Gedanken in der Pandemie: DIE IMPFFRAGE IST ZU EINEM KULTURKAMPF GEWORDEN

Wie dysfunktional Medien heute mit Intellektualität umgehen: Protokoll einer sehr deutschen Debatte, Akt I – Gedanken in der Pandemie, Folge 141.

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„Was heißt das übersetzt? Sind das dumme Menschen, die sich nicht impfen lassen?“ – Markus Lanz

„Manche kriegen wir gar nicht mehr. Bei manchen wirkt vielleicht die Bratwurst. Bei manchen wirkt das rationale Kalkül, manche kriegt man noch über Solidarität.“ – Alena Buyx, Medizinethikerin

Dienstag, der 2. November 2021 war der Tag, an dem in Deutschland erstmals einigermaßen vernünftig über das Boostern geredet wurde. Davor hat fast niemand davon gesprochen, schon gar nicht der damals noch amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn. Da trat in der außergewöhnlichen und unbedingt nachholenswerten Sendung „Markus Lanz“ die Vorsitzende des deutschen Ethikrats, die Medizinethikerin Alena Buyx, vors Publikum, und sagte „das niedrigschwellige Impfen ist eine wichtige Sache, aber man muss auch nach-boostern.“

Von diesem Tag an war auf einmal klar: zwei Impfungen reichen nicht – das schlichte 2G ist nicht genug.

Es gab es noch wichtigere Themen an diesem Abend. Denn eigentlich ging es angesichts der noch langsam, aber schon sicher und immer steiler steigenden „Vierten Welle“ um die Frage einer Impfpflicht. Und erstmals wurde eine Unterdebatte des allgemeinen Corona-Gesprächs, also der Neudefinition der modernen Gesellschaft im Angesicht einer globalen Pandemie, vor allem von Philosophen und mit philosophischen Argumenten geführt. Entlang der Parameter Freiheit-Einschränkung, Sicherheit-Gefahr, Gesundheit-Krankheit, Leben-Tod, Materialismus-Imagination ging es immer; diesmal aber ging es um die Freiheit selbst.

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Diese Impffrage, also genau genommen die Entscheidung zwischen (Impf-)Freiheit und (Impf-)Pflicht ist zu einem Kulturkampf geworden.

Die deutsche Debatte, die sich dabei in den Medien entzündete, ist ein Schul- und Paradebeispiel dafür, wie Philosophie und überhaupt Theorie in den Medien funktioniert, beziehungsweise, wie sie in den Medien eben nicht funktioniert. Wie dysfunktional heutige Medien mit allem umgehen, was in irgendeiner Form mit Intellektualität zu tun hat. Das Dysfunktionalste an dieser Geschichte ist natürlich bereits das Personal. 

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Auftritt: Svenja Flaßpöhler, Richard David Precht, Markus Lanz. In der Rolle der Hofnärrin Margarete Stokowski. In weiteren Rollen: Julia Encke („FAS“), 

Und Robert Pfaller, als er selbst, also als der einzige tatsächliche seriöse Philosoph mit einem Philosophielehrstuhl, und außerdem als Österreicher – das bedeutet dass er sowieso in Deutschland nicht richtig ernst genommen wird. Dass er andererseits auch Dinge sagen darf, die man Deutschen nie durchgehen ließe. So wie österreichische Filmemacher für Dinge gefeiert werden die man deutschen Filmemacher nie durchgehen ließe. Und wie österreichische Politiker … Aber lassen wir das, das ist eine andere Geschichte.

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Zum ganzen Komplex einmal der Reihe nach. Alles begann, nein: Nicht bei „Markus Lanz“ am 2. November, sondern damit, dass Svenja Flaßpöhler ein Buch geschrieben hat: „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021; 240 Seiten, 20,00 Euro). Das lohnt in jedem Fall die Lektüre, dreht sich um alles Mögliche, und wurde dann, wie das bei solchen Büchern so ist, von der PR-Maschinerie des Verlages allen möglichen Talkshows und Zeitungen und so weiter angeboten. Das Buch erschien zur Buchmesse im Oktober, es wurde von Denis Scheck in „Druckfrisch“ gelobt (“ein kluges Buch über die Dialektik unseres reizbaren Zeitgeistes und über Wege, seine Blockaden zu überwinden“)und es wurde in allen großen Zeitungen oft wohlwollend rezensiert. Dann kam der zweite Schritt: Markus Lanz am 2. November

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Flaßpöhler, keine der „Markus Lanz“-Dauergäste ist eingerahmt von drei regelmäßigen Besuchern von Lanz’ Stammtisch: Rechts von ihr der Moderator und Alena Buyx, links von ihr der „Komplexitätsforscher“ (sind wir das nicht irgendwie alle?) Dirk Brockmann (im „bürgerlichen Beruf“ ist er Physiker, der an der HU Berlin zu Mobilität und Massendaten forscht, einer der berüchtigten „Modellierer“ der Pandemie), und Robin Alexander von der Welt, der in den Jahren 2018, 2019 und 2020 der meisteingeladene Journalist in deutschen Talkshows war, und diesen Status bestimmt auch 2021 verteidigen kann. Erwartungsgemäß flankieren die übrigen Gäste Lanz’ Infragestellung von Flaßpöhlers freiheitsverteidigenden Positionen.

