In einer Zeit, in der sich der Mensch zum Meister der Schöpfung aufschwingt, das Klima „menschengemacht“ nennt und den Anspruch erhebt, Pandemien durch Impfung besiegen zu können, ist der broschierte Band „Wiederentdeckung des Staates in der Theologie“ ein echter Kontrapunkt. Den zahlreichen Vertretern der „No-state-no-border“-Ideologie, vor allem in Deutschland zu finden, wird dieses Buch, obschon es höchst seriös und wissenschaftlich korrekt geschrieben wurde, gar nicht gefallen. Eine kommentierende Rezension.
Vier Theologen, die allein schon durch ihre Wirkungsstätten einen über das westliche Europa aufgespannten Horizont erkennen lassen, haben sich zusammengetan, um ein großes, oft vernachlässigtes und von der politischen Linken vielfach diskreditiertes Thema unserer Zeit zu beleuchten. Vor der Lektüre empfiehlt es sich, über die Entstehung des Gemeinwesens „Europa“ kurz zu reflektieren. Das westliche Christentum, das „römisch“ geworden war, transportierte die Idee eines gerechten Staatswesens, das durch eine gerechte – und vor Gott gerechtfertigte! – Obrigkeit gelenkt wird, untrennbar verwoben zusammen mit der biblischen Botschaft. Mit diesem Staatswesens beschäftigen sich in diesem Band vier Herausgeber als Autoren aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln heraus.
Eigentlich gehören die vier Beiträge jedoch zusammen. Sie bauen stringent aufeinander auf und sind offenkundig auch als zusammenhängende Linie gedacht – das belegen die 39 „Thesen“, die durchgehend nummeriert den gesamten Band durchziehen, wobei die Texte aber eigenständig bleiben. Die 39. und letzte dieser Thesen, sie ist im gemeinsam verfassten „Ausblick“ plaziert, kann dabei als Programm verstanden werden: „Die Wiederentdeckung des Staates durch Theologie und Kirchen ist eine Voraussetzung für eine künftige konstruktive Beteiligung am gesellschaftlich-politischen Diskurs“, oder kürzer, um mit These 1 zu beginnen: „Der Staat ist nicht alles, aber ohne den Staat ist alles nichts.“
Alexander Dietz, der eine Professur für systematische Theologie in Hannover innehat, hinterfragt zunächst die aktuelle Staatsvergessenheit – und entdeckt darin eine Sündenvergessenheit der Menschen. Er konstatiert einen radikal-individualisierten Liberalismus, dem er eine Fokussierung auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“ und einen grassierenden Transnationalismus attestiert. Dementsprechend wendet sich Dietz gegen eine Dekonstruktion des Staates und fordert, dass der Staatsbegriff wieder „lebensdienlich“ werden sollte. Er folgert in These 9: „Luthers Zwei-Regimente-Lehre ist nach wie vor das beste Fundament evangelischer politischer Ethik.“ Womit er den Bogen vom Paulus-Brief an die Römer zur Gegenwart – auch zur heutigen Bundesrepublik – spannt. Und zwar sehr überzeugend. Zugleich konstatiert er, dass die evangelische Ethik immer dann ideologisch wurde, wenn sie Luthers Lehren vernachlässigte. Er kritisiert die Partei der „Grünen“ nicht explizit – aber das muss er auch nicht. Der Leser erkennt problemlos, was gemeint ist: Eine kritische Hinterfragung der derzeitigen Glaubenspraxis der katholischen Kirche, aber ein Frontalangriff auf die Ökozentriertheit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), unter deren Postanschrift zum Beispiel ein Verein firmiert, der ein Schiff unterhält, das im Mittelmeer die höchst zweifelhafte „Flüchtlings“-Schlepperei fördert. Denn für die Rettung von Schiffbrüchigen reichen auch Grenzschützer – die Vertreter eines gerechten und grechtfertigten Staates also. Dieses auf den ersten blick so abstrakt angelegte Buch ist damit höchst konkret!
