Friedrich Merz: Olaf Scholz hat die Zeitenwende beim Besuch von Joe Biden für Europa verpasst

Europafahne, Quelle: SGL

ein Kurztrip statt des geplanten Staatsbesuchs, ein Vierertreffen im Kanzleramt statt der Konferenz in Ramstein mit rund 50 Teilnehmerstaaten, darunter zahlreichen Staats- und Regierungschefs, zur weiteren Koordinierung der Hilfen für die Ukraine. Wegen des Hurrikans Milton in Florida konnte US-Präsident Biden nicht wie geplant nach Deutschland reisen, und schon gerät die gesamte europäische Politik aus dem Tritt. Anders kann man die Ereignisse der letzten zehn Tage nicht einordnen, und sie geben in verdichteter Form den Blick frei auf die desolate Lage der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Warum musste die Konferenz in Ramstein abgesagt werden? „Nur“ weil der amerikanische Präsident nicht dabei sein konnte? Waren die Europäer nicht Manns und Frau genug, sie auch ohne amerikanische Beteiligung stattfinden zu lassen? Notfalls mit dem amerikanischen Außenminister oder Verteidigungsminister? Die Ukraine wartet dringend auf weitere Hilfen, der dritte Kriegswinter steht vor der Tür, und die Lage des Landes verschlechtert sich von Woche zu Woche. Die Ukraine bekäme „alle Hilfen, die sie benötigt, und sie bekommt sie so lange wie nötig“, so heißt es seit 2 ½ Jahren routinemäßig aus den meisten europäischen Hauptstädten, vor allem aus Berlin. Aber diese Behauptung ist schlicht falsch, auch wenn sie ständig wiederholt wird. Die Geschichte der Hilfen für die Ukraine ist eine Geschichte des permanenten Zauderns und Zögerns, des Hinhaltens und Taktierens. Wenn gar nichts mehr hilft, wird auf den amerikanischen Präsidenten verwiesen. Aber der befand sich erst monatelang im Wahlkampf und ist jetzt auf Abschiedstour. Am 5. November wird ein neuer Präsident gewählt, und wenn der Donald Trump heißt, dann gibt es keinen Windschatten mehr, in dem sich die Europäer verstecken können. Die abgesagte Konferenz vom letzten Wochenende wäre die Gelegenheit schlechthin gewesen, in Europa Führung zu übernehmen.

Zusammen mit weiteren Staats- und Regierungschefs hätte der deutsche Bundeskanzler zeigen müssen, was „Zeitenwende“ in Europa bedeutet. Und zusammen mit Frankreich und Großbritannien hätte es deutliche Ansagen an Putin geben müssen: Wenn der Kriegsterror gegen die Zivilbevölkerung nicht binnen 24 Stunden aufhört, werden die Reichweitenbegrenzungen der gelieferten Waffen aufgehoben. Wenn das nicht reicht, liefert Deutschland Taurus Marschflugkörper, um die Nachschubwege der russischen Armee zu zerstören. Frankreich und Großbritannien liefern bereits die Marschflugkörper, und sie sind offenbar bereit, einen solchen Weg zu gehen. Doch im deutschen Bundeskanzleramt regiert die Angst und die verzweifelte Hoffnung, noch kurz vor der Bundestagswahl den Friedenskanzler geben zu können. Aber „Angst ist die Mutter aller Grausamkeiten“ wusste schon Michel de Montaigne zu sagen, der große Philosoph Frankreichs aus dem 16. Jahrhundert. Macron hat ihn gelesen.

Stattdessen dann ein nettes Kaffeetrinken am letzten Freitag mit Joe Biden, kurz zuvor die Sonderstufe des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die USA in nostalgischer Erinnerung vereint. So hätte die deutsche Regierung das früher auch in Bonn gemacht, vor der Wiedervereinigung, vor der Überwindung der europäischen Teilung, vor dem Krieg in der Ukraine, im alten Westen. Der alte Westen sucht Trost und Zuversicht in der Vergangenheit. Hat irgendjemand daran gedacht, auch den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk einzuladen? Er ist nicht gefragt worden.

Und so bekommt der Rückflug von Joe Biden nach Washington am Freitagnachmittag eine geradezu symbolhafte Bedeutung: Der für lange Zeit letzte transatlantische Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika verabschiedet sich von Europa, und die Europäer winken ihm nach, verträumt im Gedenken an frühere Zeiten, führungslos und ohne die geringste Vorstellung von dem, was nach Joe Biden auf sie zukommt.

Quelle: MerzMail