Gemeinsam sterben. „Der größtmögliche Beweis für Liebe“ von Nicola Bardola

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Der Schweizer Schriftsteller Nicola Bardola hat nicht nur fast 30 Bücher veröffentlicht, er ist auch ein Experte für selbstbestimmtes Sterben. Sein literarisches Oeuvre bezieht sich in groben Zügen auf drei wesentliche Bereiche: Kinder- und Jugendbücher (mehrbändige „Lies doch mal“-Reihe), Biografien über Musiker (John Lennon, Yoko Ono, Ringo Starr, Mercury) und Literatur zur Sterbehilfe. Sein Debüt-Roman „Schlemm“ aus dem Jahr 2005 handelt von dem assistierten Doppelsuizid seiner eigenen Eltern und wurde von der Literaturkritik sehr positiv besprochen. In der Folgezeit war Bardola in deutschen Medien zum Thema der Sterbehilfe sehr präsent. Er war Gastredner in Talkshows bei Johannes B. Kerner, Wieland Backes und Markus Lanz. Bei wissenschaftlichen Tagungen nahm er deutschen Universitäten (z.B. Universität Heidelberg) zum Thema der Sterbehilfe als Redner und in Podiumsdiskussionen teil.

Jetzt hat er zwanzig Jahre nach Erscheinen von „Schlemm“ eine deutlich erweiterte Fassung dieses Romans vorgelegt. Sie trägt den Titel „Der größtmögliche Beweis für Liebe“ (Bardola 2024). Diese Formulierung hat ihn wohl jahrzehntelang „umhergetrieben“. Denn bereits vor zwanzig Jahren erwogen er und sein Verlag diesen Titel für seinen Debüt-Roman. Sie entschieden sich damals dann doch dagegen. Heute ist wohl die Zeit dafür reif. Diese bemerkenswerte Wortwahl hat wohl den Autor zwei Jahrzehnte nicht mehr losgelassen.

Der autobiografische Hintergrund des Romans „Schlemm“ (2005)

Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten und ist daher stark autobiografisch geprägt. Sowohl in Nicola Bardolas Leben als auch im Roman geht es um das gemeinsame Sterben der Eltern durch einen assistierten Suizid im Jahr 1999. Im Roman sind dies das Elternpaar Paul und Franca Salamun.  Der Vater Paul war Mathematiker und Bridgemeister. Er erkrankte mit 75 Jahren an Krebs und lehnte eine mögliche Operation ab. Stattdessen wollte er gemeinsam mit seiner Ehefrau Franca mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation geplant aus dem Leben scheiden. Das Ehepaar weiht die Söhne und deren Ehefrauen in das beabsichtigte gemeinsame Suizidvorhaben ein. Der Romanprotagonist und Sohn Luca steht als Alter-Ego für den Autor. Er beschäftigt sich mit den Hintergründen und Motiven für diesen assistierten Doppelsuizid. Was macht ein geplanter Doppelsuizid der Eltern mit den Hinterbliebenen? Wie erleben sie die letzte gemeinsame Zeit bis zur „Deadline“, wenn schließlich die Sterbehilfeorganisation den Tag des Vollzugs festgelegt hat?

Dem Autor Nicola Bardola ist es gelungen, die emotionale Ambivalenz, die Konflikthaftigkeit und die existenzielle Tiefe dieser letzten Wegstrecke darzustellen. Immer häufiger werden in den Medien ausführliche Berichte von assistierten Doppelsuiziden veröffentlicht, bei denen die suizidwilligen Eltern Wochen oder Monate vor dem Ereignis alle ihre Kinder mit einbeziehen. Dies ist für alle Beteiligten eine große Herausforderung, wie sie „die Zeit davor“, die Zeit, die ihnen gemeinsam noch bleibt, gemeinsam gestalten. Martin Beglinger (2019) hat in der Neuen Zürcher Zeitung und Eva Schläfer (2022) hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine ausführliche Darstellung vergleichbarer Fälle verfasst. Der Focus dieser Berichte liegt auf dem Kommunikationsprozess zwischen den suizidwilligen Eltern und den einbezogenen Kindern.

„Der begleitete Freitod. Ein Plädoyer für die Selbstbestimmung über das eigene Leben“ (2007)

Zwei Jahre nach seinem Erfolgsroman und inzwischen zahlreichen öffentlichen Diskussionen von Nicola Bardola über Sterbehilfe hat er ein Sachbuch zu diesem Thema veröffentlicht. Im ersten Kapitel beschreibt er die verschiedenen Sterbehilfe-Alternativen, im zweiten einen Vergleich der Sterbehilfe-Situation in den Ländern Schweiz und Deutschland. Der Hauptteil widmet sich ethischen, juristischen, medizinischen, politischen und religiösen Aspekten der Sterbehilfe. Die Resonanz auf das Sachbuch war geringer als jene auf den Roman „Schlemm“.

