Gedichte gegen den Krieg – Der ukrainische Lyriker Serhij Zhadan

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Serhij Zhadan ist während des Ukraine-Krieges eine der wichtigsten literarischen Stimmen der Ukraine. Er gilt als einer der populärsten und beliebtesten Schriftsteller des Landes. Bereits im Alter von 30 Jahren war er engagierter Aktivist der Orangenen Revolution im Jahr 2004 in der Ukraine. Zehn Jahre später engagierte er sich für die Oppositionellen bei den Demonstrationen am Euromaidan in Kiew. Seit der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass engagierte er sich politisch gegen die russischen Besatzer. Zhadan lebte die ganze Zeit seines Lebens überwiegend in der Ostukraine, am längsten in der Stadt Charkiw an der russischen Ostgrenze, die nach Kiew die zweitgrößte Stadt der Ukraine ist. Die BBC kürte seinen Roman „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ als das beste ukrainische Buch des Jahrzehnts. In deutscher Übersetzung erschienen aus seiner Feder vierzehn Bücher, darunter fünf Romane und drei Gedichtbände. In der literarischen Welt wird er überwiegend als moderner Lyriker geschätzt. Bei der jungen ukrainischen Bevölkerung ist darüber hinaus als Rockmusiker bekannt und wird bei Festivals begeistert gefeiert. Durch dieses Gesamtmosaik wurde Serhij Zhadan zur Ikone der freiheitsliebenden ukrainischen Jugend.

Kurzes biographisches Porträt

Serhij Zhadan wurde am 23. August 1974 in Starobilsk (Oblast Luhansk) geboren. In der Kindheit zog er mit seinen Eltern nach Charkiw und studierte dort Literaturwissenschaft, Ukrainistik und Germanistik. In diesen Fächern promovierte der mit einer Arbeit über den ukrainischen Futurismus. Literarisch fühlt er sich auch dieser Literaturgattung verbunden. Seine großen literarischen Vorbilder sind allerdings Gogol und Paul Celan.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts besuchte er die deutschsprachigen Länder, Deutschland, Schweiz und Österreich. So ist es sicherlich kein Zufall, dass er schon im Jahr 2006 mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet wurde. In den folgenden Jahren veranstaltete er deutsch-ukrainische literarische Austauschprogramme an der Goethe-Universität Frankfurt, sprach auf der Leipziger Buchmesse und war regelmäßig beim Internationalen Literaturfestival Berlin beteiligt. Mittlerweile spricht Zhadan recht gut Deutsch, so dass Interessierte im Internet zahlreiche Interviews mit ihm in deutscher Sprache hören können.

Der neueste Gedichtband „Antenne“ (2020)

Auf dem Klappentext des Gedichtbandes stellt der Suhrkamp Verlag die folgenden Grundfragen:

„Was kann und soll die Literatur, wenn Krieg ist? Auf welche Sprache greifen die Dichter zurück? Taugen ihre Instrumente um dem Ausdruck zu verhelfen, was Angst macht?“

Der Rezensent Nico Bleutge stellt in seinem Beitrag „Klinge der Zeit“ eine ähnliche Frage: „Wie bekommt man den Krieg in die Sprache?“

Serhij Zhadan zeigt in seinem Gedichtband „Antenne“, dass dies möglich ist und wie es gehen könnte. Ihm gelingt es, eine Sprache zu finden, die die Unvermeidlichkeit des Todes ebenso ausdrücken kann wie den Schmerz der Liebe. Krieg und Liebe waren schon immer scheinbare Gegensätze, die  auch heute in der Ukraine gemeinsam auftreten.

Zhadan demonstriert dies mit den folgenden Versen:

 

Der Mann hält eine Tüte

aus der Apotheke in der Hand.

Die Frau hält einen Strauß Rosen.

Der Frau fällt der frische Gipsverband

an seiner rechten Hand auf.

