Freiheit und Gemeinschaft

Ein deutliches Zeichen für die zunehmende Infantilisierung der deutschen Gesellschaft ist die überall zu beobachtende Tatsache, dass ein völlig falscher, nämlich infantiler Freiheitsbegriff immer weiter um sich greift. Eine willkürliche Auswahl: Beim Abbiegen nicht zu blinken oder bei Rot über die Ampel zu gehen, ist Freiheit, brüllende Säuglinge in Cafés mitzunehmen, ist Freiheit, keine Steuern zu zahlen, ist Freiheit, überhaupt alle, auch sinnvolle Regelungen und Rücksichtnahmen, die nicht umgehend sanktioniert werden, zu umgehen, ist Freiheit. Die eigentlich begrüßenswerte Abschaffung der Wehrpflicht, aber auch die Suspendierung einer sozialen Ersatztätigkeit hat die letzte gemeinschaftsbildende Aufgabe beseitigt, die Menschen unterschiedlicher Schichten zusammenführte, die sich sonst nie getroffen hätten, oder Menschen zu einer Arbeit genötigt hat, die nicht nur eigenen Interessen dient. Die Vereinzelung hat extreme Ausmaße erreicht, die Bereitschaft, einer verpflichtenden Gruppe anzugehören, ist gesunken. Dann wiederum hat der Mensch das Bedürfnis nach Nähe, nach Gemeinschaft: Man schaue sich nur die vollen Fußballstadien an. Wie geht das zusammen?
Eine – bei der Eröffnung der Ausstellung zum 40. Geburtstag des Stroemfeld-Verlags in Frankfurt ernst oder schalkhaft vorgebrachte – These des Kulturforschers Klaus Theweleit lautete, man könne eigentlich richtig nur derjenigen Gemeinschaft angehören, der man beigetreten ist. Das bedeutet die Ablehnung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, in die man hineingeboren, das ist die Herkunftsgemeinschaft, oder aber hineingezwungen wurde, also der Zwangsgemeinschaft. Theweleit betonte damit die Freiwilligkeit des Beitritts, mehr noch die bewusste Entscheidung, einer bestimmten Gemeinschaft beizutreten. Diese voluntaristische These ist ganz auf der ideellen Linie der freien, selbstverantwortlichen, emanzipierten Persönlichkeit, wie sie der Aufklärung entstammt und im 68er Linksrepublikanismus dann tatsächlich zum Leitbild wurde.
Was aber ist mit Gemeinschaften, denen man angehört, ohne dass man etwas dafür kann? Das Sprichwort: „Freunde kannst du dir aussuchen, Familie nicht“ deutet schon auf dieses Dilemma. Zur Familie gesellt sich das Volk und die Nation, dann auch die Menschheit. Nicht zu vergessen das Geschlecht. Aber bereits das Konzept des sozialen Geschlechts und die medizinische Behandlung der Transsexualität zeigen, dass der Ausbruch nicht nur aus dieser angeborenen Gemeinschaft voll im Gange ist. Auch die Familie wird immer häufiger als Fessel empfunden, was sich im Ersatz der traditionellen durch die Patchwork-Familie und gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit adoptierten Kindern zeigt. Die sicherlich kommenden Versuche zur Planung von Designerkindern und das Klonen gehören ebenfalls in diesen Kontext. (Leider wird es hier auf lange Sicht noch eine Asymmetrie geben: Die Kinder werden sich ihre Eltern oder Hersteller nicht aussuchen können.) Schließlich steht der Nation das Konzept des Kosmopoliten gegenüber, der heute ein jeder sein will, und auch die Zugehörigkeit zur Menschheit hat keine unüberwindliche Grenze mehr. Die mythologischen Mischwesen der alten Griechen dürften in näherer Zukunft in den Bereich des technologisch Möglichen kommen. Aus dem voluntaristischen Traum ist im Westen mehr und mehr Realität geworden.
Ambivalent an der eingangs genannten These ist, dass einerseits Gemeinschaft entschieden abgelehnt wird, solange sie nicht völlig autonom gewählt wurde, aber andererseits eine große Sehnsucht nach Gemeinschaft durchscheint, der man gerne beitreten möchte. Also ist zwischen Gemeinschaften zu differenzieren. Ferner besteht eine erhebliche Spannung zwischen dem autonomen, unabhängigen und freien Individuum und der Gemeinschaft, die dieses ihm, und sei es freiwillig und voll bewusst, beigetretene Individuum objektiv wieder weniger autonom, weniger unabhängig und weniger frei macht. Welche Gemeinschaft soll es demnach sein?
