Zwei Ereignisse in dieser Woche, die nur auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben: Ein zweitägiges Treffen der Staats- und Regierungschefs aus ganz Europa in Andalusien endet ohne konkrete Ergebnisse – und in den USA wird der republikanische Mehrheitsführer im US-Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, durch die eigene Partei abgewählt.
Die amerikanische Demokratie steuert auf eine handfeste Krise zu. Demokraten und Republikaner stehen sich mittlerweile vollkommen unversöhnlich gegenüber, und nichts deutet darauf hin, dass sich dies in naher Zukunft ändern könnte. Im Gegenteil, der heraufziehende Präsidentschaftswahlkampf dürfte die Fronten weiter verhärten, und auch die Außenpolitik kommt unter die Räder des Parteienstreits. So wird die weitere Unterstützung der Ukraine nicht allein vom Streit um den Haushalt, sondern zunehmend von sehr unterschiedlichen Vorstellungen über das zukünftige Verhältnis der USA zu Russland abhängig. Falls Trump im nächsten Jahr erneut zum amerikanischen Präsidenten gewählt werden sollte, dürfte die Führung der Amerikaner bei den Militärhilfen der Vergangenheit angehören. Möglicherweise wird sie ganz eingestellt, und Trump wird stattdessen irgendeinen „Deal“ mit Putin machen.
Europa wird bis dahin nur Zuschauer eines politischen Spektakels sein können, das uns an der Funktionsfähigkeit der amerikanischen Demokratie ebenso zweifeln lässt wie an der zukünftigen Rolle, die die USA etwa in der NATO noch einzunehmen bereit sind. Wenn es so kommt, wie Trump und starke Kräfte in der republikanischen Partei wollen, dann steht Europa spätestens im übernächsten Jahr weitgehend ohne die Unterstützung der USA da – sowohl im Hinblick auf die Hilfen für die Ukraine, als auch mit Blick auf die amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa. Die Europäer werden dann sehr schnell entscheiden müssen, ob sie bereit sind, für ihre eigene Freiheit und Sicherheit und die der Ukraine substanziell mehr zu leisten als bisher.
„Die Europäer“ sind dabei zu allererst die Europäer in der EU, aber auch die europäischen NATO-Staaten außerhalb der EU, zu denen vor allem Großbritannien zählt. Gibt es auf Seiten dieser Europäer irgendeine Vorbereitung auf den gar nicht mehr so unwahrscheinlichen Fall eines Auseinanderbrechens des NATO-Bündnisses zwischen Europa und den USA? Gibt es einen Plan B, über den vor allem in den großen europäischen Ländern nachgedacht wird? Hat die Bundesregierung irgendeine strategische Vorstellung von unserer deutschen Rolle in einem solchen Szenario?
Wolfgang Ischinger hat in diesen Tagen erneut darauf hingewiesen, dass es vor genau 34 Jahren die letzte große europapolitische Initiative einer deutschen Bundesregierung gegeben hat, und zwar ein Memorandum des Auswärtigen Amtes zur Währungspolitik, das die Grundlage wurde für die spätere Europäische Währungsunion. Wolfgang Schäuble und Karl Lamers haben schon 1994 ein Konzept aufgeschrieben, wie sich Europa mit unterschiedlichen Integrationstiefen weiterentwickeln könnte. Mit der „Zeitenwende“ des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der drohenden Dysfunktionalität der amerikanischen Demokratie wird es jetzt allerhöchste Zeit, dass die deutsche Bundesregierung die Initiative für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergreift. Wir haben dafür möglicherweise nicht mehr allzu viel Zeit.
Quelle: MerzMail