Was verstehen Sie unter einer „Volkspartei“? Welchen Ansprüchen muss eine Partei genügen, um sich mit diesem Titel schmücken zu dürfen? Handelt es sich um eine Partei, die in ihren Wahlergebnissen regelmäßig beweist, den größten Teil der Bevölkerung hinter sich versammeln zu können? Oder zeichnet sich diese Partei durch ihre Mitgliederstärke aus? Ist es eine Partei, deren Programm so gestaltet ist, dass sich jeder Bürger dieses Landes damit identifizieren kann? Oder ist es vielleicht im Sinne der „Volx“-Bewegung eines bekannten deutschen Boulevardblattes eine Partei, die sich auch „der kleine Mann“ leisten kann?
Landläufig wird die Union als eine der „großen Volksparteien“ bezeichnet. Nicht nur hinter den Kulissen dreht sich jedoch seit Jahren die Diskussion um die Frage, inwiefern wir diesem Anspruch noch gerecht werden können. Stetig sinkende Wahlergebnisse in Ost wie West – der zunehmende Schwund an Mitgliedern, all das lässt sich – nicht nur in unserer – Partei beobachten. Zwar regieren CDU und CSU seit dem Herbst 2009 im Bund wieder mit ihrem Wunschpartner FDP in einer bürgerlichen Koalition. Doch darüber darf nicht vergessen werden, dass das Zweitstimmenergebnis von 33,8Prozent das schlechteste für die Union seit 1949 gewesen ist. Von den zwei Millionen Wählern mehr, die vier Jahre zuvor 2005 CDU/CSU gewählt haben, gingen rund 1,1Millionen zur FDP und 900000 blieben zu Hause. In angestammten CDU-Hochburgen gingen seit 2005 mehr als 10Prozent der Wähler verloren. In den Ländern erzielte die CDU/CSU zuletzt in Baden-Württemberg im März 2006 ein Ergebnis jeweils von 44 %. Bei den Landtagswahlen im größten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, setzte sich der Absturz im Mai 2010 mit dem Verlust der Regierungsverantwortung fort. Die CDU verlor bei knapp 13,3Millionen Wahlberechtigten gegenüber der Landtagswahl 2005 mehr als eine Million Wähler und konnte nur noch 2,68Millionen der Zweitstimmen für sich gewinnen. Die FDP konnte lediglich 130000 auf ihre Seite ziehen, 330000 frühere CDU-Wähler blieben einfach zu Hause, und immerhin 260000 konnten SPD, Grüne und LINKE für sich gewinnen. Vor allem aber zeigt dieses Wahlergebnis eines: Enttäuschte CDU-Wähler landen nicht automatisch bei der FDP und sichern damit bürgerliche Mehrheiten. Sollte es diese Hoffnung in der Union gegeben haben, so hat sie getrogen.
Seit Jahren wurden und werden immer neue Ideen erwogen und Konzepte erdacht, mit denen man dieser Entwicklung zu begegnen versucht. Während über viele Jahre das Interesse im Mittelpunkt stand, sich neuen Wählerschichten in der Mitte der Gesellschaft zu öffnen, rücken dabei jetzt jene Stammwähler wieder stärker in den Mittelpunkt die mehr und mehr den Wahlen fernbleiben. Dieser Wählergruppe ist mit der ebenfalls interessanten Gruppe der Wechselwähler eines gemeinsam: Die einen wie die anderen erwarten von einer Partei – von „ihrer“ Partei vor allem eins: ein klares Profil mit einer klaren politischen Botschaft.
Die Bundestagswahl 2009 und die nordrhein-westfälische Landtagswahl 2010 werfen die Frage auf, ob es richtig war, bei der Formulierung politischer Botschaften und strategischen Aufstellung der CDU von einer Vorstellung leiten zu lassen, die sich vereinfacht auf folgende Annahmen stützt: Die Gesellschaft werde immer stärker durch Individualisierung und Pluralisierung geprägt. Die traditionellen Milieus mit einer engen Parteibindung, wie dem katholischen Kirchgänger oder dem gewerkschaftlich orientierten Arbeiter würden immer unbedeutender. Politik, die vor allem diese Milieus bedient, habe es schwer, andere Wählerschichten zu erreichen.