Der moderne westliche Mensch möchte sich die Gemeinschaft, der er beitritt, am liebsten „backen“, sie möglichst auf sich persönlich zuschneiden. Es soll eine Gemeinschaft sein, die ihn nicht oder sowenig als möglich oder wenigstens lediglich in freiwillig toleriertem Maße einschränkt solange, bis es ihm zuviel wird und er die Gemeinschaft wieder freiwillig verlässt, was die Gemeinschaft natürlich auch erlauben sollte. Daher die Parzellierung der heutigen Gesellschaft. Mit diesem Konzept können nur noch mikroskopisch kleine Gemeinschaften aus Individuen, die sich hinsichtlich ihrer Auffassung von den Inhalten der jeweiligen Gemeinschaft am besten gar nicht unterscheiden, entstehen. Das fängt beim Fernsehprogramm an, das aus Tausenden von Programmen besteht, für fast buchstäblich jeden eines; es setzt sich fort bei den spirituellen Bedürfnissen der Leute, die sich Mischreligionen aus allem, was ihnen zusagt, zuwenden, oder andersherum gesprochen alles, was sie stört, verwerfen. Für die politischen Parteien müßte das auf mittlere Sicht bedeuten, dass es Dutzende kleiner Splitterungen um die 5-Prozent-Marke geben wird, die nur noch marginale Bedeutung haben. Übergreifende gesellschaftliche Bewegungen erscheinen so unmöglich.
Eine andere Möglichkeit ist es, dass die Gemeinschaften nur mehr ideelle sind, bei denen man sich nicht in die Quere kommt. Der Beitritt zur Gemeinschaft der Techno-Fans ist ein Beispiel: Man kann ganze Nächte in Clubs vertanzen oder bei Loveparades mit Millionen Teilnehmern mitmachen, ohne dass man allzu viel Kontakt zu den anderen haben müsste. Oder Facebook als übergreifende Plattform für multiple Kleinstgemeinschaften, deren reale Grundlage gering ist, auf jeden Fall unverbindlich genug. Dies sind immerhin noch echte Gemeinschaften; imaginäre Zugehörigkeiten (Theweleit wähnte den schwarzen Musikern, dem amerikanischen Film und dem Judentum beigetreten zu sein) sind dagegen schon komplett eskapistisch.
Die Gemeinschaften, deren Regeln verbindlich sind und denen sich auch der moderne Mensch ziemlich bedingungslos unterwirft, dürften im Westen mit Geld zu tun haben, also mit Kauf und Verkauf im weitesten Sinne bzw. dem Arbeitgeber und seinem Unternehmen identisch sein. Diese Gemeinschaften waren und sind erfolgreich (unter welchen Opfern in von ihr abhängigen anderen Gemeinschaften, sei einmal dahingestellt); aber sind wir alle ihnen freiwillig und bewusst beigetreten, oder sind wir in sie hineingeboren? Wie dem auch sei: Die Gemeinschaften des Geldes geben uns auf jeden Fall die Möglichkeit des Austritts in die Armut. Attraktiv sind sie auf jeden Fall, wie die Migrationsbewegungen zeigen. Notwendig sicher auch – aber in dieser Ausschließlichkeit?
Die gesellschaftliche Zersplitterung (positiver ausgedrückt: Differenzierung) ist ein Zeichen für die maximale Vereinzelung in der westlichen Kultur. Ganz sicher auch für ein extremes Maß an individueller Freiheit. Ist sie auch ein Zeichen der Stärke? Der moderne Mensch hat sich im 20. Jahrhundert zwei kollektivistischen Ideologien unterworfen, ist in vorgeblichen Zwangsgemeinschaften aufgegangen, meistens oder zu bestimmten historischen Zeitpunkten aber wahrscheinlich sogar freiwillig. (Waren demnach diese Gemeinschaften im Theweleitschen Sinne doch frei und bewusst gewählte, mithin echte? Imaginär waren sie jedenfalls nicht.) Beide Ideologien sind nach entsetzlichen Opfern 1945 bzw. 1989 untergegangen, und die freiheitliche Kultur ist siegreich geblieben. Beide totalitäre Ideologien haben sich selbst als idealistische, ja sogar freiheitliche dargestellt. Es ist aber ja nicht so, dass die westliche Kultur neben dem Geld heute keine ideellen Werte hätte – sie hat jede Menge, überspitzt gesagt so viele, wie sie Individuen hat, aber eben keine übergreifend verbindlichen mehr.