„Der größtmögliche Beweis für Liebe“ (2024)

Zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Roman-Debüts „Schlemm“ erschien im Schweizer Verlag Nagel und Kimche eine deutlich erweiterte Fassung. Sie ist vom Umfang her etwa dreimal so lang (448 versus 159 Seiten). Der erste Teil ist eine Neuauflage von „Schlemm“. Im zweiten Teil geht es um die weitere Aufarbeitung des Themas in zwanzig Jahren. Dieser Teil ist sehr heterogen in der Textgestaltung. Es fließen Tagebuch-Einträge, Emails und Zitate von Schriftstellern oder Philosophen zum Thema von Tod und Sterben ein. Der Protagonist Luca aus „Schlemm“ erinnert sich an die Geburt seiner Tochter, an Gespräche mit seiner schwangeren Frau und mit dem Elternwerden auf dem Hintergrund von Leben und Tod. Geburt und Tod erscheinen im Kontext der Zeit und Lebensspanne. Der zweite neue Teil des Buches hat ebenfalls den Charakter eines Familienportraits und thematisiert wiederholt die Verarbeitung des assistierten Suizids der Eltern durch die hinterbliebenen Kinder und deren Partner.

Transgenerationale Aspekte der Suizidverarbeitung

Angeregt durch umfangreiche psychologische Forschung zur Transgenerationalen Traumatransmission wurde auch die Weitergabe von Suizidalität an die nachfolgenden Generationen untersucht. Gehäufte Suizide in sog. Suizidfamilien und die Verarbeitung des Suizids durch die Hinterbliebenen sind hier im Focus des Interesses (Vgl. Csef 2024, Trauma und Resilienz). In der Familie von Thomas Mann haben sich beispielsweise sechs Familienmitglieder suizidiert. Besonders die Suizide der beiden Söhne Klaus und Michael Mann weisen viele Parallelen auf. In der Literatur werden ebenfalls eindrucksvolle Familien geschildert, in denen drei Generationen nacheinander Suizid begehen und diese in ihren Motiven eng aufeinander bezogen sind. Im Roman „Serpentinen“ von Bov Bjerg sind es Großvater, Vater und Enkel. Im Theaterstück „Anatomie eines Suizids“ von Alice Birch sind es Großmutter, Mutter und Enkelin (ausführliche Darstellung bei Csef 2022, 2023, 2024).

Die Romane „Schlemm“ und „Der größtmögliche Beweis von Liebe“ von Nicola Bardola zeigen ebenfalls die Auswirkungen des Doppel-Suizids der Eltern auf drei Generationen. Luca ist als Sohn betroffen und er beschreibt über zwei Jahrzehnte die Folgen des Eltern-Suizids auf die Kommunikation mit seiner schwangeren Frau und seiner Tochter. Ganz unabhängig davon, was im jeweiligen Land juristisch in der Sterbehilfe erlaubt ist und was nicht, bleibt doch immer die Herausforderung, dass die betroffenen Familien und Hinterbliebenen mit diesem Schicksal umgehen müssen – vor der „Deadline“ und auch danach. Die letzten zwei Wochen mit seinen suizidwilligen Eltern prägten den Protagonisten Luca ebenso wie die zwanzig Jahre Verarbeitung danach.

 Literatur

Bardola, Nicola (2005), Schlemm. Roman. A1-Verlag, München

Bardola, Nicola (2007), Der begleitete Freitod. Ein Plädoyer für die Selbstbestimmung über das eigene Leben. Südwest-Verlag, München

Bardola, Nicola (2024), Der größtmögliche Beweis für Liebe. Verlag Nagel und Kimche, Zürich, Hamburg

Bardola, Nicola (2024), Selbstbestimmt aus dem Leben scheiden. Interview mit Markus Bär. Main-Post vom 1. August 2024, Seite 2

Beglinger, Martin (2019), Wenn Eltern gemeinsam aus dem Leben scheiden. Neue Zürcher Zeitung vom 8. Februar 2019

Birch, Alice (2019), Anatomie eines Suizids. Rowohlt Theater Verlag, Reinbek

Bjerg, Bov (2020), Serpentinen. Roman. Claassen Verlag, Berlin

Csef, Herbert (1998), Suizid verhindern oder Beihilfe zum Suizid? Psychiatrische Aspekte der „Physician assisted suicide“. Nervenheilkunde 17, S. 135 – 142

Csef, Herbert (2016), Doppelsuizide von Paaren nach langer Ehe. Verzweiflungstaten oder Selbstbestimmung bei unheilbaren Krankheiten?  Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Jahrgang 2016, Ausgabe 1, S. 1 – 10

Csef, Herbert (2018), Die Einsamkeit der Sterbenden. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. Jahrgang 2018, Ausgabe 2: 1-10

Csef, Herbert (2019), Neuere Entwicklungen der Sterbehilfe in den Niederlanden, Belgien und in der Schweiz. Suizidprophylaxe, Jahrg. 46, Heft 1, S. 28 – 32

Csef, Herbert (2022), Suizid im 21. Jahrhundert. Neue Phänomene einer existentiellen Herausforderung. Roderer Verlag, Regensburg

Csef, Herbert (2022), Unerträglicher surrealer Countdown. Warum zwei Menschen gemeinsam aus dem Leben gehen wollen. Zeitzeichen, September 2022, S. 8 – 11

Csef, Herbert (2023), Gemeinsam sterben. Die berühmtesten Doppelsuizide. Roderer Verlag, Regensburg

Csef, Herbert (2024), Trauma und Resilienz in der Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag, Gießen

Schläfer, Eva (2022), Ihr Leben war ein Fest. Doch dann hatten sie genug. FAZ vom 13. Mai 2022

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef

Csef_h@ukw.de

Über Herbert Csef 146 Artikel
Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.