Anfang April, knapp drei Wochen vor Beginn der russischen Invasion, nahm die amerikanische Ausgabe der britischen Boulevardzeitung The Sun eine Story auf, die schon fünf Jahre vorher begonnen hatte. Olena Bilozerska, 42, eine freiwillige ukrainische Scharfschützin, hatte im August 2017, am Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit, aus einem der langen Schützengräben um den Donbass zwei russische Separatisten erschossen und einen dritten verwundet. Die Bilder aus ihrem Nachtsichtgerät gingen durch die sozialen Medien und machten Olena sofort zur Nationalheldin. In einem Interview 2022 mit dem Chef-Auslandskorrespondenten der Sun erklärte die Heldin, dass sie inzwischen mindestens zehn Russen getötet hätte und das absolut nicht bereue. Der Artikel enthält auch ein glamouröses Foto der blonden jungen Frau als Cinderella mit dem Untertitel „assassin-derella“, etwa als „Killerella“ zu übersetzen.
Weibliche Scharfschützen, von der Wehrmacht abschätzig Flintenweiber genannt aber gefürchtet, waren in der Sowjetarmee zahlreich und weitgehend gleichberechtigt. 2000 hatten sich gleich zu Beginn des deutschen Überfalls freiwillig gemeldet, insgesamt kämpften 800.000 Frauen in der Sowjetarmee. Die Weltkriegserinnerungen in der Ukraine und jetzt der Abwehrkampf gegen Russland tragen vermutlich dazu bei, dass Frauen in der kämpfenden Truppe und auch an vorderster Front als normal angesehen werden, sich entsprechend freiwillig melden und immer mehr in Kampfverbände integriert werden.
In den meisten westlichen Armeen steigt der Frauenanteil seit Jahren an, ihre Integrationsfähigkeit und besonders ihre Teilnahme an unmittelbaren Kampfeinsätzen bleiben allerdings ein kontroverses Thema, in der Truppe und in der Politik. In der deutschen Bundeswehr wurde die Wehrpflicht für Männer im Januar 2011 ausgesetzt, seitdem dienen im Durchschnitt der folgenden Jahre bis jetzt rund 175.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie etwas über 8.000 freiwillig Wehrdienstleistende. Diese knappe Personaldecke half offensichtlich mit, die Bundeswehr für Frauen zu öffnen. Ihr Anteil stieg von 0,2% im Jahre 1985 auf fast 13% 2021, in Zahlen knapp 24.000. Mehr als ein Drittel sind im Sanitätsdienst beschäftigt und ein weiteres Viertel in Verwaltungsaufgaben. In den potenziell kämpfenden Truppenteilen sieht der Frauenanteil wie folgt aus: Heer 17%, Luftwaffe 9%, Marine 6%, wobei auch hier viele Funktionen nicht unmittelbar mit Fronteinsätzen verbunden sind. Die technische Entwicklung der modernen Kriegsführung hat zudem viele neue Tätigkeitsfelder für Frauen eröffnet, Aufgaben, die eher töten lassen als unmittelbar zum Töten zwingen, etwa die Drohnensteuerung aus sicherer Entfernung vom tatsächlichen Einsatzort. Den Weg zur Kampf- und Waffenausbildung in der Bundeswehr öffnete 1999 eine junge Frau, deren Bewerbung als Waffenelektronikerin mit Verweis auf das Grundgesetz abgelehnt worden war. Auf ihre Klage rügte das der Europäischen Gerichtshof als Verstoß gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie der EU. Deutschland änderte daraufhin die entsprechende Bestimmung im Grundgesetz, Art. 12 a Abs 4, von „Sie (Frauen) dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“ zu „“ …Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“ Seitdem gibt es immer mehr Frauen in der Bundeswehr, auch Kampfpilotinnen (seit 2008), und viele weitere Dienstgrade mit direktem Kampfbezug. Die Einstellungsvoraussetzungen