Also nun doch „Führer“? Und nicht, wie zuvor im Interview vom Regisseur versprochen: „Schützer“ von Brabant. Wagner sollte am Ende doch Wagner bleiben. Zumindest in diesem Punkt. Dann aber: Wovon Wagners Text so oft wie nur möglich spricht, von einem Schwan, wird nicht sichtbar. Von dort, aus „Glanz und Wonne“ komme er doch her, der Held, nach dem Richard Wagner seine Oper „Lohengrin“ von 1850 benannte, an die Schelde an einem Kettlein gezogen von einem Schwan, um die des Brudermordes geziehene Elsa zu erlösen. In München gibt es weder eine Schelde noch den obligaten Schwan. Der bedroht, auf einem Print David LaChapelles den Leichnam eines nackten Jünglings, betrauert von Diana Damrau, im Balkon-Bereich der Bayerischen Staatsoper. Nicht weit entfernt ergänzt ein Schwanen-Junges das Öl-Porträt des Tenors Klaus Florian Vogt, der 2009, alternierend mit Jonas Kaufmann, den Lohengrin in, ach, der Münchner „Häusle-baue“-Inszenierung gab.
Bei dem jetzt, 13 Jahre später, hier Regie führenden Ungarn Kornél Mundruczó erscheint der schon legendäre Klaus Florian Vogt wieder, immer noch strahlend und glasklar, ein Quäntchen androgyner in der ihm geradezu auf den Leib geschriebenen Rolle des – nun ja – Schwanen-Ritters ohne jegliches Attribut seiner himmlischen Herkunft. Kein Gottgesandter, sondern ein „Inhumaner“ einer aus der Menge, so gekleidet wie sie, in bequemes Trainings-Outfit. „Keine silberglänzende Ritterrüstung“, so Mundruczó, „aber auch keine abstrakte Reduktion; keine romantische Märchenerzählung, aber auch keine platte Politisierung“. Und alles ohne hierarchische Rangordnung.
Aus einer munter-agilen, in Einheitsgesten reagierenden Menge in illustrer, tagheller, durchschaubarer, schwanen(?)weißer Umgebung tritt der von Elsa herbeigesehnte Ritter-Retter. Ein Wunder? Ein hehres Wunder? Wie denn nun? Wenn er doch einer von ihnen ist. Mundruczó löst selten bis gar nicht ein, was er bei Wagner textlich findet. Oft verlässt er des Dichter-Composers Worte und geht einen eigenen Weg, den er „hochpolitisch“ einordnet, auf der Folie einer „historisch-romantischen Liebesgeschichte“. Da darf das Paar, auch wenn der Bräutigam singt „Wir sind allein, zum ersten Mal allein“, eben nicht allein sein, sondern wird bewacht, beäugt, begleitet von der Gemeinschaft. Ein rettender Erlöser erscheint dem Regisseur heikel. Alles Intime ebenso. Einen Hochzeitszug zum Münster schenkt er sich und uns. Er lässt dafür Beelzebub aus einer Nische, ziemlich weit unterm Himmel, auf die seltsame Zelebration äugen, die dennoch zu den eindrucksvollsten Szenen dieser Deutung zählt.
Elsa, das kurzhaarige schwarze Schaf, entfaltet einen in reinstem Gold blitzenden Ganzkörper-Nimbus, allerdings nur für etwas mehr als einen Augenblick. Denn sie stellt ja doch die Frage nach „Nam` und Art“, daran ist, auch von Mundruczó, nicht zu rütteln. Der am Ende sich auf die Szene herabsenkende pechschwarze Meteorit steht für augenblickliche wie künftige, unausbleiblich Bedrohung.
Dieser unglaublichen kleinen zarten Elsa gehört unser ganzes Mitgefühl: der jungen Südamerikanerin Johanni van Oostrum: zerbrechlich, burschikos, rührig, auch listig und ein wenig verschlagen darf sie sein, allen heldischen Elsas der „Lohengrin“-Aufführgsgeschichte zum Trotz. Das Übers-Orchester-Hinwegkommen ist ihr bei Anstrengung möglich, dafür gelingen ihr die lyrischen Passagen samten-leicht und – in der Begegnung mit ihrem Retter ebenso wie mit ihrem bissig-verhärteten Widerpart Ortrud (beherzt und behexend: Anja Kampe) – anrührend, beseelt. Der Bayerischen Staatsoper glückte insgesamt eine großartige Besetzung – mit Mika Kares als geradezu leutseligem, aber autoritär-markantem König Heinrich, seinem noblen Helfer, dem Heerrufer alias Andrè Schuen und dem nicht erschlagenen, sondern zur Strecke gebrachten Thron-Prätendenten Telramund (Johan Reuter).
Unschlagbar, unverzichtbar, und wohl selten derart kompakt und wohlklingend: die machtvollen Chöre dieser Neuproduktion, kompetent geleitet von dem aus Frankfurt ausgeliehenen jungen Tilman Michael. In Monika Pormales (Bühne), Anna Axer Fijalkowskas (Kostüme) und Felice Ross` (Licht) Ausstattung agiert die „Masse“ kontrolliert saftig und behände. Sie lässt sich ganz auf das nicht immer aufgehende, aber doch bewegende Konzept Kornél Mundruczós ein.
Man schätze sich glücklich, mit dem aus Köln herbeigerufenen Münchner Pult-Debütanten Francois-Xavier Roth einen neuen Stern am Staatsopern-Dirigentenpodium ausgemacht zu haben! Roths fulminantes Dirigat bestach durch Präzision, merkliche Bellini-Belcanto-Nähe, höchst sängerfreundliches Geleiten als Diener einer verzaubernden Wagner-Musik voller Wucht und Wehe, Weihe und Verwegenheiten. Schon im Vorspiel wurde klar und kund: Das wird ein musikalisches Klangereignis, verstärkt von theatralischen Effekten räumlich versetzter Trompeten, durchgetragen von einem souverän anders auf einen „neuen Wagner“ gestimmten Bayerischen Staatsorchester. Dem Shanghai Grand Theatre, mit dem die Bayerische Staatsoper unter Dorniers Intendanz im Fall „Neu-Lohengrin“ kooperiert, steht Exzeptionelles bevor.