Die 1945 siegreichen freiheitlichen Kulturen – es waren im wesentlichen die angelsächsischen – hatten einen wehrhaften Begriff von Freiheit. Ich rede jetzt nicht von zum Beispiel den imperialistischen Motiven, die bei den USA eine Rolle bei den Kriegszielen gespielt haben, ich rede nur von der Fähigkeit der Demokratien, ihre freie Bevölkerung zu beispiellosen Anstrengungen und Opfern zu bewegen. Das ist nicht selbstverständlich. Das bedurfte einer gemeinsamen Überzeugung, der Anerkennung einer Herkunftsgemeinschaft, von deren Wert man überzeugt war (Freiheit, Demokratie) und der Einsicht in die Notwendigkeit einer Zwangsgemeinschaft – Wehrhaftigkeit bedeutet Zwang. Ich wage nicht mehr, die Freiheit als übergeordnetes Ideal des heutigen Westens zu bezeichnen. Der Sieg über den Kommunismus 1989/90 war schon überwiegend ein Sieg des Geldes: Die Sowjetunion ist mit teueren Raketenprogrammen totgerüstet worden; der Spruch der demonstrierenden DDR-Bürger, wenn die D-Mark nicht zu ihnen komme, gingen sie eben zur D-Mark, spricht in dieser Hinsicht Bände. Das war das Motivans, Wir-sind-ein-Volk zu rufen. Die Freiheit, die mit dem Sieg des Geldes kam, war die Dreingabe – immerhin, eine sehr gute Dreingabe.
Das entscheidende Problem beim heutigen westlichen Freiheitsbegriff scheint mir gerade das zu sein, dass das autonome, unabhängige und freie Individuum eine Gemeinschaft tatsächlich als solche nur anerkennt, wenn es ihr beigetreten ist. Aus dem voluntaristischen Schalk ist bitterer Ernst geworden. Völlig egal, ob reale Gemeinschaft, ideelle oder imaginäre: Wenn es unangenehm wird, tritt das Individuum aus. Oder erst gar nicht ein, wenn es rechtzeitig erkannt hat, dass etwas unangenehm werden könnte. Eine solche Gemeinschaft ist instabil und letztlich wehrlos. Die ganzen mikroskopischen Beitrittsgemeinschaften der heutigen westlichen Kultur sind Schönwettergemeinschaften, der Freiheitsbegriff ist infantil regrediert. Ob das der Freiheitsbegriff ist, den beispielsweise Schiller oder all die liberalen Kämpfer von 1848 hatten, die letztlich das Fundament für unsere heutige Freiheit gelegt haben, bezweifele ich.
Auch heute gibt es kollektivistische Gemeinschaften, die, wieder erstarkt, gerade die Unterwerfung des Menschen unter ein strenges Gesetz fordern. Die Gesellschaften und Gemeinschaften geschaffen haben, die einen hohen Grad an Gleichschaltung ihrer Mitglieder aufweisen. In die man hineingeboren ist und aus denen man nicht austreten kann. Dass dieses nicht nur toleriert, sondern ganz im Gegenteil auch angepriesen wird, zeigt, dass der Reiz eines Lebens, in dem Vorschriften den Weg bahnen, in dem Verantwortung vom Einzelnen abgenommen wird, sehr groß sein kann. Verantwortungslosigkeit wird als Freiheit empfunden. Ich vermute, dass genau diese Bequemlichkeit auch ein Grund für den Erfolg der totalitären Gemeinschaften im 20. Jahrhundert war.
