Friedrich Merz: Der Osten: Eine „Erfindung des Westens“?

berlin mauer grenzen deutsche einheit mauerfall, Quelle: Sarah_Loetscher, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

In der nächsten Woche jährt sich zum 33. Mal der Tag, an dem die deutsche Einheit vollzogen wurde: der 3. Oktober.

Wir werden den Tag wie in jedem Jahr feiern, in diesem Jahr in Hamburg. Wir werden dankbar zurück und zuversichtlich nach vorn blicken.

Und doch liegt immer noch ein Schatten über diesem Jahrestag. Ist die deutsche Einheit wirklich vollendet, nicht nur im staatlichen Sinne, sondern auch im Sinne unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts? Haben wir gleichwertige Lebensverhältnisse erreicht in Ost und West? Sind wir auch emotional „ein Volk“?

Darüber wurde in den letzten Monaten erneut viel geschrieben, nun vor allem von jungen Autorinnen und Autoren, die die Zeit vor der Einheit gar nicht oder nur als kleine Kinder miterlebt haben. „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung – Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet“ lautet der Titel eines der Bücher, das seit Wochen in den Bestsellerlisten zu finden ist. Und in der Tat: Die deutsche Einheit ist ohne Zweifel im staatsrechtlichen Sinne vollzogen. Aber ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl mag sich bis heute nicht so richtig einzustellen. Der Osten weist signifikante Unterschiede auf zum Westen, im Lebensstandard, im Altersdurchschnitt, nicht zuletzt in der politischen Grundstimmung. Viele Menschen im Osten fühlen sich abgehängt, die Zweifel an der Demokratie sind größer, viele sehen Europa und die Westbindung kritischer und Russland unkritischer als der Westen. Was also ist zu tun?

Zunächst: Der Osten unseres Landes braucht Hinwendung und Anerkennung. Die Menschen im Osten haben viel erreicht, und sie haben in den letzten Jahren trotz aller Widrigkeiten Enormes geleistet. Kein anderer Teil des früheren Ostblocks in Europa hat es besser geschafft als der Osten unseres Landes. Aber es steht uns Westdeutschen gut an, zuzugeben, dass im Zuge der deutschen Einheit manches hätte anders gemacht werden können. Die Arbeit der Treuhand war unverzichtbar, aber das notwendige Einfühlungsvermögen in die Welt derer, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, hätte besser sein können. Die Marktwirtschaft wurde übergestülpt, aber nicht erklärt. Der materielle Wohlstand ist gekommen, aber Nähe und Vertrautheit im Alltag sind vielerorts verloren gegangen. Ohne Zweifel sind „blühende Landschaften“ entstanden, aber vor allem im äußeren Erscheinungsbild der kleinen und großen Städte, nicht so sehr in den zurückgebliebenen ländlichen Räumen ohne gute Infrastruktur. Leitungspositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind immer noch sehr ungleich verteilt. Und mehr als 30 Jahre deutsche Einheit haben nicht ausgereicht, um den Menschen eine wenigstens kleine Vermögensbildung zu eröffnen. Die Erbschaftsteuerstatistik zeigt ein besonders krasses Bild, wie unterschiedlich Privat- und Betriebsvermögen in West und Ost verteilt sind.

Eine „Erfindung des Westens“ ist der Osten gewiss nicht. Die Freiheit und die Öffnung hin zur deutschen Einheit sind zuallererst das Verdienst der Menschen im Osten. Aber für uns alle bleibt auch nach 33 Jahren immer noch viel zu tun, um die Einheit in Freiheit im Ganzen zu verwirklichen. Nach wie vor gibt es viele Gründe zum Feiern, aber mindestens ebenso viele Gründe für Gespräche, gegenseitiges Zuhören und ein beständiges aufeinander Zugehen. Der 3. Oktober ist und bleibt ein Feiertag, aber er bleibt auch ein Auftrag an uns alle, in Ost und West.

Quelle: MerzMail

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