Ein flaches Profil und weiche Botschaften haben nicht dazu geführt, mehr neue Wähler zu gewinnen als die CDU an anderer Stelle verloren hat.
Es war ein Kurzschluss, zu glauben, Wähler, die sich weniger stark an bestimmte Milieus oder Parteien gebunden fühlen, mit einem möglichst vagen politischen Angebot von sich überzeugen zu können. Im Gegenteil: Wenn eine wachsende Zahl der Bürgerinnen und Bürger zunehmend alles unübersichtlich findet und Orientierungsschwierigkeiten hat, wächst das Bedürfnis nach einer klaren politischenFührung, die ihre Maßstäbe offenlegt und konsequent nach außen vertritt. Das ist im Übrigen auch eine Frage der politischen Lauterkeit. Demokratische Kultur lebt von erkennbaren und wählbaren politischen Alternativen. Es ist an der Zeit, Botschaften wieder eindeutig zu formulieren und Politik daran auszurichten. Damit erfüllt Politik auch eine ihrer ureigensten Aufgaben, nämlich Orientierung zu geben, quasi Leuchtturm zu sein und einen Weg aufzuzeigen, den die Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite gehen kann.
Die Stärke der Volkspartei CDU war und ist, dass sie eine Union verschiedener politischer Traditionsstränge ist, des christlich-sozialen, liberalen und konservativen. Diese Ausprägungen standen nie nebeneinander und schließen einander auch nicht aus. Sie sind in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander bezogen und bedingen einander. Vereinfacht kann man sagen: Mittel für die soziale Sicherung müssen zunächst erwirtschaftet werden. Deshalb kann das Christlich-soziale nicht ohne liberale Orientierung an den Prinzipen der Marktwirtschaft funktionieren. Marktwirtschaft funktioniert jedoch auf Dauer nicht, wenn Unsicherheit die Erfahrung ist, die Menschen vor allem mit ihr verbinden. Deshalb brauchen die Liberalen die Einrede der Christlich-Sozialen. Jedes soziale Gemeinwesen und jede Wirtschaft braucht starke Institutionen, eindeutige Regeln, Wertbindungen und nationalen Zusammenhalt. Deshalb funktionieren Partei und Gesellschaft nicht ohne das konservative Element. Die Bindungskraft der Konservativen ist gefordert, angesichts sozialer und wirtschaftlicher Realitäten Kontinuität im beständigen Wandel zu gestalten. Aus dem Gleichgewicht dieser drei Strömungen wuchsen die Voraussetzungen, mit denen sich die Union zu einer Volkspartei entwickeln konnte, die sich auch in den Wahlergebnissen niederschlug. Die sprichwörtliche „gute alte Zeit“ ist aber meist eine Fiktion, eine rückwärtsgewandte Utopie. Jede Generation aktiver Politiker in der Union ist deshalb stets aufs Neue gefordert, dieses Gleichgewicht neu zu bestimmen, weil jede Zeit ihre eigenen Fragen stellt. Es ist noch immer diese Balance, die der Union dazu verhilft, Volkspartei zu bleiben: So kann sie weiterhin breite Schichten der Bevölkerung erreichen, sich selbst als Partei und das Land gleichmäßig weiterentwickeln.
Deshalb tut es auch der CDU gut und sichert ihr die politische Gestaltungskraft für die Zukunft, wenn sie immer wieder danach fragt, was es heute und morgen bedeutet, christlich-sozial, liberal oder konservativ zu sein. In der öffentlichen Debatte ist es oft einfacher das soziale oder das liberale Element zu betonen und im Wettstreit mit dem politischen Mitbewerber in den Fokus zu rücken. Das Element des Konservativen wird in der Öffentlichkeit nicht selten mit reaktionärem Denken verwechselt. Der angebliche Makel des „rückwärtsgewandten“ und damit „rückständigen“ Politikers, der mit diesem Missverständnis einhergeht, verleiht einem daher schnell das Gefühl, in der öffentlichen Debatte mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Es erfordert Mut, diesen Weg dennoch zu gehen. Und es erfordert Standhaftigkeit, stets aufs Neue darauf hinzuweisen, das erst mit dem Element des Konservativen das Profil der Union vollständig – und damit auch erklärbar wird.
Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag hat sich immer wieder dem Ringen um dierichtige Balance der Strömungen gestellt. Und sie hat dabei immer wieder darauf geachtet, das Konservative nicht nur mit zu benennen, sondern auch ganz gezielt in den Fokus zu rücken. Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag hat deshalb in einer Vortrags- und Gesprächsreihe die Frage gestellt: „Was heißt heute konservativ?“, was zeichnet modernen, zeitgemäßen Konservatismusaus. Die Vorträge dieser Reihe bilden den Kern dieses Bandes. Hinzugekommen sind weitere Beiträge von Vertretern aus Politik und Gesellschaft, die nicht direkt aus dem Blickwinkel dieser Fragestellung heraus entstanden sind. In ihnen spiegeln sich – je nach Standpunkt – auch die anderen Strömungen innerhalb der Union wider. Wir haben uns ganz bewusst entschieden, die Debatte um das konservative Element innerhalb der Union mit diesen Beiträgen zu flankieren, weil wir davon überzeugt sind, dass sich erst im Zusammenspiel aller drei Elemente ein vollständiges Bild unserer politischen Grundlagen und Überzeugungen zeichnen lässt.
I
Verbindlicher Ausgangspunkt politischen Denkens ist für die gesamte Union das christliche Menschenbild. Mit diesem Menschenbild und seinen Konsequenzen befassen sich die ersten vier Vorträge. Der Thüringer Landesbischof i.R. Prof. Dr. Christoph Kähler grenzt das christliche Menschenbild gegen den anthropologischen Optimismus des untergegangenen Sozialismus – der Mensch vermag alles, muss sich aber auch alles zurechnen lassen – genauso ab, wie gegen die Resignation, die aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins Schuld auf Kosten der eigenen Verantwortung für das Ganze stets beim anderen sucht.
Dem stellt er das christliche Verständnis des Menschen gegenüber, der „zunächst und zuerst der Empfangende ist“, das in eine größere Wirklichkeit hineingesetzte Geschöpf und nicht primär der Schaffende oder Schöpfer seiner Welt, für die er allerdings auch Verantwortung trägt. Das schützt vor der Hybris und Überforderung des anthropologischen Optimismus und der ethischen Unterforderung einer resignativen Haltung. Der Mensch ist zugleich als Ebenbild Gottes mit unveräußerlicher Menschenwürde, Souveränität und Freiheit begabt, aber auch der fehlerhafte und in Schuld verstrickte Mensch.
Der frühere italienische Kultusminister Rocco Buttiglione, Präsident der UDC, geht in einem mitgeschnittenen Redebeitrag der Frage nach, wie die Dauerhaftigkeit und Stabilität der Demokratien gewährleistet werden kann. Für ihn ist die Verankerung der Demokratie in festen Werten ausschlaggebend, und den maßgeblichen Wert sieht er in der Idee der menschlichen Person, die in Europa in der christlichen Tradition wurzelt. Die unverfügbare Beziehung der Person zu Gott, die christliche Überzeugung, dass der Mensch seinem Wesen nach frei ist, begrenzt auf demokratieförderliche Weise den Handlungsspielraum politischer Macht und der Ideologien. Dabei ist es für ihn politisch unerheblich, ob dem Christentum eine unmittelbar religiöse oder lediglich kulturprägende Bedeutung beigemessen wird.