Zurück zum Inhalt des Buches. Ludger Schwienhorst-Schönberger, er lehrt in Wien, wählt für seinen Aufsatz einen Titel, der fast eine Prophetie sein könnte: „Vom Staatsvolk zum Gottesvolk“ – eine Prophetie für eine Gesundung und ein Überleben dessen, was die schon etwas länger hier Lebenden „Deutschland“ nennen. Einen Schwerpunkt legt er auf die Herleitung einer Herrschaftslegitimation, denn, so in These 15, „die Bibel unterscheidet zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Herrschaft“. Die rechtmäßige Gewalt, potestas, dient demnach zur Eingrunzung und Einhegung der unrechtmäßigen Gewalt, der violentia. Die Gewaltlosigkeit, die Jesus predigt, erkennt er als eine Ansage an die violentia unter der Voraussetzung der gültigen und bleibenden potestas. Den hierzulande in der Mehrheit befindlichen theologischen Botschaftern heutiger Tage, die eine Dekonstruktion des Staates unter dem Deckmantel der Theologie betreiben, attestiert er hingegen, dass sie die biblische Botschaft schlichtweg ignorieren.
Als Kernstück dieses grundlegenden Werkes ist Jan Dochhorns Exegese des 13. Kapitels des Römerbriefes, Vers 1 – 7, zu sehen. Auf den Seite 103 bis 136 legt der im englischen Durham lehrende Theologe genau der biblische Text aus, der die theologische Begründung für die Fundierung eines gerechten Staates im christlichen Glauben bildet. Hinzuzufügen wäre vielleicht Vers 8: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ Denn hier wird die Brücke zur Botschaft der Liebe geschlagen, zum Korintherbrief 13, vor allem dort natürlich Vers 13. Bürger, Regierung und Gott in einem gegenseitigen, definierten Verhältnis – welch eine wohltuende Sicht der Welt.
Doch wird diese Sicht heutzutage verstanden? Ist dieses Verhältnis überhaupt noch im Bewusstsein der Menschen verankert? Die Frage, wie der Rechtsstaat verstanden werden sollte, steht dahinter. Sie wird auf den Seiten 137 bis 175 von Axel Bernd Kunze, der als Pädagoge die Leitung einer kirchlichen Einrichtung innehat, trefflich analysiert. In seiner ersten These, im Buch trägt sie die Nr. 27, äußert er sich zu rechtlichen Grundlage für Freiheit: „Recht ermöglicht Sicherheit, Orientierung und friedliche Konfliktlösung.“ Ausdrücklich warnt er vor einer Moralisierung politischer Debatten, und er nennt dabei die jüngere Debatte um die Migration hierzulande. Eine solche Moral – eher eine Hypermoral – bringt er in Zusammenhang mit aufkommendem Fundamentalismus der Werte, die mit einer „moralisierenden, inquisitorischen Charakterveränderung des Rechts- und Verfassungsstaates“ einhergehen würde: „Freiheit wäre dann auf Dauer nur noch als Freiheit im engen Rahmen gesetzter Gesinnungsprüfung lebbar.“
Punktgenau trifft Kunze mit seiner These Nr. 30: „Wo staatliche Ordnungspolitik durch einen moralischen Individualismus in Frage gestellt wird, nimmt auf Dauer auch der humanitäre Rechtsschutz Schaden. Denn ein moralischer Impetus, de sich über Recht und Gesetz hinwegsetzt, verhindert notwenige Differenzierungen in der Anwendung bestehenden Rechts.“ Und als ob nicht schon die Migrationsfrage aus jeder Silbe dieses Textes herausdrängen würde, setzt er in These 31 hinzu: „Zunehmend werden die Menschenrechte (…) als Instrument einer umfassenden Gesellschaftsreform verstanden. So entsteht eine Schieflage: Ihr juridischer Charakter tritt damit zunehmend hinter dem moralischen zurück.“ Als Grundproblem begreift er dabei die mangelnde Bildung. Diesem bildungsethischen Problem widmet er sodann einen eigenen Beitrag, der in direktem Bezug auf das Evangelium, in dessen Namen Europa entstand, gipfelt. Nach Kunze „eröffnet das Evangelium den Raum für eine Politik aus christlicher Verantwortung, die im politischen Diskurs Kontur gewinnt und eine Verschiedenheit säkularer Gesetze zulässt.“ Das Christentum als Muter der Toleranz – voilà!
