Geboren im Zuchthaus Hoheneck – Ulrich Schacht starb am 16. September in Schweden

Sonnenuntergang am Mittelmeer, Foto: Stefan Groß

Er war einer von uns, einer von den einstigen DDR-Häftlingen, die den Untergang des SED-Staates überlebt und aufgeschrieben hatten, was ihnen zugestoßen war!

Ich bin Ulrich Schacht im Herbst 1979 in Schnakenburg an der Elbe auf einer Tagung über DDR-Literatur begegnet. Er war hochgewachsen, freundlich und voller Lebenslust, und er schrieb herrliche Gedichte, nicht auf der Höhe Georg Trakls oder Paul Celans, aber eine Stufe darunter. Seine leidvolle DDR-Vergangenheit war ihm nicht anzusehen, aber wenn man sein Schicksal kannte, staunte man, dass er nicht daran zerbrochen war.

Sein Vater war ein sowjetrussischer Offizier, in Mecklenburg stationiert, der 1950 mit seiner Mutter Wendelgard nach Westdeutschland fliehen wollte, weil die Besatzungsmacht die Eheschließung verboten hatte. Der Fluchtplan wurde verraten, der Vater wurde nach Sibirien verbannt, die Mutter bekam zehn Jahre Freiheitsentzug (wofür?), die sie im Zuchthaus Hoheneck in Stollberg/Erzgebirge verbüßen sollte. Dort wurde Ulrich am 9. März 1951 geboren. Wochen nach der Geburt, es war ein grausamer Vorgang, wurde den Frauen in Hoheneck, die Mütter geworden waren, die Kinder weggenommen. Ulrich wurde dann in ein Kinderheim der „Volkspolizei“ in Chemnitz verbracht, später durfte ihn seine Wismarer Großmutter zu sich nehmen. In seinem Buch „Vereister Sommer“ (2011) hat er das Schicksal seiner Eltern beschrieben und wie er seinen Vater in Moskau gefunden hat. Ein Vierteljahrhundert zuvor schon hat er das Zuchthaus Hoheneck, den Ort seiner Geburt, noch zu DDR-Zeiten in die Erinnerung zurückgerufen mit dem Buch „Hohenecker Protokolle“ (1984), worin er elf Frauen, darunter seine Mutter und seine erste Ehefrau Carola, nach ihren Schicksalen befragte.

Nach Bäckerlehre und Sonderreifeprüfung studierte Ulrich Schacht Theologie in Rostock und Erfurt, dann wurde er, mitten im Studium 1973, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet und zu sieben Jahren verurteilt und ins berüchtigte Zuchthaus Brandenburg verbracht, von wo er 1976 freigekauft wurde. Anschließend studierte er in Hamburg Politische Wissenschaften und Philosophie, ohne freilich das Studium abzuschließen, da er in Bonn Redakteur der „Welt“ und später in Hamburg Redakteur der „Welt am Sonntag“ wurde, 1997 zog er, Deutschlands überdrüssig, nach Schweden, wo ich ihn 2008 besuchte.

Ich kann mich noch erinnern, wie er 1984 ans Rednerpult des Schriftstellerkongresses in Saarbrücken trat, wo DDR-Sympathisant Bernt Engelmann Regie führte, und seinen außergewöhnlichen Lebenslauf vortrug, den niemand zur Kenntnis nehmen wollte, nur Heinrich Böll kam zu ihm und sprach ihm Mut zu. Ein Jahr später, 1985, besuchte er die dänische Insel Mön und entdeckte auf dem Friedhof Gräber unbekannter DDR-Flüchtlinge, deren Leichen an der Küste angeschwemmt worden waren. Später erzählte er mir einmal, wie er in Hamburg an einer Lesung Christa Wolfs teilgenommen hätte, noch vor dem Mauerfall 1989. Die Stimmung wäre politisch aufgeheizt gewesen, es wäre nicht ratsam gewesen, in der Diskussion die DDR zu kritisieren. Danach aber begleitete er Christa Wolf ins Hotel und erzählte ihr seine Geschichte. Sie hätte aufmerksam zugehört, berichtete er, und sei entsetzt gewesen darüber, was sie da zu hören bekommen hätte.

Am Abend des 9. November 1989, als ich noch ahnungslos war, was in Berlin ablief, rief er mich in Bonn an und schrie ins Telefon: „Die Mauer ist weg!“

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.