Dass das christliche Menschenbild Ausgangspunkt konservativen Denkens sein kann, zeigt der Mainzer Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder. Da der Mensch nicht perfektionierbar und auch nur unvollkommen in der Lange ist, seine Welt zu erfassen und zu gestalten, empfiehlt Rödder eine Politik auf Sicht als einzig vernünftige Konsequenz und Ausgangspunkt konservativen Denkens. Das führt zu einer Wertschätzung des erfahrungsgestützten Common sense, zu einer Politik, die aus der Mitte heraus und nicht von den Rändern her formuliert wird. Die Skepsis lehrt Bescheidenheit: Der Gesellschaft gebührt Vorrang vor dem Macht- und Obrigkeitsstaat und dem sozialen Fürsorgestaat. Politik kann sich um günstige Bedingungen für gelingendes Leben bemühen, ausfüllen muss sie jeder einzelne. Der Staat ist nicht der Glücksagent der Lebenszufriedenheit. Der Konservatismus sei daher seinem Wesen nach antiextremistisch und unideologisch.
II
Der zweite Teil des Bandes ist Reflexionen über die Grundwerte der CDU – Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – gewidmet. Der Staatsrechtler Prof. Dr. Paul Kirchhof widmet sich dem Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Als konservativ bezeichnet er eine dynamische, in der Kontinuität der Werte stehende Lebens- und Denkkonzeption, zu der die gleiche Würde des Menschen, die Ideen des Friedens, der Demokratie, des Sozialen, der Freiheit und des Parlamentarismus gehören. Freiheit zielt für Kirchhof auf Verantwortung, sie setzt eine innere Bindung voraus. In der den Rahmen setzenden Verfassung sieht er ein Konzentrat gewachsener Kultur.
Der frühere Ministerpräsident des Freistaat Thüringens Dieter Althaus und seine Nachfolgerin im Staatsamt und Landesvorsitz der CDU Christine Lieberknecht richten in den beiden folgenden Beiträgen den Blick auf die Wertetrias der Union und dort insbesondere auf Solidarität und Gerechtigkeit. Für Althaus wurzelt die Solidarität im Gebot der Nächstenliebe. Sie zu üben, ist zunächst eine Aufgabe des unmittelbaren Lebensbereichs, und erst danach sind der Staat und die Gemeinschaft in der Verantwortung. Zur Solidarität gehöre zwingend die Subsidiarität. Der Maßstab der Gerechtigkeit ergibt sich für den früheren Ministerpräsidenten aus der gleichen Würde jedes Menschen und ist eine Bedingung der Freiheit. Gerechtigkeit ziele auf gerechte Chancen, aber sei kein Versprechen gleicher Ergebnisse. Lieberknecht wendet den Grundwert der Gerechtigkeit zunächst auf die Familienpolitik an, die – ganz im Geist des Subsidiaritätsprinzips – nicht gerecht sein könne, wenn sie die Vielfalt der Lebensentwürfe in der Gesellschaft nicht zur Kenntnis nimmt. Für die Bildungspolitik stellt sie Chancengerechtigkeit als zentrales Postulat heraus und verweist schließlich auf die Generationengerechtigkeit mit der Haushaltskonsolidierung als einer Grundvoraussetzung.
Der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Prof. Dr. Norbert Walter, stellt heraus, dass Gerechtigkeit und Solidarität nur unter den Bedingungen einer leistungsfähigen Staats- und Marktordnung gedeihen können, die nur der Staat selbst gewährleisten kann. Diese Ordnungen lassen sich umso leichter schaffen, je klarer eine Gesellschaft einer gemeinsamen Ethik folgt, die sich aus philosophischen, religiösen oder kulturellen Quellen speist. Walter bricht aber vor allem eine Lanze für den innersten Kreis wechselseitiger Solidarität, die Familie, die wie keine andere Institution die Eigenliebe begrenze und in bedeutendem Maß das Soziale gewährleiste.