Im höchst aktuellen theologisch-politischen Diskurs zur aktuellen und künftigen Rolle des Staates als Gemeinwesen geben sich die vier Autoren nicht mit vorgefertigten, unreflektierten Antworten zufrieden, sondern sie beziehen die Theologie ein. Durchaus mit großem Erfolg! Sie werfen die Frage nach dem, was des Kaisers und was Gottes ist, neu auf und diskutieren sie unvoreingenommen. Derlei Diskurse werden von den Amtskirchen nicht in die öffentliche Debatte eingeführt, und schlimmer noch: Einzelaspekte wie der Schutz der Schöpfung werden überhöht, was sich in hypertrophen Umweltphantasien niederschlägt, die Migration wird in ihrer Struktur völlig verkannt, weswegen die EKD über Strohmänner ein Schiff im Mittelmeer unterhält, das in staatliche Maßnahmen eingreift und sie konterkariert, schließlich wird auch das Glaubenszeugnis aus purer Angst verweigert, wie das durch die amtskirchlichen Oberhirten Bedford-Strohm und Marx in Jerusalem geschah – just an der Stätte, an der ihr oberster Hirte, Jesus von Nazareth, sein ultimatives Zeugnis ablegte und sein irdisches Urteil empfing. Dieses Buch deckt allein durch seine Themensetzung äußerst gravierende Defizite der lutherischen wie der römisch-katholischen Kirche hierzulande auf, die diese zu ihrem eigenen Schaden perpetuieren – und, das ist viel gravierender, zum dauernden Schaden für das Gemeinwesen, das da „Deutschland“ heißt, werden lassen.
Das westliche Christentum, das „römisch“ geworden war, transportierte die Idee dieses Staatswesens in einer Einheit mit der biblischen Botschaft. Im 13. Kapitel des Römer-Briefes finden die Autoren die Grundlage für die Idee eines gerechten Staatswesens, das durch eine gerechte und durch Gott gerechtfertigte Obrigkeit gelenkt wird. Dieser Idee, so erlaubt sich der Rezensent anzumerken, folgt Europa dem Grundsatz nach seit der Taufe von Chlodwig I. in Reims, und auch Luther ist ganz klar in dieser Tradition zu sehen – lediglich die heutige Evangelische Kirche ist es, die vom Odium der Häresie umweht wird. Es geht in diesem Buch damit um nicht weniger als den Lebensfaden Europa, es geht um Sein oder Nichtsein eines Kontinents.
Basierend auf der Exegese des Römerbriefes wird in diesem wahrlich inhaltsschweren Band ein Bild des Staates entwickelt, das nicht des Aufruhrs, der ständigen Unzufriedenheit, der latenten Notwendigkeit zum klandestinen oder ganz offen propagierten Umsturz bedarf. Dieses Buch ist allein schon deswegen, ohne das dies ausgesprochen wird, ein Manifest gegen Klimahysterie, gegen die Hypermoral einer angeblichen Geschlechtergerechtigkeit, gegen die Enteignungsversuche und die Erschießungsphantasien der wohlhabendsten Bürger, wie im grünlinken Spektrum bundesdeutscher Polit-Agitatoren tatsächlich kursieren. Um Dekonstruktion geht es bei solchen Phantasien, und Bevorteilung bestimmter Gruppen unter der Überschrift einer angeblichen „Geschlechtergerechtigkeit“, um die ganz offene Propagierung eines „Antifaschismus“ der sogenannten „Antifa“ – wobei hier an den italienischen Vordenker und Sozialisten Ignazio Silone erinnert sei, der sagte: „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus.’ Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus!’“
Die Wiederentdeckung des Staates durch Theologie und Kirchen ist eine Voraussetzung für eine künftige konstruktive Beteiligung am gesellschaftlich-politischen Diskurs – und das ist exakt das Gegenteil von Enteignung, Erschießung und einem neuen Faschismus, der sich „Antifaschismus“ nennt. Wirkmächtig wird erklärt, warum es die traditionelle, die konservativ verstandene christliche Kirche sein muss, die Europa davor rettet, nicht mehr „römisch“ – und damit nicht mehr existent! – zu sein. Der Politikwissenschaftler Mariano Barbato urteilt: „Den vier Autoren (…) ist ein vielschichtiger, aber kohärenter Weckruf gelungen, den Staat und die Staatsidee theologisch nicht links – oder besser ‚rechts’ – liegen zu lassen.“
Dem kann nur beigepflichtet werden. Die vier Autoren und Herausgeber, die sowohl die katholische wie lutherische Seite vertraten und aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen kommen, haben ein Standardwerk geschaffen. Zunächst irritiert ein wenig, dass dieses inhaltlich so gewichtige Werk im Taschenbuchformat erschienen ist. Aber das ist vielleicht gerade ein Vorteil – dieses Buch gehört in jede Manteltasche, gehört in jede Aktentasche, sollte immer griffbereit sein.
Alexander Dietz / Jan Dochhorn / Axel Bernd Kunze / Ludger Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung des Staates in der Theologie, Leipzig 2020, broschiert, 258 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-374-06636-0, auch als e-book.