sind vor allem bei der körperlichen Fitness für viele Bewerberinnen extrem hart. Dazu findet sich im Internet eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen, in denen die Offiziersanwärterinnen bei Gepäckmärschen und Hindernisparcours in völliger Erschöpfung hinter den Männern zurückbleiben. Aber eine planbare Karriere mit vielen Weiterbildungskursen und die Studienmöglichkeiten an den Bundeswehr-Hochschulen mit Bachelor oder Magisterabschluss sind für viele attraktiv. Für die Frauen hat das Thema Kameradschaftlichkeit allerdings zu oft einen ganz anderen Stellenwert, wenn sie nämlich in Zudringlichkeit und sexuelle Übergriffe ausartet. Nach vorher steigenden Meldezahlen ist dies durch die Covid-Jahre und weniger Alkohol zurückgegangen und scheint weniger verbreitet zu sein als in der amerikanischen Armee. Besonders bei den gefährlichen Einsätzen im Irak und in Afghanistan stiegen dort die Zahlen so an, dass die Kongressabgeordnete Jane Harman sagte, dass eine Soldatin im Irak eher in Gefahr sei, von einem Kameraden vergewaltigt, als von Feindfeuer getötet zu werden. Nach einer Studie der Brown University von 2021 sind bei einer sehr hohen Dunkelziffer mindestens 23% der Soldatinnen betroffen. Parallel dazu hat sich ein eigenes Symptom und Forschungsgebiet entwickelt, genannt „Military Sexual Trauma“, oder MTS, das auch bei 71% der Soldatinnen mit posttraumatischen Belastungsstörungen als ursächlich diagnostiziert wird. Das ist ein hoher Preis für das Ziel Gleichberechtigung im Militärdienst und in allen Waffengattungen. Die USA sind neben Israel bei der vollen Integration von Frauen in Kampfverbände vermutlich am weitesten fortgeschritten. Die Öffnung wurde im Januar 2013 von Verteidigungsminister Leon Panetta verkündet und erschloss Zehntausende von Positionen in der kämpfenden Truppe, viele davon unmittelbar an der Front und mit gefährlichem Feindkontakt. Wie die Bundeswehr nach der Aussetzung des Wehrdienstes haben auch die amerikanischen Streitkräfte langfristig Probleme, die benötigte Anzahl von Freiwilligen anzuwerben, zumal ihr Bedarf durch die Anzahl der Kriegsbeteiligungen sehr viel höher ist als der deutsche. Deshalb wurden in den letzten Jahren auch zunehmend die Dienste von Private Military Companies (PMCs) in Anspruch genommen. Diese Söldnertruppen werden weit besser bezahlt als die reguläre Armee, aus der sie sich zum großen Teil auch rekrutieren, aber in Krisensituationen sitzt im Pentagon das Geld auch ziemlich locker. Für die lukrativen Positionen in einer PMC, für lebensgefährliche Einsätze werden bis zu 1000 $ pro Tag gezahlt, muss man fit und kampferprobt sein. Diese speziellen Qualifikationen müssen sich die Frauen erst einmal in der Armee erarbeiten, seit 2013 sind sie dabei. Die von Panetta und Präsident Obama eingeführte Reform wurde natürlich kontrovers diskutiert, schließlich ging es um eine grundsätzliche Neudefinition der Rolle von Frauen und die Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern in extrem schwierigen Umständen in Kampfsituationen. Gewarnt wurde vor allem gegen eine Zulassung zu den Waffengattungen mit hoher Nahkampf-Wahrscheinlichkeit, also auch Frau gegen Mann. Auf der Seite der Befürworter entstanden ausgiebige wissenschaftliche Studien zur Sportbiomechanik und Ergonomik von Frauen, die Verletzungen verhindern und dabei Gleichberechtigung und physische Leistungssteigerung fördern sollten. Es ging um Muskelmasse und Fettanteile und führte am