„Sogar den Schmutz unter den Nägeln sieht man noch!“ Mit derartigen Hinweisen spart Ulrich Pohlmann beim Rundgang durch die von ihm und seiner Hamburger Kollegin Kathrin Baumstark vom „Bucerius Kunst Forum“ kuratierte Super-Schau des Münchner Stadtmuseums nicht. Er lässt seine (Corona wegen) bewusst klein gehaltene Gruppe den Blick auf Barthel Gilles` „Selbstbildnis mit Gasmaske“ (1929/1930) richten und den Begriff „hyperreal“ fallen. Mehr Realität geht nicht. Jedes Gesichtsfältchen, jedes Kopf- und Schnurrhaar, jedes Härchen auf dem Handrücken des mit Gasmaske bewehrten Künstlers – die Schrecken des Ersten Weltkriegs sind noch nach gut einem Jahrzehnt nicht aus seinen Augen gewichen – sind überdeutlich wahrnehmbar. „Der Künstler als Augur“, interpretiert Pohlmann und fragt: „Sehen Sie die Türme der Kathedrale von Köln aus dem tiefen Dunkel des Hintergrunds ragen?“
Nicht von ungefähr wählte das Stadtmuseum dieses und kein anderes seiner in der Ausstellung „Welt im Um-Bruch“ gezeigten Porträts als Plakatmotiv. Dem Blick des Barthel Gilles kann sich keiner entziehen. Auch nicht dem seines Zeitgenossen Curt Querner, der ebenfalls ein „Selfie“ malte, und zwar „im Seitenlicht“. 1933. Eine Jahreszahl, die die Zwanzigerjahre schon hinter sich gebracht und auf die nächsten Ängste und Schrecken von Hitlerregime und Zweitem Weltkrieg zugehen. Auch Querners Kopf ist so akkurat wie ein Foto. Malerei und Fotografie – um beide Kunstformen im Dialog geht es in dieser Ausstellung grundsätzlich, die die bekannten Namen Otto Dix und August Sander in den Untertitel nahm, aber keineswegs als chronologische Eckpfeiler verstehen will.
40 Gemälde und Zeichnungen und rund 200 Photographien – etwa ein Zehntel davon aus eigenen Beständen, gut 30 Exponate aus privaten und öffentlichen Sammlungen – sind in sieben „Kapitel“ gegliedert: Stillleben / Die Dinge. Maschinenkunst und Technikkult. Akt und Selbstbildnisse. Individualporträt und Typenbildnis. Architektur / Stadtansicht. Politische Collagen. Zur „kritischen Verdichtung in der Weimarer Republik“, formuliert Ulrich Pohlmann, werden im letzten Kapitel Arbeiten von Karl Hubbuch, Georg Scholz und John Heartfield präsentiert. Diese Namen mögen vielen Besuchern hier zum ersten Mal begegnen. So wie das Ausstellungs-Konzept selbst quasi Erstlings-Charakter hat, insofern bislang kaum so intensiv der „künstlerische Dialog zwischen Malerei und Fotografie“ ermöglicht wird.
Und dies mit Kunstwerken, die alle das „Neue Sehen“ der Kreativen (also Malerinnen und Maler einerseits und Fotografinnen und Fotografen andererseits) spiegeln wie sie ein völlig „neues Sehen“ beim Betrachter herausfordern. Er wird aufgerufen, seine „Linsen“ so scharf es nur geht einzustellen. Dabei sollte er sich – den unterschiedlich akzentuierten „Kapiteln“ gemäß – für die ausführliche Zuwendung das heraussuchen, das ihm am besten zusagt. Er wird, etwa in Georg Scholz` Bild „Deutsche Kleinstadt bei Tage“ (1923), ebenso Banales entdecken wie er, etwa in Walter Schulz-Matans „Bildnis des Dichters Oskar Maria Graf“ (1927), einem guten Bekannten begegnet. Er wird über die kühnen Draufsichten auf „Gläser“ der Hannah Höch (1927) entzückt sein wie er sich über so viel Detailtreue wundern dürfte, die Otto Schöns „Atelierstillleben“ (1926) bietet. Die „Neue Sachlichkeit“ hat den Expressionismus hinter sich gelassen. Auf geht`s zur Entdeckung der Realität! Zeit dafür ist genug: bis 10. Januar, Di – So von 10 bis 18 Uhr. Katalog 39,90 Euro im Shop.