Georgischer Wein wird zunächst in Bottichen gestampft, dann wird der Saft mitsamt Stengeln und Traubenschalen in henkellosen Tonamphoren in die Erde eingelassen, wo diese Maische, bei gleicher Temperatur gelagert, über Jahre gären und reifen kann. Diese Kwewrikrüge werden mit feuchtem Ton versiegelt, durch den ein eingeführtes Rohr CO₂ entweichen läßt. Da die Tonwände für Luft und Wasser durchlässig sind, vergärt der Wein unter Sauerstoffkontakt, was spätere Oxidation verhindert. Der Weißwein erhält so eine rotgoldene Färbung. Seine harzig-trockene Note befremdet den europäischen Gaumen. Auf Familienfeiern in Kachetien, zu denen Dieter Boden georgische Freunde luden, lernte der frühere Leiter OSZE-Feldmission (1995/96) und Sondergesandte des UN-Generalsekretärs (1999 bis 2002) in Georgien, seinen zunächst ungewohnten Geschmack zu schätzen (S. 174f.). Die Tafel oder Suphra, geleitet vom Tamada, dem Symposiarchen, der Chor und Gespräch dirigiert, erhob die Teilnehmenden dabei über die sinnlichen Genüsse der fleischgefüllten Auberginen (Baklaschany), der Spinatknödel Phchali, des Huhns in Walnußsauce Saziwi, der swanischen Maultaschen Chinkali, der käsegefüllten Teigfladen Chatschapuri und einer Fülle an Grünzeug wie Estragon (Tarchuna), versenkt in die musikalische Harmonik und Stimmführung des achtstimmigen polyphonen Gesanges, in eine seelisch-metaphysisch andere Welt (S. 157).
Der besonders erlesene Trinkspruch gibt als Igawi, als religiöses oder literarisches Gleichnis, den Gästen eine Lebensweisheit mit auf den Weg. Das Gelingen der Tafel steht und fällt mit der Würde und menschlichen Reife des Tamada, mit dessen Fähigkeit zur Einstimmung der Runde als Dirigent, die verhindert, daß das Gastmahl als Farce in ein Zechgelage abgleitet. Er wacht über die Qualität der Redebeiträge und hat die Möglichkeit, jederzeit einzugreifen. Boden berichtet aus der georgischen Kulturgeschichte: Im 19. Jahrhundert erinnerte der nationalbewegte Dichter Akaki Zereteli (1840-1915) an die Ursprünge der Suphra in der christlichen Tafelrunde, die sich vom damals schon geläufigen Zechgelage durch Mäßigung unterschied. Die Tafelrunde als Bildungsinstitution versuchte nach dem Untergang der georgischen Akademien im Mongolensturm notbehelflich weiterzugeben, was im hochmittelalterlichen Goldenen Zeitalter (11. – 13. Jh.) an Georgiens Hochschulen unterrichtet worden war – den tragischen Optimismus des georgischen Weltverständnisses: das nur einen Augenblick währende Leben als eine heiter-nüchterne Kunst des Sterbens einzüben, als ein Streben nach Wohlergehen der Lebenden und Toten durch Bekräftigung von Liebe und Freundschaft, als Erringung der Leichtigkeit und Unversehrtheit durch mildes Verzeihen.
In der westgeorgischen Kolchis herrscht noch folgende Sitte: Ein ausgeschnittener Kürbis kreist als Trinkgefäß in der Runde und stiftet ein Gemeinschaftsgefühl, das innerlichen Widerwillen der Teilnehmenden überwinden soll, insbesondere wenn Gegner oder Feinde zu Tisch sitzen. Der einstige Gesandte der OSZE- und UN-Mission in Georgien fragt sich, ob dieser kolchische Brauch nicht als Modell zur Entschärfung politischer Konflikte dienen könnte (S. 172). Seine Bewirtung als gottgesandter Gast in Georgien hat Boden jedenfalls stets in „Demut und tiefer Dankbarkeit“ erfahren (S. 167).
Auch den russischen Dichter Ossip Mandelstam (1891-1938), der 1930 dank einer Intervention Bucharins Georgien und Armenien bereisen durfte, zog der „lichte, weise Geist der Berauschung“ der Georgier in seinen Bann. Wie viele russische Dichter berührte ihn der „georgische Eros“. Die Mythen, die Poesie und die Kunst seien bei den Georgiern jedoch nicht als Flucht vor der Wirklichkeit zu verstehen, sondern würden vielmehr gebraucht, um als einzelne und als Nation zu überleben (S. 180): Als etwa der georgische Prinz Lewan mit seiner Reiterei 1699 von feindlichen Truppen umzingelt war, ermunterten sich die Georgier, indem sie sich Verse aus dem Recken im Tigerfell, dem georgischen Nationalepos Schotha Rusthawelis (1172-1216) vortrugen. Dessen ritterliche Minne und Freundschaft preisende Dichtung gilt als zweite georgische Bibel: „Wahrhaftig minnet jener Mann, der dieser Welt entsagen kann.“
1937 feierte Josef Wissarionowitsch Stalin (1878-1953), Sohn einer Georgierin und eines Osseten, das Jahr der Etablierung seiner russisch-georgischen Alleinherrschaft, indem er es als 100. Todesjahr Puschkins und 750. Geburtsjahr Rusthawelis, der beiden „Nationaldichter aller sowjetischen Völker“ beging und sich selbst legitimierte (S. 155).