Adolf Muschg hat in einem großartigen Essay mit dem Titel „Schiller: Die Tragödie der Freiheit“ festgestellt: „Schiller ist der große Freiheitsdichter deutscher Zunge. […] Sein priesterliches Pathos tönt uns falsch, weil wir den Glauben an die Freiheit verloren haben. Er steht am Anfang, wir am Ende der Epoche, die an die Freiheit glaubte – dies vor allem trennt uns von ihm.“ Und fährt fort: „Die Freiheit erwies sich für die Völker als zu schwer. So, wie er sie versteht, wurde sie in keinem Staat verwirklicht, aber auch die Freiheit, deren sich das Bürgertum im neunzehnten Jahrhundert erfreute, existiert ja heute nirgends mehr. […] Es haben sich überall neue Machtfaktoren gebildet, die […] undurchsichtige neue Formen der Sklaverei erzeugen, vor denen sich unsere liberalen Vorfahren bekreuzigt hätten. […] Die heutige Menschheit weiß nicht mehr, was Freiheit ist, und sie will sie auch nicht mehr. Sie will die Bequemlichkeit, den mühelosen Lebensgenuß um den Preis des bürokratischen Zwangs, den sie willig zahlt. Der Wille zur Freiheit ist durch die Sehnsucht nach Unfreiheit […] abgelöst worden. […] Der Überdruß an der Freiheit schlägt in das Schauspiel um, dass ein ganzes Volk sich begeistert der Despotie ausliefert, wenn man sie ihm als die zeitgemäße Form der Freiheit anpreist.“
Nachdem Schiller die Lügen durchschaute, die mit der politischen Durchsetzung der Freiheit verbunden sein konnten, wurde sie für ihn weniger ein politisches als ein geistiges Problem. Sie ist für ihn ein Akt der Vernunft gegen die Natur, Selbstbestimmung durch die Kraft der Vernunft, die sich der blinden Natur entgegenstemmt. Ob die Beliebigkeit, der Relativismus, die Flüchtigkeit der Beitrittsgemeinschaften Scheinfreiheiten sind, die Schiller als Lügen durchschaut hätte, scheint mir evident; ob diese Flucht des heutigen westlichen Menschen aus jeglicher verantwortlichen Bindung außer der zu den Gemeinschaften des Geldes ein Akt der Vernunft gegen die Natur ist, bezweifele ich. Es handelt sich um Scheinfreiheiten, die von den Zwängen ablenken sollen, von denen Muschg spricht, um Ersatzfreiheiten, die wie Brot und Spiele betäuben sollen, nur um die echte Freiheit, die doch wohl eine Einsicht in die Notwendigkeit mancher Bindungen aus Herkunft und Zwang ist, unnötig erscheinen zu lassen.
Mein Eindruck ist der, dass diese Schönwettergemeinschaften so lange funktionieren werden, als Geld und Wohlstand da sind. Sie sind ein gesellschaftlicher Luxus, der wie jeder Luxus viele interessanten und schönen Seiten hat. Vielleicht sollte man selber wünschen, dass die freie und bewusste, dafür aber beliebige und verantwortungslose Beitrittsmöglichkeit zu diesen Wunschgemeinschaften uns noch lange erhalten bleiben möge. Was unsere echten Probleme angeht, leben wir nämlich, wenn wir uns den Rest der Welt anschauen, in einer Art irrealen Paradieses. Wenn irgendwann eine Krise kommt, die dann nicht mehr wird behoben werden können, wenn Geld und Wohlstand „den Bach ’runter gehen“, wenn die einzigen übergreifenden Gemeinschaften, die des Geldes, also keinen verbindlichen Halt mehr geben, dann wird sich gegenüber Bedrohungen von außen die Frage der echten Freiheit neu stellen. Es hätte dann einer tragfähigeren gemeinsamen Überzeugung bedurft. Die Befürworter der Schönwettergemeinschaft werden aus der bedrohten Gemeinschaft aus- und in die opportune Gemeinschaft eintreten. Vielleicht genügt aber auch eine Bedrohung von innen, ein Überdruss an der Scheinfreiheit der Schönwettergemeinschaften, um bequemen Despotien wieder eine Chance zu geben. Man konnte auch im Kommunismus oder Nationalsozialismus gut leben, wenn man Kommunist oder Nationalsozialist war – ist man eben diesen Gemeinschaften beigetreten und war „frei“. Auch unter den Koranschülern Pakistans, die den arabischen Koran auswendig lernen, ohne ihn zu verstehen, und unter der Burka mag es eine solche Form von „Freiheit“ geben.
Der Kampf um die Freiheit ist ein dauernder, und ihrer völlig gewiss kann wohl niemand sein. Freiheit ist das „Schwerste, die strengste Forderung des Menschen an sich selbst“, wie Muschg schreibt, ein Fluch und eine Last, aber eben auch eine Chance, die nie etwas „ein für allemal Gegebenes ist, sondern nur als geistige Forderung lebendig bleiben kann.“ Kann man also nur derjenigen Gemeinschaft angehören, der man beigetreten ist? Die Freiheit zu dieser Option sollte immer erhalten bleiben, aber die erwachsene Verantwortung für das Ganze, das diese Freiheit gewährt, sollte vernünftigerweise nicht vergessen werden.

Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung eines im Buch des Verfassers mit dem Titel „Deutsche Befindlichkeiten“ beim Verlag Die blaue Eule erschienenen Textes.

Finanzen

Über Adorján F. Kovács 37 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.