Viktor Orbáns vermeintliche Friedensmissionen

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Alle sechs Monate wechselt in der Europäischen Union die Ratspräsidentschaft. Ihr kommt vor allem die Aufgabe zu, die Sitzungen und Tagungen auf allen Ebenen des Rates, vor allem der vielen Ministerräte, vorzubereiten und zu leiten. Die aktuelle Ratspräsidentschaft ist eingebettet in eine Arbeitsteilung mit der vorangegangenen und mit der nachfolgenden Ratspräsidentschaft, so dass in der EU jeweils über einen Zeitraum von 18 Monaten eine Kontinuität gewährleistet wird.

In der Praxis ist diese Arbeitsteilung seit ihrer Einführung im Jahr 2007 gut gelungen. Mit der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch Ungarn könnte sich dies im zweiten Halbjahr 2024 nun allerdings grundlegend ändern, zumindest auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Denn der ungarische Ministerpräsident entfaltet wenige Tage nach der Übernahme der Ratspräsidentschaft auffallende Reiseaktivitäten. Innerhalb weniger Tage besuchte er erst Kiew, dann Moskau und Beijing und schließlich die USA zum NATO-Gipfel in Washington. Damit nicht genug, direkt von Washington machte er noch schnell einen Abstecher nach Florida und traf dort Donald Trump. „Friedensmission“ nennt Orban diese Reisen. Die gute Nachricht des Tages kam von Orban auf Twitter, mit Daumen hoch neben Trump stehend: „We discussed ways to make peace. He’s going to solve it.“

Beide, Trump und Orban, lassen die Welt im Ungewissen darüber, wie sie beide oder wenigstens einer von ihnen den Frieden denn nun herbeiführen wollen. Putin hingegen hatte eine sehr klare Botschaft, wie er sich „Frieden“ vorstellt: Zwei Tage nach dem Besuch von Orban ließ er eine Kinderklinik in Kiew bombardieren. Die Bilder von toten und schwerverletzten Kindern, Krankenschwestern und Ärzten gingen um die Welt.

Mit seinen Reisen tut Orban genau das, was in der AfD sowie bei den Linken in der SPD und BSW seit Monaten gefordert wird: Er übt sich in vermeintlicher Diplomatie. Die Antwort der russischen Staatsführung aber ist nicht etwa ein Versuch zur Lösung des Konflikts, sondern im Gegenteil seine militärische und rhetorische Verschärfung. Das „Monster“ Ukraine müsse vollständig „ausgerottet“ werden, ruft Medwedew, der frühere russische Präsident und heutige stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, dem ungarischen Friedensemissär hinterher. Diese Episode zeigt: Tatsächliche Diplomatie setzt die Bereitschaft zum Frieden voraus.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber gewisse Muster der Geschichte schon. „Peace for our time“ versprach Chamberlain, der britische Premierminister, als er 1938 aus München nach London zurückkehrte. Weniger als ein Jahr später marschierte Hitler in Polen ein. Und trotz des Beistandsabkommens zwischen Großbritannien und Polen hofften die britische und auch die französische Regierung noch Tage und Wochen danach auf eine „diplomatische“ Lösung. Die damals noch in ihren Anfängen stehenden Meinungsumfragen hatten großen Einfluss auf die mangelnde Entschlussbereitschaft beider Regierungen.

Rechts- und Linkspopulisten in den USA und Europa sind offenbar nicht bereit, die historischen Parallelen zwischen damals und heute zu erkennen. Die Europäische Union findet kein Mittel gegen die Alleingänge des ungarischen Ministerpräsidenten, der bewusst und vorsätzlich mit allen guten Übungen eines abgestimmten Vorgehens der Europäischen Union aus der Vergangenheit bricht. Aber vielleicht erbringt er mit seiner Reise zu Putin ungewollt den Beweis dafür, dass man verbrecherischen Regimen auf der Welt nur mit Härte und Entschlossenheit begegnen darf, niemals mit Schwäche, und dass die Diplomatie erst dann das Wort bekommen kann, wenn der Aggressor die Aussichtslosigkeit eines weiteren militärischen Vorgehens erkennen muss. Die falsche Reihenfolge hat vor 90 Jahren mehr als 70 Millionen Menschen das Leben gekostet.

Quelle: MerzMail

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