Es ist vor diesem Hintergrund natürlich erst recht auch absurd, dass diese Frau – eine kluge Frau und promovierte Philosophin und Leiterin des Philosophie-Magazins also auch in dieser Hinsicht verdienstvoll – dass diese Frau von Markus Lanz in seiner Anmoderation als „die bedeutendste Philosophen Deutschlands“ hingestellt wird. Das ist Flaßpöhler nun wirklich nicht. Sie ist noch nicht mal die bedeutendste lebende Philosophin Deutschlands. Sie ist allenfalls die einflussreichste lebende Philosophin Deutschlands, aber auch da müsste man mal hinschauen, wer noch alles Philosophie studiert hat und sich deswegen Philosophin nennen darf. Ich bin übrigens auch Philosoph.

Es ist die erste Debatte zum Thema, es geht sehr konkret um Argumente, die Pro/Contra Impfen sprechen. Um Impfpflicht geht es nur am Rande, allenfalls um eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen.  

Zu Beginn redet Flaßpöhler darüber, dass die Politik es nicht hinbekommen hat, „den Standard bezüglich Pflegepersonal in den Kliniken zu halten, geschweige denn, den Status sogar auszubauen.“ Ein falscher Start von ihrer Seite. Denn das mag alles sein. Es hat nur zu dem aktuellen Problem überhaupt nichts beizutragen. Genauso wie es zu dem Problem nichts beiträgt, festzustellen, dass der Virus mutiert hat und dass man damit nicht rechnen konnte. Dann sind eben die Voraussetzungen von gestern keine Voraussetzungen von morgen mehr. Dann muss man sich neu justieren. 

Man kann auch nicht, wenn man auf hoher See ist, auf die Wettervorhersage verweisen und sagen, dass es in der doch hieß, dass kein Sturm kommen werde. Sondern wenn der Sturm da ist, muss man dafür sorgen, dass das Boot nicht kentert. 

Auch die Argumente gegen sie sind nicht massiver begründet. Als Flaßpöhler darauf hinweist, dass der „Knochenjob“ der Pflege mit 4000 € brutto viel zu schlecht bezahlt werde, und bessere Bezahlung einfordert, erwidert ihr Robin Alexander, der weitaus mehr verdient bei der Welt: „Glauben Sie nicht, dass diese Leute in der Pandemie auch die Faxen dicke haben? Und nicht mehr die Arbeit machen wollen für Menschen die sich nicht impfen lassen?“

Ja, das ist ohne Zweifel so. Aber was folgt daraus? Ich glaube, dass auch syrische Ärzte nach über zehn Jahren Bürgerkrieg wahrscheinlich schon ziemlich lange „die Faxen dicke“ haben. Sie tun trotzdem ihre Pflicht – ich meine jetzt nicht die juristische Pflicht, sondern die moralische, ethische, politische, ästhetische (ja auch das!), menschliche. Hat Robin Alexander davon schon mal gehört?

Es ist auch schon deswegen Unsinn, weil es ja im ganzen Pflegebereich auch relativ viele Leute gibt, die sich nicht impfen lassen. Der rechts-konservative Journalist geht also tatsächlich davon aus, dass mit Geld Menschen nicht zu motivieren sind. Das ist interessant, denn mehrere Jahrhunderte lang war es ja die These vor allem konservativer Denker und Politiker, dass Geld der einzige wirkliche Motivator der Menschen ist, dass Menschen letztendlich alles, was sie tun, nur aus Eigennutz tun. Jetzt aber, wo man staatlicherseits etwas bezahlen müsste, ist Geld auf einmal kein Argument mehr.

