Artistik, Eigensinn und Verteidigung der Unterscheidungskunst: Zum 90. Geburtstag von Alexander Kluge. Feuilletonkolumnen als Objekt von Symbolpolitik – Gedanken in der Pandemie, Folge 146.
„Der Krieg ist ein Chamäleon.“ – Carl von Clausewitz
Zum Ukraine-Krieg möchte ich hier und jetzt nichts schreiben. Wen das interessiert, der kann unter meinem Namen die Texte bei „Telepolis“ googeln. Da auch ein sehr gutes Interview mit Ulrike Guerot zu Corona, zu dem ich in der nächsten Ausgabe noch was schreibe.
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Politisches Rätselraten gibt es nach wie vor über die beabsichtigte Einführung der allgemeinen Impfpflicht. Die Ampelkoalition scheint sich darüber weiterhin nicht einig zu sein: SPD und Grüne wollen sie, die FDP ist da eher gespalten. Abgeordnete in der FDP fürchten einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff. So auch der Bundesjustizminister Marco Buschmann: „In meinen Augen können nur gewichtige Rechtsgüter der Allgemeinheit wie die Abwehr einer Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems einen solchen Eingriff rechtfertigen. Ob das derzeit tatsächlich noch eine drohende Gefahr ist, daran kann man zweifeln.“ So Buschmann am 19. Februar im „Spiegel“.
Eine schräge Argumentation: Denn es war seit jeher die Überlegung, dass eine Impfpflicht vor allem eine präventive Maßnahme ist. Das heißt: Es kann nicht angehen, dass man in Zeiten einer akuten Überlastung und sonstigen Gefahr gegen eine Impfpflicht mit dem Argument eintritt, jetzt bringe das alles ja nichts mehr, dass man aber in den Zeiten in denen Prävention möglich ist, dagegen argumentiert mit der Begründung, jetzt sei die Gefahr ja nicht akut. Das ist übelste Sophistik.
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Bislang weiß man eigentlich nur, dass der Bundestag am 17. März darüber diskutieren wird. Was dabei herauskommt – eine Impfpflicht für alle, eine Impfpflicht ab 50, oder möglicherweise gar keine – das ist bislang vollkommen offen. Über zweihundert Abgeordnete unterstützen immerhin die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht.
Am Montag, dem 21. Februar, wenige Tage vor Ausbruch des Ukraine-Krieges, gab es dazu einen bemerkenswerten Auftritt des Gesundheitsministers Karl Lauterbach im ZDF-Morgenmagazin. Man kann ihn nach wie vor in der ZDF Mediathek nachschauen.
Dort erklärt er: „Wir bekämpfen ja mit der allgemeinen Impfpflicht nicht die Omikron-Welle, die sich allmählich zurückzieht, sondern es geht um den Herbst, um andere Varianten, die kommen können. Wissenschaftler gehen international davon aus, dass wir im Herbst neue Varianten erwarten müssen.“
Das Argument ist also, dass mit einer allgemeinen Nebenpflicht im Herbst keine Lockdown-Maßnahmen nötig sein werden.
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Überraschend war vor allem eine sehr kritische, unhöfliche Frage des Moderators, die den Minister erstaunlich dünnhäutig erwischt: „Herr Lauterbach, Sie waren auch schon davor als Abgeordneter immer ein Mahner und Warner und scheinen ja manchmal übers Ziel hinauszuschießen. Nur mal ein paar Beispiele: Sie haben von Gefahren und Erkrankungen bei Kindern gesprochen, die es in dem Ausmaß dann nicht gab; Sie sprachen von Mittvierzigern auf den Intensivstationen, die dort aber eher die Ausnahme blieben; Sie warnten vor einer Gefährlichkeit von Omikron, die ist dann aber auch so nicht gab. Warum immer wieder von Ihnen diese Ungenauigkeiten und Übertreibungen?“
Lauterbach verglich das ZDF mit Springer-Medien: „Das sind keine Übertreibungen, ich wehre mich auch gegen diese Darstellung. Das ist ja im Wesentlichen eine Darstellung, die der Berichterstattung der ,Bild’-Zeitung folgt – das muss man hier klar sagen. Ich habe zum Beispiel nicht, wie Sie es gerade beschrieben haben, flächendeckend vor einer Krankheit bei 40-Jährigen oder Erkrankungen bei Kindern gewarnt. Man muss vorsichtig sein.“
Moderator: „Sie haben zuletzt im ,Heute-Journal’ von 500 Toten gesprochen, wenn es Lockerungen gäbe wie in Israel. Wir haben in ihrem Ministerium nachgefragt, woher diese Zahl kam, das konnte uns dann niemand sagen.“
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Wie soll man diesen Mann beschreiben? Er zählt zu den großen Intellektuellen unseres Landes, er ist Schriftsteller, Filmemacher, Medienpolitiker und konkreter Denker – Mitte Februar wurde Alexander Kluge 90 Jahre alt. Und schon jetzt mischt er wieder in den zentralen Debatten unseres Landes mit.
