Konservative Manifeste sind derzeit en vogue, ob von der WerteUnion oder von Publizisten aus dem konservativ-liberalen Lager. Ihnen allen gemein ist ein Gegenentwurf zum vorherrschenden Mainstream wie ihn deutsche Medien und die grüne Zeitgeistkultur zelebrieren. Gemein bleibt ihnen, dass sie allesamt weder den Geist des Antiliberalen, Reaktionären, des Ressentiments, des Nationalen samt seiner grauenhaften Maske aus Nationalismus und Antisemitismus wieder aufatmen lassen oder gar beschwören, sondern vielmehr im Gebot der Toleranz, sich „gegen linke und rechte Ideologien” manifestieren.
Die abendländische Kultur ist auch eine Geschichte von Manifesten, sei es in der Literatur oder in der Politik. Keines aber war weltverändernder als Marx’ und Engels „Manifest der Kommunistischen Partei“. Mit ihm schlug die Geburtsstunde des global fundierten Sozialismus als Sozialexperiment der Extraklasse – doch seine Engstirnigkeit kostete Millionen das Leben. Während im Reich der Mitte und in Nordkorea die alten Zöpfe aus vergangen Tagen noch zelebriert werden und für Massenverelendung und Zwangskollektivierung stehen, zeigt sich im Europa nach der Aufklärung und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein anderes Bild. Der berühmt-berüchtigte Marsch durch die Institutionen, der vor 50 Jahren seinen Siegeszug feierte, ist in die Jahre gekommen. Linke Ideologien haben an Wert verloren, zu tief sitzen die Wunden der sozialistischen Experimente, der inkludierten Beton-Ideologie, der Vergesellschaftung des Individuums und der Zwangskollektivierung. Selbst die Links-Ausrichtung der CDU unter der Merkel-Ära stößt zunehmend auf Ablehnung. Das temperierte Wohlfühlklima des Mitte-Kurses, der Wertverfall, der Kulturpessimismus, die Laissez-faire-Politik in der Migrationsfrage und die säkulare Verlagerung des Religiösen in den Bannkreis der reinen Vernunft bewirkt keinen Zauber mehr und hat jedwede Strahlkraft verloren.
Die neue Sehnsucht nach den alten Werten
Anstelle von Multi-Kulti, tugendloser Freizügigkeit, antiautoritärer Gesinnung und Gender-Irrsinn ist hingegen das Konservative auf dem Vormarsch, aber eben nicht als antiliberales, antidemokratisches und antiegalitäres, sondern als „konservative Revolution“ im Sinne von Hugo von Hofmannsthal. Der Literat träumte bereits 1927 in seiner Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ von einem Transformationsprozess, der die ganze Gesellschaft umgreift, mit dem Ziel, „eine neue deutsche Wirklichkeit” zu schaffen, an der die ganze Nation teilnehmen könne.“ Schon damals beklagte Hofmannsthal, dass die „produktiven Geisteskräfte“ in Deutschland zerrissen sind, der Begriff der geistigen Tradition kaum anerkannt sei. Und Thomas Mann betonte, bevor er sich von der „konservativen Revolution“ verabschiedete, weil er darin das Aufflammen des Nationalsozialismus sah: „Denn Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war von Anbeginn, schon in den ‚Unzeitgemäßen Betrachtungen‘, nichts anderes als konservative Revolution.“
Was bedeutet konservativ?
Konservativ ist diese Revolution, weil sie die Moderne als krisenhaft empfindet und eine gesellschaftliche Modernisierung aus dem Geist der abendländischen Geistestradition sucht, nicht um die Moderne zu destruieren, sondern um diese mit alten Tugenden und Werten neu zu beleben. „Zukunft braucht Herkunft“ hatte Odo Marquard in einem berühmten Essay einst geschrieben. Und bereits im Jahr 1932 charakterisierte Edgar Julius Jung die konservative Revolution als die „Wiedereinsetzung aller jener elementaren Gesetze und Werte, ohne welche der Mensch den Zusammenhang mit der Natur und mit Gott verliert und keine wahre Ordnung aufbauen kann. An Stelle der Gleichheit tritt die innere Wertigkeit, an Stelle der sozialen Gesinnung der gerechte Einbau in die gestufte Gesellschaft.“ Dass die konservative Revolution nicht nur bewahren will, sondern konstruktiv und konstitutiv für eine Veränderung der Gesellschaft wirbt und anstatt nur auf Tradiertem vielmehr auf neue „lebendige Werte“ setzt, hatte Arthur Moeller van den Bruck herausgearbeitet. „Der konservative Mensch […] sucht heute wieder die Stelle, die Anfang ist. Er ist jetzt notwendiger Erhalter und Empörer zugleich. Er wirft die Frage auf: was ist erhaltenswert?“ Aber dieses zu Erhaltende ist nach Moeller van den Bruck erst noch zu schaffen, denn konservativ sei, „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt.“
Die neue Bürgerlichkeit
Dass der Geist des Konservativen keineswegs eine unzeitgemäße Betrachtung ist, zeigte ein Gastbeitrag von Alexander Dobrindt Anfang 2018. Dort bediente sich der CSU-Fraktionschef des Begriffes „konservative Revolution“ und forderte die Stärkung einer neuen Bürgerlichkeit. Obwohl es „keine linke Republik und keine linke Mehrheit in Deutschland“ mehr gebe, so kritisierte er, beherrschten die linken 68er immer noch die Debatte. Auf einen maroden Linksruck, „auf die linke Revolution der Eliten“, müsse nunmehr eine „konservative Revolution der Bürger“ folgen.