Die Personal- und Unternehmensberaterin Mechthild Löhr erinnert daran, dass die soziale Marktwirtschaft eine Ordnung ist, die gedanklich im christlichen Menschenbild und liberalen Überzeugungen verankert ist und in deren Zentrum Freiheit und soziale Verantwortung stehen. Sie leitet daraus ethische Ansprüche ab, die an diese Ordnung zu stellen sind und zu denen auch die Gemeinwohlverpflichtung der Unternehmen gehört. Löhr widmet sich dann dem Mittelstand, der, wie sie überzeugend nachweist, seiner sozialen Verantwortung im hohen Maß gerecht wird; nicht zuletzt durch die lebensweltliche Verankerung der kleinen und mittleren Betriebe.
III
Die anschließenden fünf Beiträge sind dem Zusammenhalt der Gesellschaft gewidmet. Jürgen Liminski, deutscher Journalist, Publizist, Buchautor und Vater von 10 Kindern bricht eine Lanze für die Familie. Wie er ausführt, ist sie zur Herausbildung des Humanvermögens, verstanden als umfassende Daseinskompetenz, unverzichtbar. In den Familien werden Werte vermittelt und solidarisches Verhalten eingeübt. Liminski weist auf die Zeit hin, die Familien benötigen, um stabile Beziehungen ausbilden zu können und plädiert nachdrücklich dafür, sie vor allem Familien mit kleinen Kindern zu lassen. Gute Familienpolitik lässt sich nach seiner Überzeugung durch die Ziele Leistungsgerechtigkeit und Wahlfreiheit leiten.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, setzt sich mit den Folgen antiautoritärer Pädagogik auseinander und entwirft unter der Überschrift „Mut zur Erziehung“ in zehn Anmerkungen ein Konzept zeitgemäßer Pädagogik. Dabei baut er unter anderem auf eine Renaissance der Prinzipien Arbeit und Leistung und weist auf die Bedeutung von Vorbildern hin. Kritisch setzt er sich mit der Ganztagsbetreuung auseinander. Mit Blick auf aktuelle pädagogische Diskussionen fordert er eine „Debatte um Inhalte und Werte statt um vage Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen“. Krause versteht sich als Anwalt behutsamer Weiterentwicklung. Nicht das Bewährte müsse sich vor dem Neuen, sondern das Neue vor dem Bewährten rechtfertigen.
Bundesbildungsministerin Annette Schavan reflektiert in ihrem Beitrag bleibende bildungspolitische Herausforderungen und orientiert sich dabei an der Frage, wie durch Bildung Teilhabe- und Lebenschancen verbessert werden können. Sie widmet sich dabei besonders der frühkindlichem Bildung und der dualen Berufsausbildung. Schule hat für Schavan die Aufgabe, Grundlagen zu vermitteln, auf die sie sich angesichts des schnell wachsenden Wissens konzentrieren müsse. Die Bildungsministerin will, dass sich Deutschland zur Talentschmiede entwickelt, und erwartet, dass Bildung den Heranwachsenden hilft, Antworten auf die vier von Kant formulierten Grundfragen zu finden: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch?
Der ehemalige Hörfunkchef des Mitteldeutschen Rundfunks, Johann Michael Möller, geht der Frage nach, welche Bedeutung der Heimat unter den Bedingungen der Globalisierung noch oder wieder zukommt. Nach Reflexionen über die in Teilen problematische Geschichte des Begriffs fasst Möller ihn neu als „Gegenbegriff zu einer vermachteten Gesellschaft“, der heute die totale Vermachtung durch die Ökonomie drohe. Möller entfaltet diese These im Kontext der Stichworte Migration und Integration und der Bedingungen im Web 2.0. Er sieht eine Phase „des aktiven Sich-wieder-Einbettens in eine Welt natürlicher, sozialer und kultureller Bindungen“ heraufziehen.
Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Horst Möller, stellt in seinem Beitrag offene und geschlossene Geschichtsbilder gegenüber. Da Erinnerung immer Rekonstruktion ist und ihre Interpretation nach Generationen und Orten schwankt, wendet sich Möller dagegen, Geschichtsbilder in „zwangsneurotischen Geschichtstheorien“ zu zementieren. Nur eine offene Geschichtskultur ist für den Wissenschaftler eine demokratische Geschichtskultur, die einzig in der Lage ist, das Humane offen zu halten. Der Historiker wendet sich dagegen, Themen zu tabuisieren, weil dies nur der Legendenbildung Vorschub leiste.