1932 in Halberstadt geboren hatte Kluge neben Geschichte und Kirchenmusik auch in Frankfurt Jura studiert, Philosophie gehört, in Berlin und München als Rechtsanwalt gearbeitet, und wurde auf Empfehlung des Philosophen Theodor W. Adorno, der seine Begabungen erkannte, Volontär bei Fritz Lang, dem Regisseur berühmter Klassiker wie „Metropolis“, „M“ oder „The Big Heat“. 1958 drehte Lang gerade „Der Tiger von Eschnapur“. 1960 fing Kluge an, selber Regie zu führen und mischte sich auch gleich filmpolitisch ein: 1962 initiierte er mit anderen Filmemachern das „Oberhausener Manifest“, jene Protestschrift gegen harmloses Unterhaltungs- und Heimatfilmkino, die zur Gründungsurkunde des „Jungen Deutschen Films“ wurde. Seitdem war Kluge mit seiner Produktionsfirma Kairos Film der wichtigste Vordenker des Autorenkinos. Und selbst ein preisgekrönter Regisseur: „Abschied von gestern“ (1966) erzählt davon, wie eine Frau nach ihrer Flucht aus der DDR darum kämpft, sich in der Bundesrepublik eine neue Heimat zu schaffen. Als erster Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kluge für den Film in Venedig mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet. Für „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ erhielt er 1968 am gleichen Ort sogar den „Goldenen Löwen“.
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Es folgten über 30 weitere Filme, darunter auch Gemeinschaftsarbeiten wie 1978 den herausragenden „Deutschland im Herbst“, der im Schatten des RAF-Terrors und seiner Bekämpfung stand. 1988 stieg Kluge beim Fernsehen ein. Er wolle „das Fernsehen offen halten für die Welt außerhalb des Fernsehens“hat er dazu einmal formuliert, „Produkte kann man nur mit anderen Produkten bekämpfen.“
Über 30 Jahre versorgte er mit der Produktionsfirma DCTP private Fernsehsender wie Sat.1, Vox oder RTL. Das Magazin „Spiegel TV“ stammt ebenso aus seinem Haus, wie diverse Beiträge zu Kultur- und Wissenschaftsthemen. 1500 Stunden Sendezeit hat er im Laufe der Jahre gefüllt, und so kommt es, dass vermutlich viele Zuschauer Kluge von der Mattscheibe kennen, ohne zu wissen, wer er eigentlich ist. Berühmt wurden die Gespräche mit Heiner Müller oder Christoph Schlingensief. Legendär sind die Auftritte von Helge Schneider und Peter Berling.
Kluge schreibt auch. Und zwar sowohl Erzählungen wie analytische oder historische Sachbücher. 1964 debütierte er mit „Lebensläufe“, bekannt wurde die Zusammenarbeit mit dem Soziologen Oskar Negt (unter anderem: „Geschichte und Eigensinn“). Für diese Bücher gewann Kluge den „Kleist-Preis“ und den „Georg-Büchner-Preis“.
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Hat Kluge vielleicht sogar das Smartphone vorausgeahnt? Jedenfalls schrieb er bereits vor rund 40 Jahren, 1985 in seinem nach wie vor sehr lesenswerten Text über „Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit“, wie die damals erst zart aufkommenden neuen Medien und die radikale Veränderung der Öffentlichkeit, die mit ihnen einhergeht, von der „gesamten öffentlichen Meinung in grober Weise“ unterschätzt wurde: „Jetzt geht es darum, sozusagen ein Klein- und Mittelhirn, weitgehend automatisiert, nachzuentwickeln“. Es ist, als ob Kluge das Smartphone und die Algorithmen und die Verschmelzung von Körper und Maschine, die wir jetzt gerade gegenwärtig in vielen kleinen Details unseres Alltagslebens erleben, vorausgeahnt hätte. Kluge schrieb damals, dass die Öffentlichkeit als Ganzes immer mehr in Teilöffentlichkeiten zerfalle: „Jede Minderheit baut sich ihr separates Lager.“ Diese Heerlager sind genau das, was wir heute Filterblasen nennen.
Wie kann man dies zusammenfassen? Kluge, dessen Werk von großer Disziplin zeugt, wie von Arbeitslust, ist bis ins hohe Alter enorm neugierig, voller Gier aufs Neue. Dabei huldigt Kluge leidenschaftlich den Gefühlen. Er bewegt sich mit großen offenen Augen in der Welt. Seine Interessen reichen von Geschichte über den aktuellen Zustand Rußlands bis Hin zum B-Kino der Philippinen. Dort hat er in den letzten Jahren mit dem Regisseur Kavn de la Cruz zusammengearbeitet und die inspirierende Zusammenarbeit dieses Mannes mit der Berliner Volksbühne Schauspielerin Lilith Stangenberg initiiert.