Joachim Gauck und das Prinzip Toleranz
So sieht es nicht nur Dobrindt, so sehen es viele, die erschöpft vom linken Kulturkampf sind – auch der der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck. In seinem neuen Buch „Toleranz“ heißt es dann auch: „In unserer politischen Landschaft und in unserem politischen Diskurs ist es zu einer Unwucht gekommen. Als inakzeptabel rechts werden gemeinhin schon diejenigen apostrophiert, die nicht anderes wollen, als an dem festhalten, was ihnen vertraut und bekannt ist: Konservative, die Gesetze über Abtreibung und die ‚Ehe für Alle‘ am liebsten rückgängig machen würden und das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ablehnen. Menschen, die darauf verweisen, dass schwere Straftaten bei Teilen von Migranten überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten sind. Als inakzeptabel rechts gilt häufig schon, wer zu seiner Heimat eine besondere Verbundenheit empfindet und am Nationalstaat hängt.“ Gauck verwehrt sich in aller Radikalität gegen einen derartigen politischen Diskurs, der die Gleichung von konservativ und rechtsradikal, rassistisch oder nationalsozialistisch aufmacht. Denn wer sich zu Heimat und Nationalstaat bekennt, der dezidiert Konservative also, bleibt einer, der im Unterschied zum Radikalen, sei es zum islamischen Fundamentalisten, Links- sowie Rechtsextremisten, die Extreme meidet. Sein Weltbild ist nicht manichäisch auf Spaltung und Polarisierung angelegt, er hinterfragt nur kritisch, ob der Multikulturalismus tatsächlich alternativlos sei, ob er nicht zu viel Naivität und Toleranz gegenüber Intoleranten trägt, ob man fremde Kulturen, Sitten und Religionen tatsächlich ein- und ausschließlich nur als bereichernd definieren vermag, ob durch einen zügellosen Fortschritt das Gute befördert und das Schlechte gemieden wird. Wer hier Geltungsansprüche präferiert, indem er das Eigene zugunsten des Fremden, oder auch umgekehrt, verabsolutiert, gerät in Schieflage. Während der konservative Patriot also abwägt, reflektiert, Tradiertes und Modernes, so, wie es Andreas Rödder fordert, in Einklang zu bringen sucht, um den Wandel verträglich zu gestalten, Bewährtes zu bewahren und Reformbedürftiges zu verbessern, der sucht nur nach dem besseren Argument, nach dem Maß wie einst Aristoteles forderte, oder wie es Robert Spaemann formulierte: dass der die Begründungspflicht trägt, der Tradiertes in Frage stellt.
Freiheit statt Nannystaat
Toleranz des Konservativen und umgekehrt gegenüber demselben bleibt so eine Zumutung, ein Korrektiv, das zu Versöhnung aufruft. In genau diesem Sinne votiert auch der Alt-Bundespräsident, dafür, dass es verantwortungslos sei, wenn Fortschrittsideologen den Konservativen, statt ihn als Verbündeten im Kampf gegen Rechtsextremismus zu sehen gleich mit zum Feind erklären. Genau dies widerspricht Gaucks Credo, Toleranz nicht nur als Tugend, sondern eben als Gebot der politisch-praktischen Vernunft zu begreifen. Gauck hält wie Norbert Bolz nichts vom Nannystaat samt Identitätspolitik, die statt zu versöhnen nur spaltet. Denn wem politische Korrektheit zur allumfassenden und absoluten Maxime politischer Verantwortlichkeit wird, errichtet eine neue Diktatur, sei es eine grüne „Tugendrepublik“ oder eben jenen modernen Paternalismus, der die Freiheit des Einzelnen aufs Spiel setzt, Erich Fromms „Furcht vor der Freiheit“ geradezu kultiviert. Denn durch diesen Bemutterungskomplex werden destruktive Kräfte freigesetzt, die nicht nur das Individuum, sondern auch die Freiheit als Ganze beschädigen. Aber diese Freiheit gilt es ja zu retten – auch gegen die Tyrannei der Mehrheit wie John Stuart Mill in „On Liberty“ deklarierte. Der liberal Konservative weiß: Die Freiheit bleibt das Maß aller Dinge und sie gilt es gegen ihre Verächter zu schützen. Und so wird er immer gegen Intoleranz, politische Eindimensionalität und Konformismus rebellieren. Er ist in Wahrheit kein Reaktionär, sondern ein Revolutionär.