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Alena Buyx differenzierte mit dem Hinweis, im Krankenhaus seien die Intensivkräfte nahezu alle geimpft. „Man hat eine fast hundertprozentige Impfquote.“ Die den Durchschnitt verderben, sind die Pflegekräfte im Altenheimen. Buyx: „Die Leute sind moralisch erschöpft. Etwa dass die Krebspatienten und die Herzpatienten nicht so gut behandelt werden, weil man zehn ungeimpfte Corona-Patienten auf der Station hat. Das müssen wir uns klar machen, das wird nicht besser werden sondern das wird schlechter werden.“ 

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Zur Begründung ihrer Impfdruck-These nahm Flaßpöhler dann einen neuen Anlauf: „In der Schule meiner Tochter, die ist 13, gibt es fast keine Luftfilter. Also das heißt: nach fast zwei Jahren Pandemie hat es Berlin nicht geschafft, dass diese Schule mitten im Prenzlauer Berg mit Luftfiltern ausgestattet wird. Stattdessen wird jetzt aber auch der Druck auf die Kinder, auch auf die 13-jährigen, sich impfen zu lassen, erhöht.“

Dann schwenkt sie auf die Impfpflicht in bestimmten Pflegebereichen: Es klingt erstmal verlockend, zu sagen, man verordnet das für bestimmte Bereiche. Aber man sieht ja auch in Frankreich, in Italien, dass die Leute auf die Barrikaden gehen. Die Leute kommen einfach nicht mehr zur Arbeit. Dann kann man fragen: was ist denn unterm Strich besser?“ 

Das Argument lautet also: Weil ein Gesetzesgehorsam nicht gewährleistet werden kann, soll man besser gar kein Gesetz machen. So ungefähr geht die sächsische Polizei (#Sucksen) seit zwei Jahren gegen die Querdenker vor.

Traurigerweise wurde dann alles schnell derart diffus und subjektivistisch. Robin Alexander, ebenfalls in Berlin wohnhaft, konterte mit seinen Kindern. Zwei davon sein geimpft, nur der jüngste nicht, und „dem hat das richtig zu schaffen gemacht.“ 

Warum sagt er nicht? Haben ihn die Eltern nicht mehr ohne Schnelltest ins Wohnzimmer gelassen?

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Sind die Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, alles dumme Leute? fragte Lanz rhetorisch. Oder muss man es so ausdrücken wie Flaßpöhler in der Sendung: „Es betrifft die Menschen auch unterschiedlich“? Flaßpöhler meint „Man braucht Spielräume in der Pandemie“ und verweist auf Körpergefühl, Umwelt, Mitmenschen. Das finde ich eine gefährliche Argumentation, weil es eine sehr klare Fragestellung (Sollte man nun eine Impfpflicht einführen, oder ist der Druck schon jetzt zu hoch?) ins Diffuse, Persönliche, Subjektivistische und Gefühlige verschiebt. Weil hier die kühle Analytikerin der neuen Sensibilität selbst plötzlich sensibilistisch argumentiert.

Denn es ist ja so: Alles betrifft alle immer irgendwie unterschiedlich und für alles gibt es bei allen immer gewisse Spielräume. Nur folgt daraus überhaupt nichts. 

Gesellschaften müssen mit bestimmten Regeln und Gesetzen, die möglichst klar argumentieren, geführt werden, ansonsten werden sie überhaupt nicht geführt. 

Vielleicht ist es in einer Theokratie, einer Gottesherrschaft noch ein bisschen anders. Aber in modernen Gesellschaften gibt es Gesetze, und es gibt Regeln, es gibt eine Ampel mit Rot und Grün, möglicherweise noch mit Gelb, wobei das Gelb ja schon – wie jeder Verkehrsteilnehmer genau weiß – Spielräume eröffnet, die im Einzelfall gefährlich sind: Kann ich bei Gelb gerade noch über die Ampel fahren? Oder sollte ich gerade schon eine Vollbremsung einlegen, weil es gleich rot wird? 

In beiden Fällen kann es zu Unfällen kommen, und in einem gewissen Sinn habe ich im konkreten Fall einfach Pech gehabt, je nachdem, wofür ich mich entschieden habe. Wenn wir aber in die Farbskala einer Ampel auch Dunkelrot und Orange und Rosa und außerdem noch Grüngelb und Türkis einführen würden, dann hätten wir sehr bald ein einziges Verkehrschaos und das Ganze würde ohne Ampel besser funktionieren, weil dann die Leute komplett auf Selbstverantwortung, also auf Vorsicht und Pragmatismus setzen.

Ob man Lust hat oder nicht, aber man muss in diesem Teil der Debatte Robin Alexander komplett recht geben. Weil er sehr nüchtern argumentiert, und auch Flaßpöhlers diffuse Behauptungen – „wir tun so, als ob wir alle gleich wären“ – einfach mal kühl zurück schiebt: „Das stimmt nicht. Niemand hat je gesagt dass Kinder besonders gefährdet sein.

