Frau Guérot: Ich bitte um mehr Genauigkeit im Denken und Reden

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Sehr geehrte Frau Guérot, Sie schreiben: „In der Corona-Krise will man um jeden Preis Leben retten und opfert dafür die Freiheit. Im Ukraine-Krieg will man um jeden Preis die Freiheit retten und opfert dafür Leben. In beiden Krisen gilt als moralisches Verhalten, Andersmeinenden die Moral abzusprechen.“ Das scheint mir sehr unsauber gedacht, denn …

Eingriffe in die Freiheitsrechte der eigenen Bürger sind legitim, wenn entsprechende gesetzliche und faktische Voraussetzungen gegeben sind

Leben retten - Freiheit

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In der Corona-Krise ging es darum, dass innerhalb einer Gesellschaft Leben von vulnerablen Gruppen geschützt wird durch zeitlich befristete verhältnismäßige Eingriffe in die Freiheitsrechte aller. Man kann darüber streiten, bis zu welchem Punkt diese Eingriffe in die Freiheit sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig waren und sind, aber grundsätzlich sind solche Eingriffe in einer freien, menschenrechtsbasierten Gesellschaft natürlich möglich und moralisch wie rechtlich legitim, sofern die Maßnahmen M zur Zielerreichung Z

  • geeignet sind: M kann Z tatsächlich herbeiführen,
  • notwendig sind: Z kann nicht durch andere, mildere M2 erreicht werden, die weniger in Freiheitsrechte eingreifen, und
  • verhältnismäßig sind: M und Z stehen in keinem inadäquaten Verhältnis, nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.

Alle Maßnahmen können natürlich daraufhin geprüft und diskutiert werden, ob diese drei Bedingungen immer gegeben waren respektive sind. Aber Freiheitseingriffe können unter diesen Prämissen natürlich möglich und gerechtfertigt sein.

Russlands Aggression stellt ein Verbrechen gegen den Weltfrieden dar, so dass die Ukraine ein Selbstverteidigungsrecht hat und von anderen unterstützt werden darf

Im Ukraine-Krieg, oder wir sollten vielleicht besser von Russlands Krieg gegen die Ukraine sprechen, wird nicht „Leben geopfert“ – es sei denn, Sie beziehen sich auf Putin und Russland -, sondern ein Volk wurde von einem Nachbarstaat völkerrechtswidrig angegriffen, was ein Verbrechen gegen den Weltfrieden darstellt. Siehe dazu auch die Resolution 3314 „Definition der Aggression“ der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) vom 14.12.1974, deren Art. 1 und Art. 3 wörtlich in das Römische Statut übernommen wurden, wonach die Aggression im Sinne der UN-Resolution in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fällt.

Damit haben wir sowohl völkerrechtlich wie moralisch eine klare Ausgangssituation: Russland begeht alleine schon durch seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ein Verbrechen (gegen den Weltfrieden) und die Ukraine hat sowohl moralisch wie auch völkerrechtlich ein Recht auf Selbstverteidigung, vergleichbar dem Notwehrrecht im zivilen Bereich nach § 32 StGB.

Alle anderen Staaten der Erde haben zudem das Recht auf Nothilfe, wenn die Ukraine um Hilfe bittet. Jedes Land könnte sogar Soldaten entsenden, die in der Ukraine helfen, die russischen Invasoren zu bekämpfen, zu töten oder zurückzuschlagen. Das ist durch das Völkerrecht gedeckt und ist auch moralisch gedeckt. Das tut aber bisher meines Wissens kein Land. Man könnte diskutieren, ob das moralisch nicht angezeigt wäre, aber de facto macht das bisher niemand.

Die Einzigen, die „Leben opfern“ sind Putin und die russische Führung, die Ukraine verteidigt sich nur selbst

Das Einzige was viele Länder tun – und das leider in viel zu geringem Ausmaß und Umfang – ist, die Ukraine durch humanitäre Hilfe, Lieferungen von Hilfsmitteln, durch Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und durch Waffenlieferungen zu unterstützen, damit die Ukrainer ihr Selbstverteidigungsrecht zumindest ein wenig mehr wahrnehmen können. Der Ausdruck „und opfert dafür Leben“ passt hier bezogen auf die freie Welt nicht. Er passt natürlich für Russland und Putin, der in der Tat Tausende und Abertausende für die imperialistischen Ziele Russlands opfert. Wenn Sie das monieren, bin ich freilich ganz bei Ihnen.

Die Ukrainer aber entscheiden sich mit großer Mehrheit dafür, ihr Land gegen einen durch und durch bösartigen Aggressor zu verteidigen. Dafür braucht es sehr viel Mut. Insofern haben wir es hier mit klassischem Heldentum zu tun. Die Ukrainer nicht zu unterstützen, obschon man dazu in der Lage ist, wäre a) moralisch in höchstem Grade fragwürdig respektive verwerflich und b) politisch-strategisch eine große Dummheit, weil damit allen Aggressoren dieser Erde das Signal gesendet würde: Wir mischen uns nicht ein, wenn ihr nur stark genug seid, andere Länder völkerrechtswidrig überfallt und allen anderen zur Abschreckung nur massiv genug droht. Wozu brauchten wir dann noch Völkerrecht und die UN? Was würde das für die internationale Friedens- und Sicherheitsordnung aller mittleren und kleineren Länder dieser Erde bedeuten? Welche Rüstungsspiralen würde das zur Folge haben, wenn jeder permanent Angst haben müsste, von anderen überfallen und als eigenständiger, souveräner Staat ausgelöscht zu werden und er weiß, dass andere dann meist kaum helfen?

In Bezug auf die Ukraine wird ganz anders als im Falle Russlands nicht von einer Macht angeordnet, dass „Leben geopfert“ wird, sondern ein angegriffenes Volk hat sich dafür entschieden, sich gegen einen verbrecherischen Angriff, der auf seine Vernichtung abzielt, zu wehren. Das ist kategorial etwas vollkommen anderes und mit derart groben Beschreibungen nicht ansatzweise korrekt erfasst und wiedergegeben. Ich bitte Sie um mehr Genauigkeit im Denken und Reden (intellektuelle Redlichkeit).

Nicht jede andere Meinung ist moralisch verwerflich, nur weil sie anders ist, aber es gibt durchaus moralisch verwerfliche Meinungen

Sie schreiben, „In beiden Krisen gilt als moralisches Verhalten, Andersmeinenden die Moral abzusprechen.“Es kommt natürlich darauf an, was der Andersmeinende anders meint. Jede andere Auffassung pauschal abzuwerten, nur weil sie von meiner Auffassung abweicht, wäre natürlich seinerseits moralisch fragwürdig. Aber wir müssen auch da schon konkreter und genauer werden.

Natürlich gibt es Auffassungen, die moralisch als verwerflich einzustufen sind, so zum Beispiel die Auffassung der russischen Staatsführung, insbesondere von Putin, ihnen stünde es zu, einen souveränen, schwächeren Staat anzugreifen, die nationale Identität dieses Volkes zu zerstören, dabei zusätzlich zu dem Verbrechen gegen den Weltfrieden noch jede Menge Kriegsverbrechen zu begehen und sich das Land in einem derartigen Gewaltakt ins eigene Herrschaftsgebiet direkt oder mittelbar einzuverleiben.

Ebenso ist es natürlich moralisch verwerflich, das irgendwie direkt oder indirekt zu unterstützen, indem man zum Beispiel auf anderes abzulenken oder diese Verbrechen herunter zu spielen versucht oder indem man andere dazu aufruft, dem Angegriffenen nicht zu helfen.

Quelle Jürgen Fritz

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