Ihm fällt auf, dass ihr Strauß

sechs Rosen hat.“

Die Metapher „Antenne“, die dem Gedichtband den Buchtitel verleiht, taucht in dem folgenden Gedicht auf und verweist auf die Möglichkeiten der Verzeihung, die jetzt in der Zeit des wechselseitigen Hasses in weiter Ferne zu liegen scheint:

Wir haben ja nur Freuden in dieser Welt –

Den Gesang der betrogenen Operntenöre,

mit ihren verwundeten Herzen

wie fauligen Orangen.

Wir haben nur die Pflicht –

Das Wichtigste zu teilen:

Unsere Stimme,

Unsere Empfindsamkeit.

 

Mag der nächste Frühling kommen.
Mag uns der Optimismus peinlich sein.
Mögen die Stängel des Schilfrohrs
wie Antennen
das Wichtigste aus der Luft filtern –
Rhythmus und Vergebung,
mögen sie wachsen,
mögen sie
die symphonische Märzmusik
einfangen.

Für Zhadan ist die Hoffnung wichtiger als die Angst. Deshalb formuliert er einen lyrischen Imperativ – der Dichter solle von der Hoffnung sprechen, nicht von der Angst. Denn das tun schon jene, die nicht lesen. In seinen Worten lautet der Aufruf wie folgt:

„Kühner Dichter der Schleusen an den europäischen Flüssen,

Dichter eines Landes, das wehrlos stirbt, wenn es den Winter spürt,

sprich über die Hoffnung,

über Angst und Ausweglosigkeit sprechen jene, die nicht lesen.“

„Wir leben für die Ukraine weiter“ (2022)

Serhij Zhadan ist seit vielen Jahren Rocksänger und Songtext-Dichter der Band „Sobaky w kosmossi“ (deutsch: Hunde im Kosmos). Seine Songs handeln ebenfalls oft vom Krieg. Im aktuellen Vernichtungskrieg Putins gegen die Zivilbevölkerung sind leider schon allzu viele ukrainische Kinder von Bomben, Granaten oder Raketen zerfetzt worden. Gleichwohl sind die überlebenden Kinder die größte Hoffnung für die Zukunft des geschändeten Landes.

Der Song „Kinder“ wurde jetzt in Kriegszeiten von Zhadan verfasst und mit seiner Band aufgeführt. Die deutsche Übersetzung des Textes wurde in der FAZ am 27.3.2022 veröffentlicht:

Kinder

 

Jene, die fort waren, und jene, die kommen,
Derer wir uns entsinnen, die wir empfangen,
Die wir bedenken, die wir nicht vergessen,
Die das brüchige Gestern wie Narben tragen,
Alle, die besitzen, alle, die verlieren,
Alle, die einen Rat von dir wollten,
Dich um Verzeihung baten,
Alle sind wichtig! Alle sind wichtig!

***

Es bleibt von der Nacht der dunkle Himmel,
Der Krieg geht weiter, die Kinder wachsen!
Und du gibst ihnen Liebe, denn außer dir
Wird sie keiner hier lieben,
Die Sonne steigt höher und höher,
Die Medaille spiegelt die Strahlen der Sonne.
Und alles, was dich bis heute trägt,
Wird dich auch morgen noch tragen!

 

Jene, die schweigen, und jene, die reden,
Der Raum über uns spannt sich hoch und leidend,
Der Raum darf nicht bedrohlich bleiben,
Liebe ist das, was wir alle erfahren!
Denk an all jene, die dich gebeten,
Jene, von denen du Abschied genommen,
Die dich mit Kraft und Freude rüsten,
Die für dich wichtig und wertvoll bleiben!
Denk an all jene, die sich quälen,
Die Zeit setzt aus wie ein krankes Herz,
Mach, ehe du losgehst, einen letzten Zug,
Das alles musst du von nun an tragen!
Die Wut des Winters und die Flüsse im März,
Das alte Gebot, ein Mensch zu bleiben,
Wir werden all das nie vergessen,
Wir leben für die Ukraine weiter!