Ende zu differenzierten Eignungstests und truppenspezifischen Ausbildungsgängen. Mit intensivem Krafttraining können Frauen mit vielen Männern mithalten und sich damit so gut wie alle Armeekarrieren erschließen. Noch wichtiger als Kraft, so eine berühmte Studie aus dem Jahr 2014, die von der Webseite „femuscleblog“ immer noch zitiert wird, sei allerdings die physische Aggressivität entscheidend, die bei Frauen besonders intensiv gefördert werden muss. Viele, auch offiziell von der US-Armee herausgegebene Videos, die im Internet zu finden sind, zeigen die Methoden der Ausbilder beim „Schleifen“ der „Soldat:innen“ bis hin zu physischen und psychischen Grenzerfahrungen. Wegen immer wieder auftauchender Probleme wurden der „Army Combat Fitness Test (ACFT)“ und andere Spezialprüfungen immer wieder angeglichen. Auf der anderen Seite finden sich, ebenfalls im Internet, Tausende von Glamour-Fotos, die das Leben der Soldatinnen als sexy darstellen, oft mit Uniform und Bikini nebeneinander. Das mag mit dem feministischen Ansatz kollidieren, dass der alte Mythos von der physischen Inferiorität überwunden werden muss. Der militärische Foto-Spezialmarkt bedient sowohl männliche Fantasien wie weibliche Eitelkeiten und zeigt, dass die Gleichberechtigung in der Truppe erotische Spannungen, ob ein- oder beidseitig, eher erhöht als ausgleicht.
Die USA sind allein von den Zahlen her weit führend, aber Israel und Australien folgen in der militärischen Gleichberechtigung dicht auf. Großbritannien hat alle Ausnahmeregeln 2016 abgeschafft, mit der Begründung von Premierminister Cameron, dass das Land eine Weltklasse-Armee brauche mit allen Talenten und Fähigkeiten, die zur Verfügung stehen. Und Norwegen, das erste europäische Land mit allgemeiner Wehrpflicht auch für Frauen, geht in einer Studie seines Thinktanks „ Norwegian Defence Research Establishment (FFI)“ noch einen Schritt weiter. Demnach durchstehen Frauen extremen Stress besser als Männer und erholen sich nach Dauerbelastung auch schneller. Die norwegische Armee hat in Friedenszeiten 16.000 Soldaten, davon 17% Frauen. Seit 2014 gibt es zusätzlich eine rein weibliche Spezialtruppe, „Jegertroppen“ oder Jägertruppe, die vor allem für Aufklärung in städtischem Umfeld zuständig ist. Der Krieg in Afghanistan hatte gezeigt, dass Männer ungeeignet waren, die notwendigen Kontakte mit lokalen Frauen zu halten, was für die Partisanenbekämpfung notwendig ist.
Wie der Ukrainekrieg zeigt, sind alle Debatten über die Rolle von Frauen in Kriegssituationen sofort überholt, dann zählt jeder Mensch, der zu kämpfen bereit ist, unabhängig vom Geschlecht. Ob das die Frage der Gleichberechtigung unwiderruflich lösen wird darf man bezweifeln. Das Thema ist zu vielschichtig, als dass es ganz vom Tisch verschwinden kann. Aber die Teilnahme von Frauen an militärischen Einsätzen jeglicher Art wird überall und zunehmend zur Selbstverständlichkeit. Wenigstens in den vielen Interviews mit jungen Frauen in der Ausbildung, die im Internet kursieren, wird die Frage nach Todesangst oder Angst vor schweren Verwundungen von den Befragten heruntergespielt. Ja, das habe man im Hinterkopf, aber erst einmal sehr weit hinten. Immerhin sind diese Frauen realistisch genug und würden sich vermutlich nicht mehr den altrömischen Spruch zu eigen machen, dass es süß und ehrenvoll sei, für sein Vaterland zu sterben. Er hing an einer Marmortafel in der Aula meines Gymnasiums und hat mich damals erheblich irritiert.