Solidarität geht in beide Richtungen. Wir haben ein Jahr lang mit den drei Kindern zu Hause verbracht. Aber auch diese Kinder haben Rechte. Und das Impfangebot verändert doch dieses Kalkül. Wenn die Pandemie wieder weg läuft, dann sitzen die Kinder wieder zu Hause, und die sitzen auch zu Hause, weil die Impfquote niedrig ist.“

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Das Argument der Komplexität menschlicher Verhältnisse ist gerade kein zureichendes Argument um die Impfsituation in Deutschland zu erklären. Es ist ein vorgeschobenes Argument, eine Nebelkerze, um einige eindeutige konkrete, Dinge zu verschleiern.

Das zeigte Dirk Brockmann, besagter „Komplexitätsforscher“ in der Sendung. Er fragte, warum sich Menschen in Dänemark oder Portugal so viel mehr impfen lassen wollen als in Deutschland? Natürlich gebe es da in gewissem Sinn sehr sehr viele verschiedene Gründe dafür.

Für Brockmann ist die Pandemie „ein verhaltenspsychologisches Problem“. Er glaubt, dass in Deutschland vor allem zu kompliziert argumentiert werde: „Man impft sich oder man wird infiziert durch die Delta- oder Omikron-Variante. Da gibt es keinen dritten Weg. Da gibt es keine Nuancen.“

Man kann alles sehr kompliziert erklären. Man kann auch ein Auto sehr kompliziert erklären, oder einen Computer oder ein Mobiltelefon. Und so kann man das Virus auch erklären und so kann man den mRNA Impfstoff auch erklären.

“In manchen Ländern lässt man sich auch impfen, um Verwandte zu schützen, und ältere Menschen, weil dort klar vermittelt wird, dass man durch diese Impfung nicht nur sich selbst schützt, sondern auch andere. Das ist sehr verstrickt, aber man kann es auch in der Komplexität etwas reduzieren, anstatt zu diskutieren, ob das jetzt doof ist oder nicht, oder ob die Leute doof sind, die das nicht machen wollen. Sondern man kann klar vermitteln, was der Unterschied ist zwischen einer natürlichen Virusinfektion und einer Impfung.“

Auf Solidarität, da waren sich alle bereits am 2.November einig, solle man besser nicht hoffen: „Portugal und Dänemark arbeiten mit einem ’Wir alle gemeinsam füreinander’. Dies ist bei uns inzwischen sehr sehr schwierig. Wir müssen in diese Diskussion hinein, der dann geht es um eine unterschiedliche Risikowahrnehmung.“ sagt Alena Buyx, „Ich arbeite schon lange zur Solidarität. Und ich bin monatelang mit dem Narrativ Solidarität hausieren gegangen – aber man muss konstatieren: Bestimmte Gruppen lassen sich mit diesem Argument nicht erreichen.“

Es gibt einfach Leute, die Solidarität nicht interessiert. Es gibt einfach Leute, die unsolidarisch sind. „Wir müssen akzeptieren: Manche kriegen wir gar nicht mehr. Bei manchen wirkt vielleicht die Bratwurst. Bei manchen wirkt das rationale Kalkül, dass Herr Brockmann vorgeschlagen hat, manche kriegt man noch über Solidarität.“

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Ews geht im Kern um zwei Freiheitsbegriffe. Der eine, am besten vertreten durch Alena Buyx weiß, dass eine Pandemie keine Privatsache ist: „Wir können, wenn wir uns bestimmte gesellschaftliche Strukturen erhalten wollen und wenn wir möglichst viele Menschen vor Leid und Krankheit bewahren wollen, nicht einfach sagen: macht doch was ihr wollt!“

Der zweite Freiheitsbegriff, vertreten durch Svenja Flaßpöhler weiß, dass eine Pandemie keine ausschließliche gesellschaftliche Angelegenheit ist. „Es ist eben auch eine Privatsache. Es ist eben auch eine Frage, wie wir als Einzelne zu diesem Risiko der covid Erkrankung stehen.“ 

Beides müsse man vermitteln. „Man kann nicht einfach nur sagen: jetzt muss die Politik dann Druck erhöhen. Denn ich glaube dass dieser Druck eher Trotz auslöst bei den Leuten. Man fühlt sich bevormundet, man fühlt sich manipuliert in eine Richtung.“

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Steht die Impfpflicht auf der Seite der Freiheit? Einerseits ja, denn die Alternative zu ihr ist Lockdown. Aber eine liberale Gesellschaft muss ein Restrisiko tragen. 

Denn nicht nur die Humanität, auch das Virus ist per Definition sozial. Jede Übertragung hat etwas mit Gesellschaft, mit dem Miteinander und Zusammensein von zwei Menschen zu tun. 

Erscheinen auf Out-takes, dem Blog der Film- und Fernsehbranche

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