Es bleibt von der Nacht der dunkle Himmel,
Der Krieg geht weiter, die Kinder wachsen!
Und du gibst ihnen Liebe, denn außer dir
Wird sie keiner hier lieben!
In der Früh der Fehlschlag des warmen Herzens,
Des nächtlichen Himmels, ein Baum wird gehoben,
Wir haben unsere Luft bekommen,
Damit wir atmen, damit wir reden.

***

Es bleibt von der Nacht der dunkle Himmel,
Der Krieg geht weiter, die Kinder wachsen!
Und du gibst ihnen Liebe, denn außer dir
Wird sie keiner hier lieben,
Die Sonne steigt höher und höher,
Die Medaille spiegelt die Strahlen der Sonne.
Und alles, was dich bis heute trägt,
Wird dich auch morgen noch tragen!

 

Der Refrain deutet auf die Hoffnung der Zukunft hin: Die Kinder wachsen und werden geliebt – obwohl der Krieg weitergeht. Dass dieser Krieg das ukrainische Volk schon vor dem Einmarsch der russischen Truppen acht Jahre lang zermürbt hat, sollte dabei nicht vergessen werden. Das überragende Gemeinschaftsgefühl und der außergewöhnliche Kampfeswille des ukrainischen Volkes haben viele überrascht. Sie wissen wofür sie kämpfen – für Freiheit und Demokratie, für ihre Identität und ihr Selbstbestimmungsrecht als ukrainisches Volk und für die Zukunft ihrer Kinder:

 

Es bleibt von der Nacht der dunkle Himmel,

                                      Der Krieg geht weiter, die Kinder wachsen!

                                      Und du gibst ihnen Liebe, denn außer dir

                                      Wird sie keiner hier lieben.

 

“Welchen Sinn hat die Dichtung?“ (2015)

In seinem Roman „Mesopotamien“ aus dem Jahre 2015 geht Zhadan im Schlussteil vom Prosastil zu einer lyrischen Ausdrucksform über.  Dabei formuliert er in Gedichtform die Herausforderungen und Aufgaben des Dichters wie folgt:

 

„Welchen Sinn hat die Dichtung?

Schreiben über das, was alle längst wissen.

Reden über Sachen, die uns genommen wurden,

unsere Enttäuschungen zum Klingen bringen.

So reden, dass wir Wut und Liebe

Neid, Hass und Mitleid

Erregen. Reden

Unter dem Mond, der über uns

Steht und uns bedrängt

Mit seinem gelben Widerhall.“

 Literatur:

Serhij Zhadan, Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts. Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006

Serhij Zhadan, Die Erfindung des Jazz im Donbass. Roman. Suhrkamp, Berlin 2012

Serhij Zhadan, Mesopotamien. Roman. Suhrkamp, Berlin 2015

Serhij Zhadan, Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte aus dem Krieg. Suhrkamp, Berlin 2015

Serhij Zhadan, Antenne. Gedichte. Suhrkamp, Berlin 2020

Serhij Zhadan, „Wir leben für die Ukraine weiter.“ FAZ vom 27. März 2022

 

Korrespondenzadresse:

Professor Dr. med. Herbert Csef, An den Röthen 100, 97080 Würzburg

Csef_h@ukw.de

 

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Prof. Dr. Herbert Csef, geb. 1951, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Studium der Psychologie und Humanmedizin an der Universität Würzburg, 1987 Habilitation. Seit 1988 Professor für Psychosomatik an der Universität Würzburg und Leiter des Schwerpunktes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik II des Universitätsklinikums. Seit 2009 zusätzlich Leiter der Interdisziplinären Psychosomatischen Tagesklinik des Universitätsklinikums. Seit 2013 Vorstandsmitglied der Dr.-Gerhardt-Nissen-Stiftung und Vorsitzender im Kuratorium für den Forschungspreis „Psychotherapie in der Medizin“. Viele Texte zur Literatur.