Voller Trauer nehmen wir Abschied von Wolfgang Schäuble. Am Abend des zweiten Weihnachtstages erlosch das Leben eines Ausnahmepolitikers, wie wir ihn vermutlich so nicht wieder sehen werden. Allein die Zeitspanne von 51 Jahren ununterbrochener Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag, immer direkt gewählt in seinem Offenburger Wahlkreis, ist einzigartig.
Hohe Staats- und Regierungsämter haben Wolfgang Schäuble zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte gemacht. Diese Nachkriegsgeschichte war im Jahr seiner ersten Wahl in den Deutschen Bundestag noch nicht einmal 25 Jahre alt. Das Parlament war geprägt von Abgeordneten, die zu einem großen Teil vor dem Weltkrieg geboren waren, viele während des Krieges – wie Wolfgang Schäuble – und nur wenige danach.
Was bleibt von Wolfgang Schäuble?
Wolfgang Schäuble wird vor allem als der Baumeister der deutschen Einheit und als überzeugter Europäer in die Geschichte unseres Landes eingehen. Zusammen mit Günther Krause, dem damaligen Parlamentarischen Staatsekretär beim Ministerpräsidenten der DDR, hat er innerhalb von wenigen Monaten nach dem Mauerfall den Vertrag über die Herstellung der Einheit unseres Landes verfasst. Ein völkerrechtliches Vertragswerk, für das es keine Vorlage gab, und das innerhalb kürzester Zeit doch allumfassend die Aufnahme des Staatsgebietes der früheren DDR, vor allem aber der über 16 Millionen Bürger der DDR als Staatsbürger in die Bundesrepublik Deutschland regelte. Wenige Tage nach der Unterzeichnung geschah das Attentat in der Nähe seines Heimatortes, das ihn für mehr als 30 Jahre an den Rollstuhl fesseln sollte.
Gezeichnet von diesem Attentat hielt er am 20. Juni 1991 die entscheidende Rede im Deutschen Bundestag, die die Mehrheit für Berlin als zukünftige Hauptstadt im vereinten Deutschland stimmen ließ.
Allein diese Ereignisse und Entscheidungen waren historisch. Und trotzdem konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen, welche Aufgaben auf Wolfgang Schäuble noch warten sollten. „Wer in Deutschland in die Politik geht, und einigermaßen begabt ist, der muss Bundeskanzler werden wollen“ – so hat er es mir einmal vor vielen Jahren gesagt. Er wollte es, und die Fähigkeiten, es zu sein, hatte er ohne Zweifel. Aber man kann es heute auch so sagen: Ohne es zu werden, hat er in der deutschen und europäischen Politik in den letzten fünf Jahrzehnten mehr dauerhafte Spuren hinterlassen als mancher, der es wurde.
Die Vertiefung der deutsch-französischen Freundschaft, die Asylrechtsreform im Jahr 1993, die erste Islamkonferenz in Deutschland, die Bewältigung der ersten großen Euro-Krise, die Deutsch-Französisch Parlamentarische Versammlung, immer wieder wichtige Anstöße als Bundestagspräsident zur Stärkung unserer Demokratie – die Liste der Themen ist schier unüberschaubar. 50 Jahre in der Politik, 50 Jahre Dienst an unserem Land, 50 Jahre Loyalität und Pflichterfüllung trotz mancher Rückschläge und Demütigungen, davon über 30 Jahre im Rollstuhl mit eiserner Disziplin und Präsenz.
Wir verneigen uns vor dem deutschen Staatsmann und großen Europäer Wolfgang Schäuble. Wir nehmen sein Vermächtnis als Auftrag an zur Gestaltung der Zukunft unseres Landes. Und wir nehmen seine Zuversicht aus der Geschichte des Sisyphos von Albert Camus mit in das Jahr 2024.
Quelle: MerzMail