Der Staatsrechtler und Staatsphilosoph Prof. Dr. Josef Isensee befasst sich mit den Bedingungen gelingender Integration in Deutschland und skizziert dazu die Herausforderungen im Bereich der Schulpolitik, des Staatsangehörigkeitsrechts, der Rechtskultur und des Staates als Solidargemeinschaft. Er warnt davor, kulturelle Unterschiede zu tabuisieren und bezeichnet den Staat als das Gehäuse einer bestimmten Kultur, selbst wenn diese sich nicht in nationale Grenzen einschließen lasse. Der Staat, bis hin zur Interpretation der Verfassung, ist für Isensee von dieser Kultur abhängig. Den Deutschen wünscht er eine Zukunft jenseits von Größenwahn und Kleinmut.
Ist die Integrationspolitik eine der zentralen Herausforderungen für die Zukunft, so ist eine andere – mit erheblichen Schnittmengen zur Integration der Gesellschaft – in der demographischen Entwicklung zu sehen. Ihren Folgen widmet sich unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit Prof. Dr. Kurt Biedenkopf. Der frühere sächsische Ministerpräsident fordert von der Politik „enkeltaugliche“ Entscheidungen. Eine Forderung, die für Biedenkopf die Sozialsysteme, die Umweltpolitik, die Schwerpunkte in den öffentlichen Haushalte, aber auch das Wertegerüst des Staates und der Gesellschaft betrifft. Vehement plädiert er dafür, Entwicklungen, die aus dem Ruder gelaufen sind, wieder einzufangen und zu begrenzen – und prophezeit dem demokratisch organisierten Gemeinwesen den Untergang, sollte dies nicht gelingen. Zentraler Hebel ist für ihn der unlösbare Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung, der sich zuerst in den kleinen Lebenskreisen bewährt und nicht aufgelöst werden darf.
An die zentralen Gesichtspunkte der umfassend verstandenen Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit knüpft der frühere bayerische Landtagspräsident Alois Glück an. Er bestimmt längerfristiges Denken als Kern konservativen Denkens und fragt nach einer zukunftsfähigen Kultur, nach Leitbildern für ein gutes Leben, die sich von unserer nach seiner Überzeugung nicht zukunftsfähigen Lebensweise unterscheiden. Er führt dazu aus, was er unter einer Kultur der Verantwortung, zeitgemäßer Bürgerlichkeit und langfristiger Zukunftsverantwortung versteht. Das Subsidiaritätsprinzip ist für Glück dabei Verantwortungs- und Strukturprinzip gleichermaßen.
IV
Bleibt zum Schluss zu fragen: Was haben drei Jahre intensiver Diskussionen über den Begriff des Konservativen und die Einbindung des Begriffs in das Gefüge der drei Strömungen für unserSelbstverständnis beigetragen? Vieles: Ein zeitgemäßer, moderner Konservatismus ist eben nicht die Sehnsucht nach alten, vermeintlich besseren Zeiten. Er klebt nicht einfach aus Prinzip an dem, was gerade ist, denn er würde mit jeder Reform widerlegt. Er ist auch kein System aus Dogmen, denn dann wäre er Ideologie, was er am allerwenigsten ist. Konservatismus, so zeigt sich, ist vielmehr ein Denkstil, der auf unserem christlichen Menschenbild aufbaut. Einem Menschenbild, das das Entwurfsvermögen jedes Einzelnen in den Vordergrund stellt und das dem Staat die ihm gebührende Rolle zuweist.