Eine Ein-Mann-Denkfabrik und ein Kraftwerk der Anregung.
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„Wir waren uns sicher, dass Zirkus etwas mit Offenheit und Freiheit für uns zu tun hätte.“ Die zwei neuesten Bücher Alexander Kluges führen hinein ins Zentrum seines Denkens. Sie sind beide persönlich, biographisch, doch gelingt es Kluge auch hier, seine Gegenstände als Gegenüber auf Augenhöhe zu behandeln. Er macht sie sich nicht Untertan, sondern umgreift sie, entfaltet sie.
Persönlich ist dies, weil Kluge in dem einen Buch („Zirkus“) sich in seine eigenen Kindheit zurückversetzt, als schon das Kindergartenkind mit den Eltern in den Zirkus ging, Frühlingszirkus, Herbstzirkus: „Unser Land hatte in den Jahren nach 1918 ein gewisses zivilisatorisches Niveau erreicht. Schon begann man, uns Kinder zu verwöhnen. Aber das Unmögliche war dem Zirkus vorbehalten …“ In der Manege gab es Unterwasserbassins für Robben, dann Raubtiere ohne Gitter, das sie von den Zuschauern trennte – „ein Triumph des Willens“. Später folgt die Entdeckung des Kinos: „Wir beide, meine Schwester und ich, hielten Film und Zirkus für nahe Verwandte.“
Persönlich ist ebenso die Erfahrung des alten, immer noch sehr aktiven Mannes: Kluge denkt über den Corona-Virus nach, aber auf seine ganz eigene Weise, sanft unterscheidend, das Zeitlose und Beiläufige auf Aktualität hin zuspitzend: „Die (vorübergehende) Unzähmbarkeit des Virus wirft uns Menschen auf uns selbst zurück. Wir zählen unsere Waffen. Wir verändern unsere Gewohnheiten. Wir sind lernfähig. Unsere Bundeswehr ordnet Soldaten ab zum Schutz von Altersheimen. Gegen den Gegner können sie mit ihrer Ausbildung und ihrer Bewaffnung wenig ausrichten. Sie stellen sich geschickt an, gelegentlich auch unbeholfen. Wie ‚ungelernte Hilfskräfte‘. Dem Gegner sind sie mit ihrer Schießkunst unterlegen.“
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Bis in die 1950er-Jahre reicht Kluges Verbindung zum Philosophen Jürgen Habermas. Einige ihrer gemeinsamen Dialoge führt er in seinem Buch fort. Viren kommen übrigens in beiden Büchern vor. Das Virus ist nämlich, folgt man Kluge in seinem ersten „Zirkus“-Kapitel, auch ein Artist: ein Verwandlungskünstler.
Kluge erzählt in einer Mischung aus wilden Sprüngen und Chronologie in diesen beiden, zwillingshaft verwandten Büchern, auch von seinem Leben. Beide Bücher sind damit, neben allem anderen, auch kurzweilig erzählte, wunderschön und reichhaltig bebilderte Memoiren. Sie zeichnen ein Leben vom Krieg über die Revolte zur Liebe.
Alexander Kluge: „Das Buch der Kommentare. Unruhiger Garten der Seele“ – Suhrkamp, Berlin 2022; 400 Seiten, 32 Euro.
Alexander Kluge: „Zirkus/Kommentar“ – Suhrkamp, Berlin. 176 Seiten, 28 Euro.
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Der Wandel der Zeitung schreitet voran. Das die gedruckte Tageszeitung gehört der Vergangenheit an eine tägliche Ausgabe wird es irgendwann überall nur mehr online geben. Das gedruckte Produkt wird dann bestenfalls einmal pro Woche erscheinen als hochqualitatives Heft, das sich von der täglichen Informationsversorgung abhebt, das eher einordnet, essayistisch ist, verspielter. Die Berliner Zeitung macht das bereits vor mit ihrer Aufspaltung in „Berliner Zeitung“ unter der Woche, die eine klassische Redaktion mit klassischer Tageszeitung ist, und dann die neue Struktur, die „Berliner Zeitung am Wochenende“, die jünger, diverser und internationaler ist, deren Texte massiv online ausgespielt werden, mit großem Wachstum.
Die Zielgruppe der Wochenendausgabe ist zwischen 30 und 60 und liest unter der Woche keine Zeitung. Sie hat aber am Wochenende Zeit für längere Texte, für Gesellschaft, Kultur, Politik, aber auch für die sogenannten „Lifestyle“-Themen und Food.
Food ist das neue Feuilleton. Der Leiter der Wochenendausgabe der „Berliner Zeitung sagt“: „Wir wollen ein Labor für Zukunftsthemen sein, unangepasst, fortschrittlich. Diesen Innovationsgeist setzen wir radikal um.“
Darum also Food.
Erschienen auf out-takes, der Blog der Film- und Fernsehbranche.