Im Frühjahr 2010 wurde die niederländische Schriftstellerin, klassisch ausgebildete Pianistin und Psychoanalytikerin Anna Enquist gefragt, ob sie an einem Projekt des Klinikums der Freien Universität Amsterdam mitarbeiten würde, das sich „Literatur und Heilkunde: Schriftsteller auf der Abteilung“ nennt. Eine Zeitlang dürfe sie die Arbeit einer Abteilung ihrer Wahl begleiten, um hernach ein Buch darüber zu schreiben. Enquist entschied sich spontan für die Anästhesiologie. Gerade der Gegensatz zu ihrem eigenen Fachgebiet, wo es für den Patienten in den meisten Fällen heilsam ist, zu fühlen, was in ihm vorgeht, den Widerstand gegen das verborgene Gefühl zu bearbeiten und zu versuchen, ihn dadurch aufzuheben und dem der Anästhesiologie, wo der Patient vor dem Fühlen geschützt wird, fasziniert die Autorin bereits seit Jahren. Entstanden ist ein Roman, der beide Fachrichtungen beleuchtet, deren ganz spezifische „Symptome“ herausarbeitet und zueinander ins Verhältnis setzt.
Bereits auf den ersten Seiten des Buches erfährt der Leser, dass einer der Hauptprotagonisten – der Psychoanalytiker Drik de Jong – seine Frau Hanna verloren hat. In deren letzter Lebensphase wurde sie vor allem von Driks Schwester Suzan, die in einem großen Krankenhaus als Anästhesistin arbeitet, versorgt. Nach Hannas Tod geht ihre Fürsorge nahtlos auf ihren Bruder über, der ein wenig den Halt unter den Füßen verloren hat, nun aber dabei ist, sein Leben wieder neu zu ordnen und nach einiger Zeit der Abwesenheit, wieder neu ins Berufsleben einzusteigen. Sein erster Patient, der ihm von Suzans Ehemann Peter, ebenfalls Psychotherapeut und gleichzeitig bester Freund, vermittelt wird, ist Allard Schuurman. Schuurman fungiert im Roman als Verbindungsglied zwischen den beiden medizinischen „Genres“. Er beginnt zunächst eine Lehrtherapie bei Drik, da er beabsichtigt ebenfalls Psychiater zu werden, wechselt jedoch im Laufe der Handlung in die Anästhesie, wo er von Suzan betreut wird. Doch etwas stimmt nicht mit dem jungen Mann. Von ihm scheint eine latente Gefahr auszugehen, die letztendlich in einem Fiasko kumuliert, in das auch Roose, die Tochter von Suzan und Peter, hineingezogen wird.
Erneut baut Anna Enquist, wie schon in ihrem vorangegangenen Roman „Kontrapunkt“, ihre Handlung analog einer musikalischen Komposition auf. Die einzelnen Kapitel überschreibt sie mit „Exposition“, „Durchführung“, „Reprise“ und „Coda“. Auch der Inhalt offenbart zahlreiche musikalische Reminiszenzen. Man ist gewillt, sogar die Arbeit der Chirurgen und Anästhesisten im OP-Saal mit einer musikalischen Darbietung zu vergleichen. Der Kontrast zwischen Gefühl und Betäubung, Psychoanalyse und Anästhesiologie, wird von Enquist detailreich und intensiv herausgearbeitet und zuweilen äußerst eindringlich und schonungslos beschrieben. Eines der zentralsten Motive dieses Buches ist das Phänomen der Arbeit und die einhergehenden hohen, vor allem seelischen Anforderungen im klinischen Alltag. Einige Charaktere können ihre Gefühle nur noch betäuben, weil sie ständig zu kollabieren drohen.
Mit Einfühlungsvermögen und Bewunderung auf der einen und einer nüchternen, medizinisch-dokumentarischen Seite auf der anderen Seite strickt die niederländische Autorin ein intensives und etwas klaustrophobisches Familiendrama. Ihre unterschiedlichen Perspektiven, es wird jeweils im Wechsel aus Sicht von Drik, dann wieder aus Sicht von Suzan erzählt, kann man mit einer chirurgischen Naht vergleichen, bei der ebenfalls alle Fäden miteinander verwoben werden. Eingeflochtene Cliffhanger erzeugen einen permanenten Sog durch den Text, der aus zumeist knappen, bündigen Sätzen besteht. Allerdings strapaziert die Autorin den Leser damit, die zentrale Idee des Buches wieder und wieder zu erklären. Dadurch lässt sie ihm wenig Raum für eigene Reflektionen. Mitunter wirkt auch die Thematik zu konstruiert, was zu Lasten einiger Handlungsmotive geht und zudem einige zu schwach gezeichnete Charaktere zurücklässt. Alles in Allem offenbart „Die Betäubung“ jedoch eine spannende Geschichte über die Unfähigkeit, Kindheitstraumata zu verarbeiten und wirft einen interessanten Einblick in zwei konträre medizinische Bereiche. Eine Antwort auf die Frage, was denn nun der bessere Weg ist, Traumata zu verbergen bzw. sie zu betäuben oder sie an die Oberfläche zu holen und sie in ihrer vollen Wucht zu spüren – Schmerzen oder Pillen – erhält man auch bei Anna Enquist nicht.
Anna Enquist
Die Betäubung
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Titel der Originalausgabe: De Verdovers
Luchterhand Literaturverlag (September 2012)
319 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630874002
ISBN-13: 978-3630874005
Preis: 19,99 EURO
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