Friedrich Merz warnt: Im digitalen Zeitalter alles zu erlauben, bedeutet die Meinungsfreiheit ihren Freinden auszuliefern

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Unsere Demokratie lebt von Freiheit, ja unsere Demokratie ist Freiheit, nichts anderes. Die Freiheit der Rede, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Religionsfreiheit, die Wahlfreiheit, die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Berufsfreiheit, ja selbst die Freiheit, nichts zu tun – all diese Freiheiten sind Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft. Selbst die absurdesten Dinge zu tun, zu denken, zu verbreiten und lautstark zu verkünden, die Freiheit haben wir, ohne dass dies von irgendjemandem in Frage gestellt werden kann.

Am nordöstlichen Ende des Hyde Parks in London gibt es immer noch die „Speakers‘ Corner“. Hier kann sich jedermann und jedefrau zu jeder Tages- und Nachtzeit hinstellen und reden was er oder sie will, lautstark, provokant, skurril, witzig, dümmlich, richtig oder falsch, über alles und jedes. „Hyde Park Corner“ stand im analogen Zeitalter für die Meinungs- und Redefreiheit schlechthin, weitgehend ohne Einschränkung.

„Speakers Corner“, das ist im digitalen Zeitalter Instagram, X, Facebook, TikTok und viele andere Plattformen mehr, auf denen jedermann und jedefrau sagen kann, was er und sie will, lautstark, provokant, skurril, dümmlich, richtig oder falsch über alles und jedes. Der Unterschied zur Hyde Park Corner liegt allein in der Zahl der „Speaker“ und der Zuschauer, beides geht in die mehrstelligen Millionen. Mit der Quantität bekommen die Plattformen allerdings auch eine andere Qualität. Sie beeinflussen die Menschen wirklich, und zwar weltweit, und sie sind allein aufgrund ihrer Reichweite die idealen Plattformen für politische und kommerzielle Werbung, reichweitenstärker als jedes analoge Medium, mit den richtigen Algorithmen auch gezielt einsetzbar auf die Meinungen und Bedürfnisse jeder beliebigen Zielgruppe.

Das britische Unterhaus hat im November 1955 ein paar ganz einfache Regeln aufgestellt, was man in Speakers‘ Corner im Hyde Park darf und was nicht. Unter anderem ist bis heute nicht erlaubt, „sich zu benehmen (einschließlich des Benutzens von Ausdrücken) auf eine Weise, die dazu angetan sein könnte, Unruhe auszulösen und einen Bruch des allgemeinen Friedens auszulösen“ oder „eine Sprache zu benutzen, die obszön, beleidigend, blasphemisch oder gewaltandrohend ist.“ Verstöße dagegen werden strafrechtlich geahndet. Aufgeregt hat sich darüber bisher kaum jemand.

Die Aufregung schon über die Diskussion darüber, ob und gegebenenfalls wie die sozialen Medien von heute im digitalen Zeitalter denn kontrolliert werden sollen, ist dagegen groß. Bis in deutsche Tageszeitungen hinein wird allein der Versuch, einen Rechtsrahmen für die Plattformen zu schaffen, die strafbare Handlungen in der Lage wären zu unterbinden, schon als Anschlag auf die Meinungsfreiheit gesehen. Und es wird die Entscheidung von Mark Zuckerberg geradezu bejubelt, nach dem Vorbild von X nun auch auf Facebook und Instagram auf die Zusammenarbeit mit externen Faktencheck-Redaktionen zu verzichten.

Zugegeben, es ist eine Gratwanderung. Aber ist es wirklich so, dass die Meinungsfreiheit nur dann gewährleistet ist, wenn jeder alles schreiben und senden darf, was er will, egal ob richtig oder falsch? Ja, „richtig“ und „falsch“ mögen die falschen Kategorien sein, anhand derer Inhalte geprüft werden. Aber soll deshalb alles erlaubt sein? Grobe Falschmeldungen, KI-generierte, täuschend echt aussehende, aber grob gefälschte Memes mit Aussagen, die der vermeintliche Verfasser nie gemacht hat? Einflussversuche ausländischer Regierungen und ganzer Trollarmeen, die beständig die Plattformen fluten mit Propaganda und Fake News? Sollen wir resignieren und uns allenfalls selbst auf das Niveau von Propaganda und Fake News begeben, um dem Meinungskrieg auf den Plattformen wenigstens etwas entgegenzusetzen?

Die Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen bedroht ist. So einfach haben wir das mal gelernt. So einfach konnte das Unterhaus vor 70 Jahren noch die Regeln für die Speakers‘ Corner festlegen. So einfach ist das heute im digitalen Zeitalter nicht mehr. Wer allerdings dafür plädiert, im digitalen Zeitalter einfach alles zu erlauben, oder wer angesichts der Wucht und Macht der Plattformbetreiber resigniert und alles hinzunehmen bereit ist, der liefert die Meinungsfreiheit binnen kürzester Zeit den Feinden der Meinungsfreiheit aus. Und dann ist es auch um den Rest unserer Demokratie nicht mehr gut bestellt.

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