Nach dem Tode Stalins widersetzten sich die Georgier in feiner äsopischer Sprache mit der soft power ihrer Filmkunst den Lebensverzerrungen realsozialistischer Herrschaft. Zweimal intervenierte Eduard Schewardnadse (1928-2014) zugunsten des georgischen Kinos: Als erster Sekretär der georgischen KP entsandte er 1978 eine Delegation nach Moskau, um den Vorwurf der gesellschaftlichen Zersetzung durch das georgische Kino zu entkräftigen. Als sowjetischer Außenminister ermöglichte er 1987 die Aufführung von Thengis Abuladses (1924-1994) Spielfilm „Die Reue“ in Georgien, der die totalitären Angriffe auf das menschliche Gewissen sowie auf Glaubens- und Kulturüberlieferung anprangerte. Etwas subtiler kritisierte Otar Iosseliani (*1934) 1966 in seiner „Weinernte“ (im georgischen Original Giorgobis Thwe, „St.-Georgs-Monat“) den menschheitsbeglückenden Fortschrittsglauben sowjetischer Façon als planwirtschaftliche Weinpanscherei (S. 158f.). Seine Ironie hat sich der Regisseur auch im französischen Exil bewahrt: In seinem „Chant d’hiver“ (2015) tritt er als gealterter Aristokrat, die Pfeife schmauchend, gelassen auf das Schafott des Tiers état, um darauf als Clochard im Paris der Gegenwart einem jungen Kleinkriminellen die Mißbilligung von Schillers „Ode an die Freude“ als eine geschickte Liebeswerbung um seine Angebetete zu empfehlen.
Jedoch kennen die Georgier nicht nur die Subversion, sondern ebenso die freiwillige Unterordnung unter die jeweiligen Fremdherrscher, wie sie Alexandre Dumas der Ältere (1802-1870) auf seiner „Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus 1858-1859“ erfuhr: eine „fließende Mentalität“ der georgischen Elite, wie sie Nino Haratischwili (*1983) in ihrem Roman „Das achte Leben“ kritisiert, „sich geschmeidig in der bolschewistischen Herrschaft einzurichten“ und es sich im „russischen Trauma“ durch eine hedonistische Interpretation des Marxismus-Leninismus „gut gehen“ zu lassen (S. 179). Jenseits der Sowjetherschaft glaubte der mit Stefan Zweig und Thomas Mann befreundete Dichter Grigol Robakidse (1882-1962) in den 1930er und 1940er Jahren im Berliner Exil die deutschen und italienischen Machthaber durch Wortmagie zu einer Befreiung und Schonung seiner Heimat beschwören zu können (S. 156). Nach dem Krieg soll er in der Schweiz seine Romanze mit den Mächtigen bitter bereut haben.
„Wenige andere Literaturen dürfen das Böse so phantasiereich ausgestaltet haben wie die georgische“, schreibt Boden. Es wimmeln und tummeln sich unzählige Ungeheuer und Unholde als Widersacher in georgischen Märchen, gegen die sich die Helden strapazenreich zu bewähren haben, bis das Gute schließlich das Böse glücklich überwindet und hinter sich läßt (S. 153). Der Reisebericht Marco Polos liest sich wie ein Widerhall der optimistisch-gruseligen Märchen: Als der Venezianer im 13. Jahrhundert auf der Seidenstraße Tbilissi durchreiste, bemerkte er erstaunt das vom Mongolensturm ungebrochene Selbstbewußtsein und das nicht geringe materielle Wohlleben seiner Einwohner (S. 28). Dieter Boden spricht von einem „Volk von sympathisch anrührender Unbeschwertheit, das sich seiner eigenen Schwächen bewußt ist, zugleich aber mit diesen zu kokettieren weiß, da es sich der Gunst des Herrn sicher sein kann“ (S. 179).
Die Bilanz der beiden von ihm geleiteten Friedensmissionen in Georgien nennt der Diplomat „zwiespältig“. Die bis heute in den Schubladen liegenden Konzepte zur Reintegration des Landes scheiterten bislang an „mangelnder Kompromißbereitschaft aller Beteiligten“, an mangelnder Unterstützung Rußlands und Indifferenz des Westens. Der Ausbruch des Augustkrieges 2008 konnte ebensowenig verhindert werden. Auch bei den auf die Friedensmissionen folgenden vierzig Treffen der Genfer Gespräche sind „nennenswerte Fortschritte ausgeblieben“ (S. 71f.). Eingangs seines Buches zitiert Boden den russischen Dichter Alexander Puschkin (1799-1837): „O sing‘ Du Schöne, sing‘ mir nicht/ Georgiens wehmutvolle Lieder, —/ Sie wecken wie ein Traumgesicht/ Mir fernes Land und Leben wieder“(S. 9). Der Diplomat und Slawist Dieter Boden hat mit seinem Länderporträt eine wehmütige Liebeserklärung an das Land seines langjährigen Wirkens vorgelegt. Dieter Boden, Georgien, Ein Länderporträt, 200 Seiten, Klappenbroschur, Format: 12,5 x 20,5 cm, eine Karte, Ch.-Links-Verlag, 1. Auflage, Berlin 2018, ISBN: 978-3-86153-994-0, Preis: 18 EUR (D)