Für uns ist dieses, durch die Menschenwürde und die Grundrechte unseres Grundgesetzes geschützte Menschenbild das Christliche, in dem der Mensch als Ebenbild Gottes gedacht wird, dem deshalb unveräußerliche Menschenwürde zukommt. Zu diesem Menschenbild gehört die Freiheit. Ein Mensch, der wie eine Marionette an den Fäden Gottes hängt, widerspricht christlichem Denken. Der Mensch lebt unter dem Zuspruch des Evangeliums, aber auch unter einem Anspruch, dem er nur als freie Persönlichkeit gerecht werden kann. Er hat den Auftrag, die Welt zu gestalten. Gestalten heißt, Verantwortung zu tragen. Freiheit verwirklicht sich in der selbst gewählten Bindung und Verantwortung. Nach christlichem Verständnis ist der Mensch zugleich auf den Nächsten hin orientiert, mit dem er in gleicher Würde verbunden ist. Deshalb gehören Solidarität und Gerechtigkeit zum christlichen Menschenbild.
Zum Menschsein gehören Grenzen, nicht zuletzt ganz grundsätzliche Grenzen der Erkenntnis, bei allem Forschertrieb, der uns eigen ist. Zu diesen Grenzen gehören aber auch jene, die uns durch unsere Abhängigkeit von Kultur und Geschichte gesetzt sind. Auch wenn wir versuchen, sie zu überwinden und wenn es ohne diese Versuche keinen Fortschritt gäbe, wissen wir doch: Wir stehen auf den Schultern unserer Vorfahren und werden in einen kulturellen Kontext hineingeboren, der schon da ist. Er ist nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes. Wir können uns nicht an jedem Ort und zu jeder Zeit neu erfinden, und größere oder kleinere Gemeinwesen können das schon gar nicht.
Daraus folgt dreierlei: Zunächst das Denken in längeren Linien und Generationen. Die Neigung zur historischen Orientierung vor dem nächsten Schritt in die Zukunft und das Bemühen, immer im Blick zu haben, wie sich Entscheidungen, die wir heute fällen, auf Kinder und Enkel auswirken. Nachhaltigkeit ist ein zutiefst konservatives Prinzip. Dazu gehört zweitens eine skeptische Grundhaltung. Der Optimismus, alles wird besser, wenn es nur anders wird, ist nicht konservativ. Konservative wollen Bewährtes bewahren und fahren politisch auf Sicht. Daraus ergibt sich schließlich ein Standpunkt zur Frage der Beweislast. Sie liegt zunächst bei dem, der Neues einführen will.
Durch die Beiträge zu diesem Band zieht sich die Wertschätzung für die personale Verantwortung, die sich in den kleinen Lebenskreisen unmittelbar erleben, lernen und praktizieren lässt. Im sozialen Nahraum und dem näheren Umfeld lässt sich Verantwortung nicht wegdelegieren. Dort ist der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung kein abstraktes Prinzip, sondern konkret. Er verflüchtigt sich, wenn der Bezugspunkt der Verantwortung in abstrakte Höhen entschwindet. Die kleinen und größeren Gemeinschaften in der Gesellschaft, angefangen von der Familie, sind Orte der Eigenständigkeit und des Eigensinns, die den Einzelnen auch vor Vereinnahmung schützen, ihm Halt und Orientierung geben.
Dem Schutz dieser Gemeinschaften dient das Subsidiaritätsprinzip, nach dem nicht nur die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ins Verhältnis zueinander gesetzt, sondern eben auch die Zuständigkeiten geordnet werden: Vorfahrt für die jeweils kleinere und basisnähere Einheit, der die nächst höhere Ebene hilfreicher Beistand, aber nicht Vormund zu sein hat. In diesem Punkt zeigt sich die größte Differenz zu den unterschiedlichen linken politischen Richtungen, die in Eigensinn und Eigenständigkeit der kleinen Lebenskreise als Sand im Getriebe ihrer Gesellschaftsentwürfe betrachten. Erst recht sind Konservative daher resistent gegen ideologische Großfeldversuche, die versprechen, die beste aller Gesellschaften zu errichten und glauben, deshalb buchstäblich über Leichen gehen zu dürfen.
