleich mitgeliefert: Hermann Kant war der „Obrigkeitsgunst verlustig gegangen“, weil er in der SPD-Zeitung „Vorwärts“ die DDR-Regierung kritisiert hatte.
Inzwischen hatte SED-Mitglied Bernd Leistner ein feines Gespür für die Begehrlichkeiten seiner Partei entwickelt, nachdem er nicht nur die Leipziger Bezirksschulrätin, sondern auch deren Vorgesetzte, Volksbildungsministerin Margot Honecker, kennen gelernt hatte. Dem Ansinnen der SED-Führung, ihn mit höheren Aufgaben zu betrauen, konnte er sich mit Frau und Kind entziehen, um drei Jahre als Deutschlehrer in Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, zu wirken. Vorher freilich war er im Mai 1971 von Claus Träger in Leipzig mit einer Arbeit über den Ostpreußen Johannes Bobrowski (1917-1965) „summa cum laude“ promoviert worden. Eine solche Vertrauensstellung wie in Skopje war sozusagen auf vermintem Gelände angesiedelt, da man ständig westdeutschen Kollegen begegnete, denen man ausweichen musste, wenn sie verfängliche Fragen stellten. So waren er und seine Frau Verena einmal zu einem Empfang des westdeutschen Goethe-Instituts in Struga eingeladen und wurden abends „verbotenerweise“ vom Fahrer des Goethe-Direktors zurückgebracht ins Hotel. Dass es ihnen, wie Bernd Leistner schreibt, „schlecht ergangen“ wäre, wäre das aufgedeckt worden, ist eine Untertreibung. Nicht einmal an der Erweiterten Oberschule „Erich Weinert“ in Mittweida hätte er noch unterrichten dürfen!
Die schönste Zeit seines Germanistenlebens stand ihm aber noch bevor: die zwölf fruchtbaren Jahre an den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur zu Weimar“, schlicht „VEB Goethe“ genannt. Direktor Walter Dietze (1926-1987), ein Schüler Hans Mayers und sein einstiger Doktorand mit der Arbeit „Junges Deutschland und deutsche Klassik“ (1958), hatte ihn dorthin berufen. Er blieb in Leipzig wohnen, nahm sich ein Zimmer und fuhr montags nach Weimar und freitags zurück. Seine Erlebnisse im Zug, der von Frankfurt/Main kam und nach Frankfurt/Oder fuhr, sind köstlich zu lesen.
Da war einmal die Gruppe der DDR-Rentner, die von Verwandtenbesuchen in Westdeutschland heimreisten in die ummauerte Republik und einander verzückt ihre Westgeschenke zeigten. Sie schwärmten vom unerschöpflichen Warenangebot im „untergehenden Kapitalismus“ und baten ihn auch mehrmals, sein „sozialistisches Bewusstsein“ strapazierend, ihnen beim Aussteigen behilflich zu sein und ihre Koffer zur Waggontür zu tragen, wobei sie ihn mit Bananen entlohnten.
Noch schlimmer war die „Bewusstseinsschwäche“ die er durch die Begegnung mit der „Arbeiterklasse“ erlitt, die zur Schicht fuhr. Denn die Arbeiter standen auf der untersten Stufe der DDR-Gesellschaftshierarchie und sprachen ohne Hemmungen aus, was sie dachten. Sie diskutierten im Zug über die miserable Versorgungslage und über das Westfernsehen vom Wochenende oder erzählten politische Witze, vor denen der Reisende in Sachen Weimarer Klassik die Ohren hätte verschließen müssen.
Immerhin hat Bernd Leistner „im Lauf der Zeiten“ genügend Erkenntnisse über den SED-Staat gewinnen können, dass er sich am Montag, 23. Oktober 1989 bei den Leipziger Demonstranten einreihte, offensichtlich mit Zittern und Zagen, denn er scherte gleich wieder aus mit einer merkwürdigen Begründung: „Inmitten einer mich umschließenden Menge fühlte ich mich unwohl seit je“, wobei sich „ununterdrückbar ein Fliehimpuls in mir geltend“ machte. Eine „kleine Wegstrecke“ wäre er, während „Sprechchöre mich umschallten“, mitgelaufen. Diese Leipziger „Konterrevolutionäre“ haben ja auch fürchterliche Dinge gerufen wie „Wir sind das Volk!“ Und am 1. Mai und am 7. Oktober, wo Demonstrieren Bürgerpflicht war, hätten ihn keine Beklemmungen befallen? In Wirklichkeit hatte er furchtbare Angst, es könnte vom Bürgersteig aus gesehen werden, dass er bei den „Konterrevolutionären“ mitmarschierte. Wusste man denn, ob die Leipziger Demonstranten siegreich sein würden, wo doch Egon Krenz schon die „chinesische Lösung“ angekündigt hatte?
Und schließlich wäre da noch die leidige Stasi-Verstrickung des Chemnitzer Professors zu klären, die in diesem Buch nicht vorkommt. So wurde er auf einer Sondersitzung der Weimarer Goethe-Gesellschaft am 26. Mai 2002 wegen des unabweisbaren IM-Verdachts aus dem Vorstand ausgeschlossen. Wer sich der Mühe unterzieht, in der Erfurter Außenstelle der Berliner Gauck-Behörde die entsprechenden Stasi-Akten zu studieren, stößt auf das denkwürdige Schreiben eines MfS-Hauptmanns über eine geplante Vortragsreise über DDR-Literatur Bernd Leistners nach Schweden, die von der „Staatssicherheit“ begutachtet werden musste: „Der Ausreise des Dr. Leistner vom 8. 5. bis 16. 5. nach Schweden wird zugestimmt…Dr. L. ist positiv für unsere Diensteinheit erfasst. Er reiste bereits mehrfach ins NSW und vertrat die DDR dabei würdig.“
In Joachim Walthers Buch „Sicherheitsbereich Literatur“ (1969) findet man weitere Spuren des GMS „Johannes“ (seinen Decknamen wählte er in Anlehnung an den Schriftsteller Johannes Bobrowski). So erfährt man dort, dass der bei seinem Führungsoffizier als „literaturkundig“ und „feinsinnig“ eingeschätzte „Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit“ (GMS), der als „literaturwissenschaftlich gebildeter Experte vom Literaturinstitut Leipzig“ (das alles trifft auf Bernd Leistner zu!) benannt wurde, 1976 auch auf das Leipziger Ehepaar Heide Härtl (1943-1993) und Gert Neumann (1942) angesetzt war. So hatte er den Auftrag, konspirativ beschaffte Texte der beiden Schriftsteller zu begutachten („subjektivistischer Standpunkt im anarchistischen Sinne“). Die Aufklärung der dunklen Seite der DDR-Germanistik hat noch kaum begonnen!

Jörg Bernhard Bilke

Bernd Leistner „Im Lauf der Zeiten. Erinnerungssplitter“, 200 Seiten, 14.90 Euro, Quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2017

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.