„Sie ist eine Weltenerfinderin, eine Weltenschöpferin, eine Eigenweltenbewohnerin, auch – darin liegen ihr Glück und ihre Tragik zugleich – eine Eigenweltinhaftierte. Für jeden Anderen mögen diese Worte zu groß sein, für Else Lasker-Schüler sind sie gerade groß genug.“ Kerstin Decker, die bereits mit Paula Modersohn-Becker und Heinrich Heine erstklassige Künstler-Biografien vorgelegt hat, ist erneut ein großer Wurf gelungen. Dieses Mal begibt sie sich auf die Spuren dieser immer noch relativ unbekannten Dichterin, die Gottfried Benn einst für die größte Lyrikerin Deutschlands hielt.
Kerstin Decker folgt den biografischen Spuren Else Lasker-Schülers. Dabei nähert sie sich äußerst behutsam und einfühlsam der sensiblen Künstlerin an, so dass deren „verbaler Hochseiltanz, immer in der Schwebe zwischen übermütigem Spiel und Ernst“ dem Leser auf eindrucksvolle Art und Weise vermittelt wird. Entstanden ist eine Biografie, die sich durch Tiefe und Substanz auszeichnet sowie durchEntschleunigung den kompromisslosen Lebensentwurf der expressionistischen Lyrikerin wunderbar nachverfolgen, ja, ihn nahezu selbst erleben lässt.
„Wir sind nur auf dem Wege, das Leben ist nur ein Weg, hat keine Ankunft, denn es kommt nirgendwo her.“, schrieb Else Lasker-Schüler. Ihr Weg begann am 11. Februar 1869 und endete am 22. Januar 1945 in Jerusalem. Dazwischen liegt ein unorthodoxes Leben in Berlin und später in Israel. Prägend war ihre Kindheit im industriell aufstrebenden Elberfeld (heute Wuppertal), wo die kleine Else in einer mehr oder weniger starken Außenseiterrolle aufwächst, nachdem sie durch eine Krankheit zu Hause unterrichtet wird. In dieser Isolation und durch den frühen Tod ihres Bruders und ihrer Mutter entwickelt das Kind und später die junge Frau ihr Lebensmodell, das ganz stark in den eigenen Emotionen verankert ist. Die Kunst ist ihr dabei „Mittel zur Befreiung aus dem umgitterten Sein der Alltäglichkeit.“ Doch sie „glaubt nicht an die Realität der Kunst, sie glaubt an die Wahrheit der Illusion und handhabt das Material der Sprache, von den Instinkten eines rein torenhaften Spieltriebs geschwellt, wie eine heilige Sache, [eine] ebenmäßig geschliffene Kugel inneren Erlebnisses, getragen vom Blut der Herzhingabe.“, schreibt der Schriftsteller Paul Zech (1881-1946).
Genau diese seelischen Wahrheiten der Dichterin hat Kerstin Decker ernst genommen. Wunderbar arbeitet sie das „Denkfühlen“ Else Lasker-Schülers heraus und nimmt sich deren unmetaphysischen, geradezu gottlosen Sinn sehr emphatisch an. Vor allem in ihrer extremen „Heimatfühligkeit“ sucht die Autorin den Grundimpuls für den gesamten weiteren Lebensweg dieser weisen Frau, die jedoch nie gebildet erscheinen will. Vielleicht „weil die gebildeten Weisen so selten sind, die verbildeten Gebildeten aber so häufig. / Dass die Dichter mit den Sehern, mit den Propheten verwandt sind, weiß jeder. (…) Anders wird das Dichterleben, die Lebensdichtung dieser Frau nicht verständlich.“
Eingewobenen Gedichte, Briefe und Zeitzeugenberichte sind ein wertvoller und ergänzender Teil einer durch und durch feinfühligen, wenn auch nicht immer leicht zu lesenden, herausfordernden, aber unglaublich bereichernden Biografie auf höchstem Niveau.
Fazit:
Kerstin Decker ist eine großartige Biografie einer verletzbaren und sensiblen, einer mutigen und exzentrischen Frau, Mutter, Liebenden und Dichterin gelungen. Vor allem deren „Präzision im Bereich des Nichtsagbaren – des für die meisten Menschen Nichtsagbaren“ arbeitet die Autorin auf einzigartige Art und Weise, beinahe im Else Lasker-Schüler‘schem Sinn heraus. Ein Buch in „Dicht- als Lebensform“, das die seelische Wahrheit einer Dichterin ernst nimmt und sie in ihrer Eigenwilligkeit stehen lässt.
Kerstin Decker
Mein Herz – Niemandem.
Das Leben der Else Lasker-Schüler
Propyläen Verlag, Berlin (Oktober 2009)
480 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3549073550
ISBN-13: 978-3549073551
Preis: 22,90 EURO
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