Konsequenzen hat die Kulturabhängigkeit des Menschen über den engeren Lebenskreis hinaus. Tradierte Werte, Sprache, Religion, intellektuelle Traditionen und institutionelle Arrangements geben den Menschen Orientierung und Halt. Je mehr selbstverständlich ist und nicht immer wieder neu verhandelt werden muss, desto reibungsloser und leistungsfähiger ist ein Gemeinwesen. Konservative werden immer versuchen, diese lebenspraktischen Orientierungspunkte und Halteseile in allem Wandel zu erhalten oder neu zu verknüpfen. Das schließt die Wertschätzung der Heimat und der Beheimatung, des demokratischen Verfassungsstaates und der Nation als Herkunfts-, Willens- und Zukunftsgemeinschaft ein. Sie ist zuletzt im gewandelten revolutionären Ruf „Wir sind ein Volk“ und im Echo einer inzwischen zwanzig Jahre währenden innerdeutschen Solidarität eindrucksvoll bestätigt worden. Diese Nation muss offen und anschlussfähig sein, ihre emotionalen Potentiale gilt es zur Integration des immer heterogener werdenden Landes zu nutzen.
Garant der Freiheit ist in Deutschland der demokratische Staat des Grundgesetzes, der die Ordnungen garantiert, in denen Wirtschaft und Gesellschaft sich entfalten können und sollen. Er hat sich in mehr als 60 Jahren bewährt. Seine Leistungsfähigkeit und die politische Kultur zu erhalten, auf der er fußt, ist eine der zentralen Aufgaben, die Bürger und Politik nur gemeinsam erfüllen können und müssen. Er muss vor Überforderung geschützt werden, um leistungsfähig bleiben zu können. Gerade für den Staat gilt das Gebot der Begrenzung. Und er muss seine Gestaltungskraft in der europäischen Integration wahren, die Teil der deutschen Staatsraison ist.
Dass dies alles keine folgenlosen Erwägungen sind, zeigt ein Beitrag der vier CDU-Landtagsfraktionsvorsitzenden von Brandenburg, Hessen, Sachsen und Thüringen, der im Januar 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht wurde.[1] Dort heißt es: „Wir müssen unsere Wähler auf der Grundlage einer erkennbaren christlichen Orientierung mit Botschaften zur Leitkultur, zur Bedeutung von Bindung und Freiheit, zur Familie, zum Lebensschutz und zum Patriotismus ansprechen.“ Auf dieser Grundlage lassen sich klare politische Botschaften definieren, die – wie eingangs festgestellt – genau jene Wählerschichten zu vermissen scheinen, die es bei vergangenen Wahlgängen vorzogen, ihr Recht zur Stimmabgabe nicht wahrzunehmen. Es geht demnach darum nachhaltige Politik zu gestalten: Wir brauchen einen Staat, der eben nicht Vergangenes einfach nur verwaltet, sondern in der Gestaltung des Heute auch das Morgen mit bedenkt.
Das Motto des FAS-Beitrags bringt auch das Anliegen dieses Bandes auf den Punkt: „Mehr Profil wagen“, heißt eben auch, den konservativen Blickwinkel auf den politischen Alltag nicht zu verleugnen. Der Band will Konservative dazu ermutigen, ihren Standpunkt offensiv in die Waagschale zu legen. Gleichzeitig will dieser Band aber auch Vertreter der christlich-sozialen und der liberalen Strömung einladen, einmal die Perspektive zu wechseln, Sachverhalte und Grundsätze in einem anderen Licht zu betrachten. Viele werden dabei feststellen, dass sich der eine Blickwinkel niemals eindeutig von dem anderen trennen lässt. Das gesamte Spektrum der Unionspolitik erinnert an den Blick in ein Kaleidoskop: Das Christlich-Soziale, das Liberale und das Konservative sind die Facetten, die zusammenwirken und je nach Blickwinkel in anderem Licht erscheinen, – aber erst gemeinsam ergeben sie das ganze Bild.
[1] Christean Wagner (Hessen), Saskia Ludwig (Brandenburg), Steffen Flath (Sachsen), Mike Mohring (Thüringen), Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, „Mehr Profil wagen!“, vom 10.1.2010.
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