Der Schriftsteller Reinhard Jirgl (57), dem am 9. Juli der Darmstädter „Georg-Büchner-Preis“ zugesprochen wurde, war vor zwei Jahrzehnten, im Jahr des Mauerfalls 1989 in Berlin, ein noch völlig unbekannter Autor! Dabei hatte er damals bereits sechs Romane geschrieben, die alle ungedruckt in der Schublade lagen, weil sie vom Ostberliner Aufbau-Verlag aus politischen Gründen abgelehnt worden waren. Eines dieser verbotenen Manuskripte, der „Mutter Vater Roman“, erschien dann 1990 just in diesem Verlag, der die Veröffentlichung noch 1985 als unzumutbar zurückgewiesen hatte „wegen unmarxistischer Geschichtsauffassung“. Rückblickend erklärte er 2007: „Die Geschichte meiner literarischen Arbeiten aus den Jahren vor 1990 ist die Geschichte von staatlich verhängtem Erstickungstod.“
Dieses frühe Verbot seiner Texte ist eine der Merkwürdigkeiten, die das Leben dieses zunehmend erfolgreicher auftretenden Autors, der eigentlich für einen völlig anderen Beruf ausgebildet worden war, der aber bis heute 16, zum Teil international anerkannte Literaturpreise verliehen bekommen hat, umgeben. Die zweite ist sein für Mitteldeutschland ganz untypischer Nachname, der zunächst vermuten lässt, er wäre vielleicht ein Nachfahre von Salzburger Emigranten, die 1732 in Ostpreußen eingewandert und 1945 von dort vertrieben worden waren, zumal er in seinen Romanen auch ostpreußische Schicksale aufgreift.
Dass er der Sohn sudetendeutscher Aussiedler ist, das lässt sich nur aus dem Dutzend Bücher erschließen, die zwischen 1990 und 2009 von ihm erschienen sind. Geboren ist er am 16. Januar 1953 in Ostberlin, wo seine Eltern lebten, aufgewachsen aber bis 1964 bei den Großeltern in Salzwedel/Altmark, bevor er dann zu den Eltern zurückkehrte, das Abitur ablegte und 1971/75 Elektronik an der Humboldt-Universität studierte. Nebenbei freilich war er aktives Mitglied im Köpenicker Lyrikseminar, wo er entscheidende Impulse empfing für seine Entwicklung als Schriftsteller. Sein Studium schloss er mit dem Titel eines Hochschulingenieurs ab und arbeitete bis 1996 als Beleuchtungstechniker an der Berliner Volksbühne, wo der von ihm verehrte Dramatiker und Dramaturg Heiner Müller (1929-1995) arbeitete.
Das Schicksal dieses sudetendeutschen Autors, der im SED-Staat aufgewachsen und dort mundtot gemacht worden war, zeigt in erschreckender Weise, dass die angeblich 1989/90 abgestorbene DDR-Literatur nicht nur aus Texten bestanden hat, die, staatlich abgesegnet, in DDR-Verlagen erscheinen konnten. Reinhard Jirgl gehört mit seinen sechs verbotenen Manuskripten nicht zur „DDR-Literatur im westdeutschen Exil“, was es auch gegeben hat, sondern zur unveröffentlichten Untergrundliteratur, die nach 1989/90 mit Macht an die Öffentlichkeit drängte. Dass er bei französischen Autoren gelernt hat und Ernst Jünger (1895-1998) wie Carl Schmitt (1888-1987), die nach DDR-Kriterien „Faschisten“ waren, zu seinen Vorbildern zählte, mag beigetragen haben zum Druckverbot seiner Texte.
Der literarische Durchbruch für den nachgeborenen Sudetendeutschen kam 1995 mit dem Roman „Abschied von den Feinden“ im Münchner Hanser-Verlag, dem der Autor bis heute treu geblieben ist. Für dieses Buch, vielmehr für das noch ungedruckte Manuskript, war er schon 1993 mit dem „Alfred-Döblin-Preis“ ausgezeichnet worden wie 1991 mit dem „Anna-Seghers-Preis“. Weitere Auszeichnungen waren der hochdotierte „Joseph-Breitbach-Preis“ (1999), der „Bremer Literaturpreis“ (2006) und der „Lion-Feuchtwanger-Preis“ (2009). Der Darmstädter „Georg-Büchner-Preis“, begründet 1923 und heute verliehen von der „Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ und dotiert mit 40 000 Euro, ist der unter deutschen Autoren angesehenste Literaturpreis. Auf die Preisrede des Autors darf man gespannt sein!
Reinhard Jirgl, acht Jahre nach Kriegsende geboren, hat Flucht, Vertreibung, Aussiedlung von Eltern und Großeltern aus Komotau in Nordböhmen nicht selbst erlebt, aber er schreibt darüber! In seinen Romanen „Die Unvollendeten“ (2003) und „Die Stille“ (2009) kommt er immer wieder auf das offensichtlich einschneidendste Erlebnis in der Familiengeschickte zu sprechen, das in den Gesprächen unter den Erwachsenen, die er als Kind noch nicht verstand, immer wieder beredet wurde, flüsternd oft und hinter vorgehaltener Hand: Den Verlust der Heimat!
So schildert der von der Vergangenheit seiner Vorfahren erfüllte Autor im Roman „Die Unvollendeten“ die Aussiedlung vierer Frauen (der Großmutter, zweier Töchter, einer Enkelin) aus Böhmen nach Sachsen-Anhalt im Spätsommer 1945 und im Roman „Die Stille“ das Schicksal der ostpreußischen Familie Schneidereit. Das Beglückende daran ist, dass auch bei der nachgeborenen Generation, so auch bei der 1944 in Prag geborenen Renate Feyl mit ihrem sudetendeutschen DDR-Roman „Ausharren im Paradies“ (1992), das Jahrhundertthema „Flucht und Vertreibung“ noch keineswegs vergessen ist. Jetzt steht Reinhard Jirgl mit dem „Georg-Büchner-Preis“ in einer Reihe mit Carl Zuckmayer (1929), Anna Seghers (1947), Gottfried Benn (1951), Wolfgang Koeppen (1962), Günter Grass (1965) und Heinrich Böll (1967).
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