Das Gute, Wahre und Schöne
Konservative Manifeste sind derzeit en vogue, ob von der WerteUnion oder von Publizisten wie Wolfram Weimer aus dem konservativ-liberalen Lager. Ihnen allen gemein ist ein Gegenentwurf zum vorherrschenden Mainstream wie ihn deutsche Medien und die grüne Zeitgeistkultur zelebrieren. Gemein bleibt ihnen, dass sie allesamt weder den Geist des Antiliberalen, Reaktionären, des Ressentiments, des Nationalen samt seiner grauenhaften Maske aus Nationalismus und Antisemitismus wieder aufatmen lassen oder gar beschwören, sondern vielmehr im Gebot der Toleranz, sich „gegen linke und rechte Ideologien” manifestieren. Der liberal-konservative Geist hat die Aufklärung eingeatmet, bekennt sich freimütig zu Verfassungstreue, Rechtsstaatlichkeit, zum Laizismus und zu den bürgerlichen Werten, die den Geist einer aufgeklärten Vernunft in sich tragen. Der wirkliche Patriot bleibt der heimatlichen Scholle treu, er ist dennoch Supranationalist, er fühlt sich der Heimat verbunden, ohne sein Vaterland zu glorifizieren und ohne andere Nationen herabzusetzen.
„Keine Zukunft ohne Herkunft“ hatte bereits Odo Marquard zur Maxime erklärt. Und genau diese Maxime gehört zum Existenzkanon der Konservativen, der dabei immer wieder auf den alten Tugendkanon, auf die geistige Renaissance von antiker Philosophie, römischem Rechtsglauben und christlicher Wehr- und Werthaftigkeit, auf die vorpolitischen Grundlagen des säkularisierten Rechtsstaates also setzt. Und so befeuert er die Quellen der abendländischen Zivilisation, wie sie ihre Blüte in Jerusalem, Athen und Rom entfalteten, in der Gottesebenbildlichkeit und der unveräußerlichen Menschenwürde als dem A und O des Politischen und Ethischen. Aus dem Geist des Christentums erwachsen, ist der wahre Konservative dabei ein energischer Streiter gegen jedweden Utilitarismus, der den Menschen auf seine bloße Materialität verkürzt und ihm dadurch die Ressource Sinn als Existential abspricht.
Wir brauchen wieder mehr Sinn und Religion
Mit wachem Auge sehen viele liberale Konservative, dass in einer Welt globaler Raserei Entschleunigungskräfte freigesetzt werden, die es wieder erlauben, ja dazu zwingen, erneut nach dem Sinn von Sein zu fragen, nach der Eigentlichkeit, die dem Menschen so wesensmäßig ist, und die zu vergessen, ihn auf einen puren Materialismus reduzierten. Genau gegen diesen gilt es zu streiten, um eine neue Sinnfülle aufzurichten, die existentielle Kategorien wie Identität, Geborgenheit und neoreligiöse Sehnsucht wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Der Konservative weiß, wenn Gott tot ist, bleibt allein der „letzte Mensch“ Nietzsches übrig. Und wenn das Anti-Religiöse seinen Siegeszug forttreibt, erobert sich das Säkulare Himmel und Erde weiter. Und genau vor diesem Hintergrund plädiert er für eine Renaissance des Religiösen, die nicht nur Nietzsches „Gott-ist-tot-Ideologie entgegentritt. In Zeiten von Anything Goes und Säkularisierung kann eine kulturelle Erneuerung nur mit einer Renaissance des Religiösen Hand in Hand gehen. Damit wird die christliche Religion zur „Wirkungsgrundlage“ der freiheitlichen Demokratie. Sie ist das kritische Korrektiv, eine Gegenmacht zugleich, die Ideologien zu Fall bringt. Und darum gilt es aus ihren Wassern neue Kraft und neuen Sinn zu schöpfen.
„Konservatismus ist nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt“, schrieb einst Antoine de Rivarol. Der wahre Konservative will nicht zurück in die Steinzeit, in Voraufklärung und Absolutismus, nicht ins Zurückgewandte und Ewig-Gestrige, sondern steht für eine Reform der Gesellschaft aus dem Geist der abendländischen Wertekultur. Er ist kein Modernisierungsverächter und Maschinenstürmer, sondern kultiviert vielmehr auch Retardierungsmomente, die in einer Kultur des Bewahrens münden. Er pflegt die Bande seiner Herkunft, verteidigt die Identität seines Kulturkreises und Europas und bleibt dennoch offen, für das, was kommt. Er ist Bewahrer und Hüter des Seins, aber auch ein „bekennender Neugieriger des Fortschritts, dem nicht nur die Natur des Menschen, die Ökologie wie Benedikt XVI. betonte, schützenswert ist, sondern der die Bewahrung der Schöpfung als „urkonservative Aufgabe begreift, wie unlängst, ein anderer Bayer, der Ministerpräsident des Freistaats, Markus Söder betonte.